Unterkomplexes Denken in der Politik

Populismus Über die Hintergründe und Gefahren unterkomplexen Denkens in der Politik.

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Unterkomplexes Denken in der Politik.

Komplexe politische Prozesse verlangen nach komplexem Denken und Handeln. Unterkomplexe Äußerungen und Handlungsweisen führender Politiker_innen sind äußerst problematisch und verhindern einen ganzheitlichen Blick auf das aktuelle politische Geschehen und die dahinter stehenden Interessen.
Zwei Beispiele

Ein erstes Beispiel: Christian Lindner und Friedrich Merz verlangen die Verlängerung der Laufzeiten der noch drei aktiven Atomkraftwerke, um der strategischen Verknappung der Gaslieferungen von russischer Seite begegnen zu können. [1] Gern wird dies von den einschlägigen Medien aufgegriffen und die dringende Notwendigkeit der Laufzeitverlängerung der drei übrig gebliebenen deutschen AKWs gefordert. Wenn Lindner und Merz dies fordern, so zeigen sie ein hohes Maß an unterkomplexem und nicht-ganzheitlichem politischen Denken, so wird hier argumentiert und begründet werden. Sind sie zu einem komplexeren Denken nicht in der Lage oder hat die Weigerung zu einer ganzheitlicheren Betrachtung der Thematik andere Gründe?
Ein zweites Beispiel: Der deutsche Kolonialismus war ein rassistisch legitimierter Raubzug und ein Unterdrückungssystem im Interesse der damals in Deutschland herrschenden Klasse. Im Zuge kolonialer Ausbeutung wurden zahlreiche Kunstwerke aus den afrikanischen Kolonien Deutschlands gestohlen. Über die Rückgabe dieser geraubten Kunstwerke an die afrikanischen Ursprungsländer besteht derzeit ein politischer Dissens. Während sich beispielsweise Politiker_innen der Grünen, der Partei 'Die Linke' oder der SPD für eine Rückgabe von afrikanischen Kunstwerken aus deutschen Museen aussprechen, nimmt die AfD hierzu einen gegenläufigen Standpunkt ein – so z.B. 2018 der bildungspolitische Sprecher der baden-württembergischen AfD-Fraktion im Landtag, Rainer Balzer, in einer Presseerklärung:
„Anstatt Landeseigentum zu verschenken, ist es Aufgabe der Landesregierung, das Eigentum des Landes zu schützen und gegebenenfalls zu vermehren“ und „Dass alleine die bisherige Namibia-Initiative 1,25 Millionen Euro gekostet hat, zeigt, dass die Regierung den Bezug zum Geld verloren hat - zumal die Landesregierung die ganze Aktion nur als einen ersten Schritt ansieht. Das Steuervolk darf sich also bereits jetzt auf wesentlich höhere Kosten freuen (…)“ [2]
Verweisen diese Aussagen des AfD-Politikers nun auf unterkomplexes und nicht-nachhaltiges Denken? Denkt Balzer nicht komplex genug oder will er dies aus bestimmten Gründen nicht?
Beide Beispiele sollen im letzten Drittel des Beitrags noch einmal ausführlicher aufgegriffen und eingeordnet werden.

Der ganzheitliche Ansatz

Der hier folgenden Argumentation liegt ein holistisches bzw. ganzheitliches Verständnis zugrunde. [3] Dieser Ansatz ist vor allem durch acht systemtheoretische Annahmen begründet, deren Anforderungen an komplexes Denken nicht ausgeblendet werden dürfen:
1. Alles steht in einer Verbindung zueinander: Die Teile untereinander und die Teile wiederum zum Ganzen. Weit entfernte Ereignisse können daher in der Nähe eine große Wirkung zeigen.
2. Politische Aktivität kann in dieser Ordnung eine Wirkung entfalten, die zu einer Veränderung der Teilbeziehungen untereinander und damit zu einem Einfluss auf das gesellschaftliche Ganze führt.
3. Systemstrukturen geben dem Ganzen Festigkeit gegenüber der Eigendynamik der Teile. Allerdings wirken in bestehenden Strukturen Personen und Gruppen, die wiederum strukturbildende Regeln verändern können.
4. Es gibt verschiedene Systemebenen. Die Organisationsmuster auf den verschiedenen Systemebenen sind weniger hierarchisch, sondern in der Regel weisen Systeme multivariate Organisationsmuster auf. Informationen und Einflüsse verlaufen in alle Richtungen, abwärts, aufwärts auf der horizontalen Ebene.
5. Im Unterschied zu einer einfachen Maschine funktionieren Ganzheiten im Sinne lebendiger Systeme nicht in einem linear-kausalen Sinne, sondern Veränderungen ergeben sich durch zyklische Informationsmuster mit vielfältigen Rückkoppelungsschleifen.
6. Lebende Systeme sind durch die Prinzipien der Selbstorganisation und der Selbsterneuerung (Autopoiesis) gekennzeichnet. Dies bedeutet, dass ein funktionsfähiges System in der Lage ist, relativ selbstständig seine Ordnung zu definieren, zu verändern und lernend neu zu organisieren.
7. Eine Neuordnung des Ganzen entsteht, wenn die verschiedenen teilhaften Aktivitäten vieler Einzelner und einzelner Gruppen intensiv genug und systemisch passend zur beginnenden strukturellen Veränderung zusammenarbeiten.
8. Wenn Teilbereiche systemisch stimmig zusammenwirken, entwickeln sie eine systemverändernde Dynamik. Dann kann es – auch in einem disruptiven Sinne – zu qualitativen Veränderungen mit hoher Geschwindigkeit, also zu gesellschaftlichen Kipppunkten hin zu einer globalen Neuordnung, kommen.
Oftmals voneinander getrennte Bereiche, wie Körper, Geist, Psyche und Gesellschaft, wie Umwelt, Wirtschaft und Gesundheit oder Identität, Religion und Krieg werden im Rahmen eines ganzheitlichen bzw. holistischen Denkens als miteinander zusammenhängende und sich wechselweise beeinflussende Bereiche verstanden.
Wenn Teile des Ganzen verschwiegen werden, wird auch ihr Einfluss im systemischen Ganzen ausgeblendet. Wenn der Einfluss eines systemischen Ganzen, wie z.B. eine Gesellschaftsordnung mit ihren Strukturen, auf politische Entscheidungen und Handlungsweisen ausgeblendet wird, kann keine ganzheitliche Analyse und Beurteilung vornehmen. Eine derartige nicht-ganzheitliche Sichtweise soll als unterkomplex angesehen werden. Das Ganze ist auch hier mehr als die Summe seiner Teile und hat darüber hinaus gehende, komplexe Eigenschaften und Funktionsweisen. Eine systemische Ganzheit und ihre Funktionsweisen können nur verstanden werden, wenn ein Denken in Zusammenhängen erfolgt, also wie die Teile miteinander zusammenhängen und die Qualität des Ganzen in ihrer systemischen Interaktion entstehen lassen. Genauso ist das Ganze in den Gestalteigenschaften seiner Teile wiederzuentdecken.
Mit diesen skizzenhaften Vorbemerkungen dürfte auch zumindest in Ansätzen deutlich sein, wie der Terminus ‚Ganzheitlichkeit‘ hier verwendet wird. Ganzheitlichkeit wird zu einer Kategorie, die ein Erkennen und kritisches Hinterfragen von Strukturen ermöglicht, das durch unterkomplexes Denken und Handeln behindert werden würde. [4]

Unterkomplexes Denken in der Politik ist gefährlich.

Teilbereiche wirken systemisch zusammen, sind nicht getrennt voneinander zu betrachten und können eine dynamische und weltumspannende Wirkung zeigen. So zeigt uns die Verbreitung des Coronavirus sowie der gesellschaftliche Umgang hiermit, wie ein Virus zu Ansteckungsängsten in den Menschen, zu einem veränderten zwischenmenschlichen Verhalten, zur Einschränkung der Grundrechte, zu wirtschaftlichen Krisen, wie dem Umsatzeinbruch von Unternehmen und Massenentlassungen, zu Betrugs- und Bereicherungsversuchen sowie politischen Krisen im Parteienstreit über den richtigen Umgang mit der Krise führen kann. Genauso kann die Corona-Krise zeigen, dass ein neoliberales Wirtschaftsregime, im Zuge dessen die Privatisierung und Kommerzialisierung des Gesundheitswesens vorgenommen wird, nicht geeignet ist, eine Pandemie erfolgreich zu bekämpfen. Der schreckliche Preis ist eine hohe Zahl an Schwererkrankten und Toten. Nicht zu verstehen, wie alles zusammenhängt, kann höchst gefährlich sein.
Auch die Wirkungen alltäglichen Verhaltens, also auf der Mikroebene, zu unterschätzen, kann äußerst gefährlich sein. Zu unterschätzen, was das alltägliche mediale Betrachten von Morden und zwischenmenschlicher Quälerei und das virtuelle Mitwirken in diesem Geschehen ('virtual reality') im jungen Menschen anrichten kann, bedeutet die psychische Anfälligkeit mancher Menschen zu übersehen. Amokläufe Jugendlicher in Schulen, aber auch die durch den Medienkonsum verstärkte Bereitschaft, im Krieg zu töten, sind Ausdruck dieser Ignoranz – als wenn das Handeln in einem Teilbereich nicht einen Einfluss auf das Handeln in anderen Teilbereichen haben würde.
Der Zusammenhang wird ebenfalls deutlich, wenn wir uns die Verbrennung von Braun- oder Steinkohle zur Beheizung aber auch zur industriellen Energieproduktion in ihrer Verbindung zur Freisetzung weiterer Klimagase betrachten. Die u.a. durch die CO2-Emissionen entstehende Klimaerwärmung führt zu vielfältigen systemischen und sich wechselseitig verstärkenden Auswirkungen von der Veränderung der Meeresströmungen, über die Entstehung von Wüsten, dem vermehrten Auftreten heftiger Stürme, der Veränderung der Luftströme, wie z.B. des Jetstreams, dem Abschmelzen der Gletscher, dem Anstieg des Meeresspiegels, Wälder vernichtende Feuerwalzen, bis hin zum Auftauen des Permafrostbodens und der entsprechenden Freisetzung wiederum Klima relevanten Methans. Das System der ökologischen Ganzheit wird hierdurch angegriffen und dekonstruiert. Die klimatischen und ökologischen Verschiebungen und Verwerfungen wiederum führen zu Hungerkatastrophen, zu Massenfluchten und Völkerwanderungen, die nicht bereitwillig von den Einheimischen hingenommen werden und zu gewalttätigen Auseinandersetzungen sowie zur Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse in einer Region führen. Eine ganzheitliche Sichtweise ist daher in der Lage, den Zusammenhang zwischen CO2-Emissionen und Fremdenfeindlichkeit zu erklären. Die Leugnung des Klimawandels wiederum blendet die meisten Bezüge zu teilhaften Vorgängen und deren systemischer Vernetzung sowie die Gestalteigenschaften des Ganzen, des ökologischen Systems, aus.

Zurück zu Lindner, Merz und Balzer

Zum eingangs erwähnten Beispiel hinsichtlich der von Lindner und Merz geforderten Laufzeitverlängerung der drei AKWs ist zu sagen: Selbst manche Energieversorger und zahlreiche Forschungsinstitutionen, wie z.B. 'Energy Brainpool', raten von einer Verlängerung bzw. einer Wiederaktivierung der Kernkraft als Energielieferant ab. Das technische Personal sei nicht mehr vorhanden, Brennelemente für den Weiterbetrieb würden fehlen, auch widerspräche dies der aktuellen gesetzlichen Lage. Die Verlängerung der Laufzeiten der drei noch aktiven AKWs umfasse nur 6% der deutschen Stromversorgung und sei daher zur Lösung des kommenden Energieproblems relativ irrelevant. Die Laufzeitverlängerung sei mit hohen Kosten verbunden und ersetze in Wirklichkeit nur 1% des notwendigen Bedarfs an Gas. [5]
Auch die restlichen drei Atomkraftwerke stellen noch eine gefährliche Energieversorgung dar. Die nuklearen Katastrophen in Tschernobyl, bei Harrisburg und in Fukushima dokumentieren dies. Gerade in unfriedlichen Zeiten sind AKWs gefährdet, zum Ziel terroristischer Anschläge von Kriegsparteien oder extremistischer Terrorgruppen zu werden. Bis heute existiert für die nukleare Energieversorgung kein realistisches Konzept der Entsorgung des radioaktiven Abfalls. Dieser wird Hunderten von Generationen zur kostenintensiven und gefährlichen Bewachung hinterlassen. Auch beziehen westliche Staaten das radioaktive Material zum Teil aus Russland, was wiederum kontraproduktiv zu den europäischen Sanktionen gegenüber Russland sein dürfte.
Dies bedeutet, dass hier im öffentlichen Diskurs eine bewusste Ausschaltung komplexen Denkens vorgenommen wird, um eine populistische Strategie zu verfolgen, denn Lindner und Merz sind sicherlich die verschwiegenen Teilaspekte und ihre Beziehung zueinander weitgehend hinsichtlich der Frage des Weiterbetriebs der AKWs bekannt.
Die Berücksichtigung einer ganzheitlichen Sichtweise würden die verschiedenen hier vorgetragenen Teilaspekte zu einem Gesamturteil führen, das eigentlich nur in der Verantwortung für das Ganze zu einer Ablehnung der Renaissance der Kernkraft als Energielieferant führen könnte. Doch da Merz und Lindner sowie ähnlich motivierte weitere Politiker hier ein populistisch verwertbares und symbolträchtiges Thema entdeckt haben, mit dem es sich auf parteipolitischen Abgrenzungskurs und Stimmenfang gehen lässt, blenden sie wichtige Aspekte des Themas schlichtweg aus.
Auch dem AfD-Politiker Balzer dürfte bewusst sein, dass der Kolonialismus ein imperialistisches Unrechtssystem war, dessen Ausdruck die Ermordung, Inhaftierung und Unterdrückung ganzer Bevölkerungsgruppen war. Auch dürfte er wissen, dass die meisten der in deutschen Museen stehenden afrikanischen Kunstwerke aus Afrika im Zuge kolonialer Beutezüge aus Afrika geraubt wurden. Anstelle beispielsweise der Anerkennung des Genozids an den Herero und Nama, die Zahlung umfassender finanzieller Entschädigung der natürlich hiermit nicht wieder zu heilenden Kolonialverbrechen und im Zuge dessen auch der Rückgabe der aus Namibia geraubten Beutekunst zu unterstützen, wird von der AfD hinsichtlich der deutschen Raubkunst vom deutschen kolonialen Erbe gesprochen, das es zu beschützen gelte. Auch wird gleichzeitig den betroffenen Staaten die Fähigkeit abgesprochen, derartige Kunstschätze angemessen und sicher zu bewahren. Die ehemaligen deutschen Kolonien sollten sich eher bei den Deutschen bedanken, welche die afrikanische Kunst so fachgerecht aufbewahrt und zur Schau gestellt hätten. [6]
Man kann die verbrecherische und völkerrechtswidrige Struktur des Kolonialismus anhand vieler Quellen, z.B. dokumentiert im Internet frei einsehbar, nachlesen, wenn man einen komplexen Zugang zur Frage des Kolonialismus und der Raubkunst wählen wollte. Die AfD-Position aber offenbart einen unterkomplexen und einseitigen Zugang zu dieser Thematik. Die menschenrechts- und völkerrechtswidrige Problematik wird schlichtweg ausgeblendet. Der Grund hierfür dürfte im nationalchauvinistischen Interesse dieser Partei verbunden mit rassistisch motivierten Sichtweisen liegen, die einen komplexeren bzw. ganzheitlicheren Zugang zu postkolonialen Strukturen verhindern. Der Rechtspopulismus der AfD basiert auf Vereinfachung, Einseitigkeit und Unterkomplexität. Daher können aus Afrika stammende, von Indigenen gefertigte Kunstschätze, die in deutschen Museen gesammelt werden, auch nicht in eine Verbindung mit postkolonialen Strukturen gebracht werden, sondern werden als Ausdruck kolonialen deutschen Erbes betrachtet, das es für deutsche Museen zu erhalten gelte.

Ganzheitlichkeit und Interessendurchsetzung

Der Hinweis auf den Populismus von Politikern_innen, verweist auf den Aspekt des Erkenntnis leitenden Interesses. So weiß beispielsweise Putin sicherlich, dass die ukrainische Regierung nicht aus drogenabhängigen Neonazis [7] besteht. Dennoch behauptete er dies, die Wirklichkeit verzerrend, um ukrainische Politiker_innen abzuwerten, ein Feindbild zu konstruieren, sie aus dem Kreis akzeptierter Humanität auszuschließen, um sie anschließend anzugreifen und militärisch vernichten zu können. Ebenfalls dürfte Bolsonaro wissen, dass der Amazonas eine wichtige planetare ökologische Funktion hat. Er bestreitet dies aber und lässt die Zerstörung des Regenwaldes aus politischen und ökonomischen Interessen heraus zu. [8]
Auch weiß die EU-Kommission sicherlich, dass Gas und Kernenergie keine nachhaltigen Energiequellen sind, obwohl sie mit ihrer dem EU-Parlament zur Abstimmung vorgelegten Taxonomie dies einfordert. [9] Ganzheitliches Denken, das zu einer Ablehnung dieser Energiequellen im Sinne von Nachhaltigkeit führen würde, wird hier zugunsten der Interessendurchsetzung einzelner EU-Staaten abgeschaltet. Ganzheitliches Denken würde einen Gegensatz zwischen fossiler und nuklearer Energieerzeugung und der Bekämpfung der Klimakrise im Sinne von Nachhaltigkeit erkennen. Nachhaltigkeit ist an dem Erhalt des funktionierenden ökologischen Ganzen als Existenzbedingung seiner Teile, Tiere, Menschen, Organismen und Pflanzen, interessiert.
Derartige Beispiele unterkomplexen Denkens und Handelns in der Politik aufgrund ökonomischer und politischer Interessen ließen sich vielfach fortsetzen.
Es ist daher gerade angesichts dieser zu beobachtenden Versuche, ganzheitliches Denken und Handeln durch unterkomplexe Vorgehensweisen zu ersetzen, besonders wichtig, über Bildungsprozesse insbesondere im politisch-historischen Bereich, in politikwissenschaftlicher Analyse und Beurteilung und im alltäglichen politischen Denken und Handeln einen ethisch vertretbaren politischen Einfluss in einem systemischen Ganzen auszuüben. Hierzu ist es in Diskussionen zukünftig wichtig, unterkomplexes Denken als solches kenntlich zu machen und die systemischen Zusammenhänge zu konkretisieren. Hierbei ist das ‚Interesse‘ eine zentrale Kategorie, das hinter den Argumenten eines Akteurs in ökonomischer, politischer oder ökologischer Hinsicht hervor scheint bzw. sich durch eine kritische Analyse erkennen lässt.

Ansätze komplexen Denkens hinsichtlich des Kriegs in der Ukraine

Besonders in der jetzigen Situation, bei der ein ursprünglich regionaler militärischer Konflikt dabei ist, sich in einen Weltkrieg mit ungeheuren Auswirkungen zu verwandeln, ist es wichtig, unterkomplexes Denken zu vermeiden. Die verantwortlichen Politiker_innen sollten sich in einem ganzheitlichen Sinne folgende Fragen stellen und für sich beantworten: Was sind die historischen Ursachen des Kriegs in der Ukraine und welche Rolle spielen u.a. hierbei neoimperialistische Interessen Russlands, Aktivitäten national-chauvinistischer Milizen der Ukraine sowie NATO-Strategien im Umgang mit der Ukraine? Wie haben sich aus der historischen Perspektive heraus die verschiedenen Teilaspekte wechselseitig beeinflusst? Welche systemischen Wirkungen in politischer, ökonomischer, sozialer und ökologischer Hinsicht und welche existenzielle Wirkung für den Einzelnen wird die Eskalation des Kriegs in der Ukraine auf die Ukraine, aber auch für den Rest der Welt haben? Welchen Einfluss hat dementsprechend der Krieg z.B. in der Ukraine auf die Welternährungslage und auf die internationale Energiepolitik? Welche Maßnahmen, wie z.B. die weitere Lieferung schwerer Waffensysteme oder die etwaige Sperrung des ukrainischen Luftraums, werden welche Wirkungen für die Eskalation des Konfliktes haben? Mit welchen Mitteln können die russische Föderation und die ukrainische Regierung dazu bewegt werden, sich für ernsthafte Friedensverhandlungen zu öffnen, d.h. auch Kompromisse einzugehen und die Interessen der Gegenseite angemessen zu berücksichtigen? Wie werden sich verschiedene andere Akteure, wie z.B. China oder die Vereinten Nationen, zu einer weiteren Eskalation des Krieges verhalten? Welches ist der zentrale friedenspolitische Beitrag eines Staates, wie z.B. der Bundesrepublik Deutschland, eine zukünftige Deeskalation des Kriegs zu bewirken und eine weitere Zerstörung des internationalen Systems zu verhindern? Welches sind die Hindernisse und was sind die förderlichen Bedingungen für eine neue Friedensordnung, die den systemischen Gleichgewichtszustand homöostatisch wiederherstellen könnten? Wie kann eine sinnvolle Friedensordnung mit Hilfe welcher Schritte erreicht und hinterher wirkungsvoll kontrolliert werden? Was kann der planetaren Zivilisation passieren, wenn keine Deeskalation des Konflikts gelingt? Droht die weitgehende Zerstörung des Systems menschlichen Zusammenlebens mit destruktiven Wechselwirkungen zur Ökologie, Ökonomie, Politik und Kultur?
Dies alles sind aus aktuellem Anlass Fragestellungen, die das Verhältnis des Teils zum Ganzen, die Beziehungen der Teile untereinander in ihrem Einfluss auf das Ganze und die Frage nach der Gestaltung des Ganzen betreffen. Sich diese Fragen nicht gründlich und unterkomplex zu stellen und zu beantworten, ist für den einzelnen Menschen, für Gesellschaften, transnationale Institutionen sowie für das gesellschaftliche Ganze im planetaren Kontext äußerst gefährlich. Politiker_innen, die unterkomplexes Denken an die Menschheit populistisch und interessensgeleitet adressieren, tragen zur Zerstörung einer ganzheitlichen Sichtweise auf die Welt, dem systemischen Ganzen, bei und behindern damit die Entwicklung einer vernetzten und nachhaltig gestalteten Welt in Übereinstimmung mit systemischen Prinzipien und Gestaltqualitäten. [10]



Anmerkungen:

[1] Vgl. https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/debatte-akw-laufzeitverlaengerung-101.html, 21.6.2021
[2] AfD-Fraktion BW: "Es ist Aufgabe der Landesregierung, das Eigentum des Landes zu schützen und zu vermehren, nicht zu verschenken". In: https://www.presseportal.de/pm/127902/4114770, 13.11.2028, 30.7.2022.
[3] Vgl. ausführlicher zum hier vertretenen Ansatz der Ganzheitlichkeit: Moegling, Klaus (2020): Neuordnung. Eine friedliche und nachhaltig entwickelte Welt ist (noch) möglich. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich, S. 328ff. oder englischsprachig (chapter 8) im open access: Moegling, Klaus (2022): https://www.klaus-moegling.de/international-edition/, letze Aktualisierung 3/2022. Teile des vorliegenden Blogs sind dem Manuskript an den in dieser Fußnote gekennzeichneten Textstellen entnommen. Hilfreich hierfür zum erweiterten Verständnis der Ganzheitlichkeit sind des Weiteren z.B. der Bezug zu systemischen Überlegungen von Fritjof Capra („Wendezeit“) oder Vester („Leitmotiv vernetztes Denken“), konstruktivistische Überlegungen (Berger/Luckmann, „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“) sowie gestalttheoretische Sichtweisen der ‚Berliner Schule‘, z.B. von Wertheimer und Metzger; auf Luhmanns systemtheoretische Überlegungen wird allerdings weniger Bezug genommen, da dort die Perspektive des Menschen als eigenes, subjektives und nicht-technisches System, das in einer kommunizierenden Verbindung zu anderen Systemen steht, m.E. zu kurz kommt. Vgl. hierzu Moegling, Klaus (2017): Kultureller Transfer und Bildungsinnovation. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich, S.80ff.
[4] Sicherlich kann der Begriff der Ganzheitlichkeit im vereinnahmenden Zugriff auf den Menschen auch missbraucht werden. Daher ist es wichtig, jeweils zuvor sauber zu klären, was unter Ganzheitlichkeit jeweils gemeint ist, damit dies nicht zu einer ideologischen Kategorie verkommt. Vgl. umfassender zu einer kritischen Verwendung des Verständnis von Ganzheitlichkeit bei Moegling (2017, 103ff.).
[5] Vgl. Verlängerung von Atomkraftwerken würde nur ein Prozent des Erdgasbedarfs ersetzen. In: https://www.focus.de/finanzen/news/neue-berechnungen-zeigen-verlaengerung-von-atomkraftwerken-ersetzt-nur-ein-prozent-des-erdgasbedarfs_id_111595477.html, 7.7.2022, 30.7.2022.
[6] Koloniales Kulturerbe. Ruf nach Aufarbeitung. In: 22.2.2019. https://www.deutschlandfunk.de/koloniales-kulturerbe-ruf-nach-aufarbeitung-100.html, 30.7.2022
[7] Vgl. https://www.puls24.at/video/puls-24/putin-bezeichnet-ukrainische-regierung-als-bande-von-drogenabhaengigen-und-neonazis/v-ci4kmwj2xfdl, 25.2.2022, 8.7.2022.
[8] Vgl. https://www.geo.de/natur/oekologie/bolsonaros--alternative-wahrheit--ueber-den-regenwald-31722026.html, 22.3.2022.
[9] Vgl. ausführlicher hierzu u.a. Moegling, Klaus (2022): 'Grüne' Atomkraft: Wie frech ist denn das? In: https://www.freitag.de/autoren/profdrklausmoegling1952/greenwashing-gruene-atomkraft-wie-frech-ist-denn-das, 7.2.2022, 7.2.2022.

[10] Dieser Blog stellt eine an vielen Stellen überarbeitete und erweiterte Fassung meines Beitrags in der Online-Zeitschrift ‚Telepolis‘ dar: Über die aktuelle Gefährlichkeit unterkomplexen Denkens. In:
https://www.heise.de/tp/features/Ueber-die-aktuelle-Gefaehrlichkeit-unterkomplexen-Denkens-7163044.html, 10.7.2022, 10.7.2022. Ich bedanke mich für eine Reihe weiterführender Stellungnahmen im Rahmen des Kommentierungsteils im Anschluss an den Beitrag, die ich hier nun z.T. versucht habe angemessen zu berücksichtigen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Klaus Moegling

apl. Prof. Dr. habil. i.R., Pol.wiss. u. Soziologe, Autor von 'Neuordnung', https://www.klaus-moegling.de/aktuelle-auflage-neuordnung/

Klaus Moegling

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