Schulreform und Zukunft

Bildung, Zukunft, Schule Die Bildungsaufgaben von Schulen im Kontext aktueller und zukünftiger globaler Konfliktlagen und Krisen - zur Neudefinition schulischer Bildung

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Im Rahmen dieses Beitrags soll davon ausgegangen werden, dass schulische Bildung, wenn man von einer kritischen Analyse gesellschaftlicher Strukturen und einer hierauf aufbauenden Einschätzung zukünftiger globaler Entwicklungen ausgeht, noch nicht genügend entwickelt ist – oder auch vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Herrschafts- und Verwertungsinteressen intentional nicht entsprechend entwickelt wurde – um den Anforderungen gegenwärtiger und zukünftiger globaler Krisen gerecht werden zu können.

Schulen können natürlich nicht allein auf die Lösung von Zukunftsproblemen vorbereiten helfen. Dies wäre ein pädagogisches Omnipotenzdenken, das Schulen, Lehrerinnen und Lehrer und Schülerinnen und Schüler überfordern würde.

Hier sind in der Sozialisation und hinsichtlich der Kompetenzentwicklung der nächsten Generation ebenfalls Lebensgemeinschaften, Vereine, Kindertagesstätten, berufliche Ausbildungen, Studiengänge, Fort- und Weiterbildungen sowie informelle Lernprozesse, z.B. in Peer-Gruppen, gefragt. Schulen sind nur eine bildende Institution unter vielen.

Dennoch finden entscheidende Lebensjahre im bildenden und erziehenden Kontext von Schule und Unterricht sowie der schulischen Lern- und Lebenskultur statt. Schulen und die dort arbeitenden und lernenden Akteure müssen sich daher im Kern aller thematisch-inhaltlichen Lernprozesse an der Lösung aktueller und zukünftiger Probleme und Konflikte orientieren. Bildung sollte sich hierbei im vorliegenden Selbstverständnis des Beitrags an dem von Adorno thematisierten Postulat einer ‚Erziehung zur Mündigkeit‘ orientieren, deren Grundlage die Entwicklung von Kritikfähigkeit und selbstverantwortlichen gesellschaftlichen Handelns ist.[1] Hierfür müssen unterrichtliche Lernsituationen und eine Schulkultur angeboten werden, die einerseits die notwendige fachliche Vermittlung ermöglichen, aber sich nicht hierauf beschränken und in ihren Bildungsprozessen weit hierüber hinausgehen.

Natürlich lässt sich die Zukunft in den nächsten 50 Jahren nicht exakt voraussagen; daher wird in den Zukunftswissenschaften auch eher von möglichen ‚Zukünften‘ gesprochen.[2] Dennoch lassen sich einige sehr wahrscheinliche Problemkonstellationen der Zukunft aus der Vergangenheit und der Gegenwart heraus ableiten. Anhand von ihnen können wichtige Lernerfahrungen ermöglicht werden, aus Konfliktlagen und Krisen kann gerade im gesellschaftswissenschaftlichen Unterricht gelernt werden.[3] Des Weiteren – und zum Teil auch damit verbunden – bilden globale Problemlagen auch den Erwartungshorizont hinsichtlich kompetenzorientierter Lernperspektiven für alle fachlichen Domänen und für das inter- und transdisziplinäre Lernen ab: Was müssen Schüler können und wissen, um derartigen Problemlagen zumindest in Ansätzen erfolgreich begegnen zu können?

Zu erwartende globale Problemsituationen und schulische Lernperspektiven

Wenn wir jetzt schon wissen, dass gegenwärtig und noch in einem verstärkten Maße zukünftig folgende Problemsituationen in einem regionalen und einem überregionalen (globalen) Rahmen die Menschheit vor schwierige Aufgaben stellen bzw. stellen werden, dann müssen entsprechende Kompetenzen im schulischen Lernmilieu verstärkt entwickelt werden:

  • Wachsende Armut und soziale Ungleichheit nicht nur im globalen Maßstab, sondern auch in reichen (westlichen) Ländern aufgrund des Profitstrebens und der Renditeerwartungen der organisierten Globalisierungsgewinnler im Zusammenhang einer globalisierten Ökonomie: Entwicklung eines intragenerativen und intergenerativen Gerechtigkeitsdenkens und sozialer und politisch-ökonomischer Kompetenz, d.h. auch der Fähigkeit zu einem organisierten solidarischen Engagement (politische und ökonomische Handlungskompetenz in einem kooperativen Kontext);
  • Verschärfung der ökologischen Krise aufgrund eines unverantwortlichen und generationsegoistischen Umgangs mit der Natur: Entwicklung eines intra- und intergenerativ ausgerichteten ökologischen Verantwortungsgefühls und sozialökologischer sowie ökonomischer Kompetenzen im Umgang mit der Vergesellschaftung der Natur; hierbei müssen Gerechtigkeitsvorstellungen und entsprechende Werte auch in einem Zusammenhang mit klimapolitischen Anforderungen gebracht werden können.[4]
  • Rückzug der Demokratien, bei gleichzeitiger Zunahme von ‚failed states‘ und vermehrten Auftretens von aggressiven Diktaturen im Kontext einer immer schwieriger zu durchschauenden Globalisierung: Stärkung der politischen Bildung im Sinne von ‚civic education‘ und ‚Globalen Lernens‘[5] in den Schulen und Förderung gesellschaftspolitischer Handlungskompetenzen;
  • Ausbruch weiterer globaler Wirtschafts- und Finanzkrisen aufgrund von durch ungebremste Kapitalverwertungsinteressen ausgelöste Finanzspekulationen und spekulativen Blasen: Schärfung des kritischen politisch-ökonomischen Denkens in einer globalen und historischen Perspektive im Zuge fächerübergreifenden Lernens (fächerübergreifende Analyse- und Urteilskompetenz);
  • Entwicklung von digitalen Überwachungsregimes auf der staatlichen und internationalen Ebene, auf der betrieblichen und auch der privaten Ebene mit dem Ziel absoluter Transparenz aufgrund von Herrschaft absichernden Kontrollinteressen: Digitale Medienkompetenz und Fähigkeiten zur Erhaltung digital befreiter Lebensräume;
  • Zunahme asymmetrischer gesellschaftlicher Konflikte und gewalttätiger Auseinandersetzungen – von regionalen ‚warlords‘ bis hin zum international organisierten Terrorismus – aber auch Zunahme von Konflikten zwischen Staaten und Staatenkoalitionen im Kampf um Ressourcen und geostrategische Hegemonie –Förderung analytischer Kompetenzen, die helfen, die Ursachen dieser Konflikte zu erkennen und Lösungsmöglichkeiten zu skizzieren;
  • Durch Repression, Hunger und Umweltkatastrophen ausgelöste Fluchtbewegungen großer Bevölkerungsmassen hin zu sicheren und ökonomisch stabileren Weltregionen: Förderung von interkultureller Kompetenz und der sozialen Hilfsbereitschaft für geflüchtete Menschen.

Hierzu müssen neben fachlichen Kompetenzen fächerübergreifende Fähigkeiten sowie psychosoziale Kompetenzen gefördert werden. Ohne ein ethisch geleitetes und vernetztes Denken und Handeln, deren zukünftige Erfolge in den Schulen und im Unterricht anzubahnen sind, wird die nächste Generation keinen entscheidenden Beitrag zur Lösung der angesprochenen Probleme im Rahmen ihrer Möglichkeiten leisten können.[6]

Institutionelle Veränderungen schulischer Bildung

Für die Vorbereitung auf verantwortbare Problemlösungen des 21. Jahrhunderts müssen daher der Unterricht, die Schulen sowie die Lehrerausbildung im Rahmen von bildungspolitischen Prozessen entscheidend verändert werden:

  • Didaktische Anlage des Unterrichts: Unterricht müsste in seiner didaktischen Anlage viel stärker von den kritischen und problemorientierten Fragestellungen ausgehen, die die Lernenden an aktuelle und zu erwartende Krisensituationen und Problemkonstellationen richten. In entsprechenden Projekten lernen sie, zunehmend selbstständiger werdend, sich Problemlösungen forschend zu erarbeiten und hierbei die Grenzen der Fächer mit hohem Erkenntnisgewinn zu überschreiten;
  • Überdenken des traditionellen Fächer-Kanons der Schulen: Sollte z.B. nicht anstatt konfessionellem Religionsunterricht vergleichende Religionslehre unterrichtet werden? Sollte es nicht auch ein Fach ‚Gesundheitswissenschaften‘ oder ein Fach ‚Soziales Engagement‘ geben? Sollte ein Teil der Fächer nicht viel häufiger und auch früher bilingual unterrichtet werden? Sollte das Fach Sport nicht durch ein Fach ‚Bewegungskultur ersetzt werden? Sollte Mathematik nicht grundsätzlich anwendungsorientiert und fächerübergreifend unterrichtet werden? Sollte Informatik nicht Pflichtfach für digitales Lernen und kritische digitale Bildung werden?
  • Institutionelle Stellung gesellschaftswissenschaftlicher Bildung im Kontext von Zeitstrukturen: Förderung der gesellschaftswissenschaftlichen Kompetenzen im Rahmen von Epochalunterricht und Fächerverbünden mit höherem Zeitdeputat zum erkundenden, erforschenden und forschendem Lernen. Sollte hier die historische, politische und ökonomische Bildung nicht zu einem Schlüsselfach bzw. zentralen Fächerverbund schulischer Bildung werden?[7]
  • Die Lernenden als Subjekte: Im Unterricht und in der Schulkultur sind die Kinder und Jugendlichen ernst zu nehmen und als gleichwertig zu betrachten, damit sich ihre Ich-Identität und ihre sozialen Kompetenzen in einem würdigen humanen Rahmen entwickeln können; hierzu gehört auch die Reduktion von Prüfungen bzw. die grundlegende Veränderung von Prüfungssituationen (Portfolio gesteuerte Kolloquien, Projektpräsentationen, Balance von Selbst- und Fremddiagnostik).
  • Rhythmisierung von Schule: Die Schulkultur sollte durch eine vollgebundene Ganztagsrhythmisierung gekennzeichnet sein, die einen schülergerechten Wechsel aus intensiven Lehrgangsphasen, Projekten mit Zeiten für gesunde Ernährung, für informelle Kommunikation sowie für Entspannung und Erholung in Bewegung, Spiel und Sport ermöglicht. Die Schularchitektur und das Schulgelände müssen entsprechend verändert werden. Die zeitliche Struktur von Schule sollte stärker an der Eigenzeit der Lernenden im Lernprozess selbst orientiert sein.[8]
  • Partizipation der Akteure: Die Schulkultur sollte durch die weitgehend demokratische Selbstorganisation einer Schule unter beratender Koordinierung und Evaluation von Seiten der Bildungsverwaltung gekennzeichnet sein. In einer demokratischen Schule arbeiten Lehrerinnen und Lehrer und Schulleitung mit den Schülerinnen und Schülern sowie den Eltern und dem gesellschaftlichem Umfeld kooperativ und partizipativ zusammen;
  • Achtungsvolle Förderung von geflüchteten Kindern und Jugendlichen: Entwicklung einer schulischen Lern- und Lebenskultur, im Rahmen derer eine systematische und achtungsvolle Förderung von geflüchteten Kindern und Jugendlichen und Schülern mit Migrationshintergrund im Rahmen von inklusiven Konzepten mit Augenmaß gewährleistet ist.
  • Relevante Schulprofile und schulische Schwerpunktsetzungen: Entwicklung eines partizipativen Engagements der Schulgemeinde im Rahmen von internationalem Schüleraustausch, internationalen Schulkooperationen und sozialem Engagement im Sinne einer ‚Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE)‘[9] oder der ‚Schule ohne Rassismus - Schule mit Courage‘[10].
  • Abbau des selektiven Charakters schulischer Bildung: Stärkung der Sozialisationsfunktion der Schulen zu Lasten des selektiven Charakters von Schulen: Einrichtung von integrativen Förderstrukturen, Verzicht auf Noten, keine Übergangsempfehlungen von der (sechsjährigen) Grundschule in die Sekundarstufe I, Abschaffung des Sitzenbleibens, Ermöglichung von differenzierten Schulabschlüssen in einer Lerngruppe und Abschaffung der Hausaufgaben zugunsten einer kreativen und betreuten Aufgabenkultur während der Ganztagsbeschulung.
  • Wechselseitigkeit des Lernens: Kultureller Transfer innerhalb der Schulen sollte so angelegt werden, dass auch von Schülerinnen und Schülern gelernt werden kann, die Fluchterfahrungen machen mussten und aus anderen Kulturregionen stammen (interkultureller Transfer). Lernen sollte nicht nur als intergenerativer kultureller Transfer in einem hierarchischen Sinne – also von Lehrern zu Schülern, sondern auch von Schülern untereinander sowie von Schülern zu Lehrern gedacht und konzipiert werden.
  • Reform der Lehrerbildung: Die Lehrerbildung muss grundlegend reformiert werden, damit die zukünftige Generation der Lehrenden in der Lage ist, ihre Schüler auf die notwendigen Kompetenzen wirkungsvoll und verantwortlich vorzubereiten. Lehrerausbildung sollte im Sinne einer dualen Ausbildung in kontinuierlicher Verschränkung von Theorie, Forschung und Praxis von Anfang an in der Zusammenarbeit von Schulen, Universitäten und Studienseminaren organisiert werden. Die Curricula einer derartigen einphasigen Lehrerbildung sind an der Förderung der Kompetenzen der zukünftigen Lehrer auszurichten, die stärker einen Bezug zu gegenwärtigen Problemen und Konflikten haben sollten, als es derzeit noch der Fall ist.[11]

Für Lernprozesse, die derart ambitioniert im Spannungsfeld von kulturellem Transfer und Bildungsinnovation anzusetzen sind, muss die staatlich organisierte Bildung mit entsprechenden finanziellen und personellen Ressourcen ausgestattet werden. Es kann in Zukunft einem reichen Land wie Deutschland politisch beispielsweise nicht mehr gestattet werden, am unteren Ende der OECD-Skala hinsichtlich der Bildungsinvestitionen zu stehen und zu erwarten, dass ärmere Länder ihre ausgebildeten Ärzte, Lehrer, Ingenieure oder qualifizierten Handwerker an Deutschland abgeben, die diesen Ländern dann im eigenen Land für die Entwicklung der eigenen Gesellschaft fehlen. Hier handelt es sich um einen Akt der Bildungskolonialisierung.

Schulische Reformperspektiven im Kontext einer kritischen Gesellschaftstheorie

Schule und schulische Bildung ist vor dem Hintergrund einer kritischen Gesellschaftstheorie zu denken, wenn es darum gehen soll, schulische Reformperspektiven zu entwickeln, die eine deutliche Verbesserung der Bildungssituation mit dem Blick auf die skizzierten zukünftigen globalen Entwicklungstendenzen bewirken können. Nur eine herrschaftskritische Sichtweise schulischer Bildung ist in der Lage, Bildungsperspektiven zu entwickeln, die den gesellschaftlichen-Ist-Zustand unter Einbezug zukünftiger Entwicklungstendenzen an einen verantwortbaren Soll-Zustand zu messen und hierfür geeignete Bildungsmaßnahmen und institutionelle Voraussetzungen zu schaffen haben.

Hierbei ist es wichtig, dass die notwendigen Einsichten aus einer kritischen Analyse der gegenwärtigen und zukünftigen Gesellschaftsentwicklung resultieren, die Ausdruck einer sich systemisch niederschlagenden ungebremsten menschlichen Gier im Kontext eines sich neoliberal entfesselnden Kapitalismus sind.[12] Kritikfähigkeit ist in diesem Sinne an das Durchschauen von gesellschaftlichen Herrschaftsinteressen und -strukturen sowie an die Entlarvung ideologisch abgesicherter politischer und ökonomischer Interessen gebunden.[13]

Genauso wichtig aber wie eine kritische Analyse ist die kreative Entwicklung von positiven gesellschaftlichen Möglichkeiten systemischer Entwicklungen im globalisierten Kontext, die eine positive Identitätsstiftung ermöglichen. Kinder und Jugendliche können nicht ausschließlich über problematische Entwicklungen zum Engagement motiviert werden, sondern benötigen genauso einer positive Vision gesellschaftlicher Entwicklung. Eine durchweg düstere Perspektive führt leicht zu emotionaler Überforderung der Lernenden und zur damit verbundenen Abwendung von den notwendigen Aufgaben der Zukunftsgestaltung. Der Kampf um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, um soziale Gerechtigkeit und um den Erhalt der natürlichen Umwelt als Lebensgrundlage im Sinne von ‚Sustainable Development‘ bzw. einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) gibt für junge Menschen genügend Anlässe für die Entwicklung von positiven Identifikationen und Motivationen, sich in diesem Sinne gesellschaftlich zu engagieren.

Es ist in der Bildungsplanung ein zukunftswissenschaftlich ausgerichtetes Denken und Handeln erforderlich, das keine unnötigen Tabus kennt, wenn Bildung seinen wichtigen und zwingend erforderlichen Beitrag zur Lösung von identifizierbaren und drängenden Zukunftsproblemen leisten soll. Hierbei soll noch einmal betont werden, dass von den Schulen allein und auch einzelnen Schülerinnen und Schülern nicht die Vorbereitung einer Lösung globaler Probleme über Bildungsprozesse verlangt werden kann. Hier sind auch noch andere Bildungsinstitutionen und Personengruppen gefordert. Allerdings: Wenn weltweit die Schulen ihren Bildungsauftrag zunehmend erkennen und an vielen Orten Lernende zunehmend auf drängende Fragen der Zukunftsgestaltung vorbereitet werden, kann sich in der Gesamtschau der Aktivitäten ein konstruktiver und wirksamer Beitrag im Rahmen globaler Transformationsbemühungen entwickeln.

Hierfür müssen die bildungspolitischen Anstrengungen und Kämpfe der hieran beteiligten Akteure darauf gerichtet sein, dass Bildungsinstitutionen, wie Schulen und Universitäten, ihren institutionellen Handlungsspielraum erhalten bzw. für Bildungsprozesse im hier skizzierten Sinne frei werden, dass sie weder ökonomisch noch politisch vereinnahmt werden können, nicht zum Objekt der Kontrollabsichten von Wirtschaftsinteressen oder undemokratischen politischen Eliten bzw. populistisch ausgerichteten Regimen werden.[14] Den Tendenzen zu einer Privatisierung im Bildungswesen im Zuge neoliberal ausgerichteter Bildungspolitik muss entgegengetreten werden.[15] Der Einsatz für eine öffentliche und frei zugängliche Bildung wird auch in westlichen Staaten zunehmend zu einem prioritären politischen Ziel, um den an der Aufklärung und dem Humanismus orientierten kulturellen Transfer zu erhalten.

Bildungsinnovationen dürfen wiederum niemals mit ideologisch verhärteter Blickrichtung im Sinne von unterrichtlicher Indoktrination vorgenommen werden. Hier sollte auf die Kraft eines freien Lernens von Kindern und Jugendlichen vertraut werden, das durch Kontroversität, Selbstständigkeit, Interesse und Neugier in einem projektorientierten Rahmen gekennzeichnet ist. Schülerinnen und Schüler haben in der Regel ein gutes Gespür für Gerechtigkeit, sind von sich aus an dem Erhalt der natürlichen Grundlagen interessiert, möchten mitbestimmen und partizipieren. Sie sind neugierig, möchten sich entwickeln und lernen – vor allem dann, wenn Schulen und Unterricht dies ermöglichen und hier nicht rigide entgegenwirken, abstufen und beschämen.[16] Oder anders formuliert: Wenn Schulen und Schulgemeinden aufbrechen, sich ihrer Verantwortung bewusst werden und sich so miteinander verändern, dass das möglichst selbstbestimmte Lernen der Schülerinnen und Schüler im Fokus des Sich-Bildens steht, dann muss man keine Bedenken haben, dass die Lernenden ihre gegenwärtigen und zukünftigen Probleme aus den Augen verlieren – vor allem dann, wenn die diesen Prozess unterstützende Lehrerinnen und Lehrer in diesem Fall verantwortlich, kompetent und beratend zur Seite stehen können.

Auch beginnen die Veränderung globaler Strukturen und die Lösung internationaler Konfliktsituationen oft im Kleinen, im mikrogesellschaftlichen Raum. Wenn dort schon keine Veränderung gelingt, wird dies im makrogesellschaftlichen Raum auch kaum gelingen. Wenn eine an Solidarität und ökologischem Engagement orientierte Identitätsbildung über Bildungsprozesse gelingt, ist eine wichtige Voraussetzung für ein entsprechendes Handeln im Rahmen der subjektiven Möglichkeiten des Einzelnen und der gesellschaftlichen Reichweite handelnder Kollektive, wie z.B. Parteien, Gewerkschaften und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen, gegeben. Oder am Beispiel der ‚sustainable development‘ auch anders ausgedrückt: Eine Bildung für eine nachhaltige Entwicklung ermöglicht einen Lebensstil und ein ökologisches und soziales Miteinander, das auch auf der überregionalen Ebene gesellschaftliche Einflüsse ausüben, Haltungen und Handlungsweisen verändern kann, die in gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen durchaus eine ernst zu nehmende politische und ökonomische Macht ergeben können. Dies ist sicherlich ein langfristiger und nach zivilgesellschaftlicher Couragiertheit, Kreativität und gesellschaftlichem Engagement verlangender Prozess. Dennoch: Auch ein längerer Prozess muss mit den ersten persönlichen und gesellschaftlichen Schritten im Kontext der sozialen Bewegungen der anderen beginnen. Eine Einordnung des eigenen Verhaltens in die gesellschaftspolitischen Aktivitäten der anderen und in auf die Lösung globaler Krisenentwicklungen und Problemstellungen bezogene übergreifende Strategien und längerfristige Zielsetzungen ist notwendig und erlaubt ein identitätsgeleitetes Verhalten, das nicht zwangsläufig frustrieren, sondern durchaus politisch motivieren kann.

[1] Theodor W. Adorno, Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969. Hrsg. von Gerhard Kadelbach. Frankfurt/ M. 1971.

[2] Vgl. hierzu Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (IZT), Zukunftsforschung. Arbeitsbericht Nr. 23/2006, Verf.: Rolf Kreibich, Berlin, März 2006, https://www.izt.de/fileadmin/publikationen/IZT_AB23.pdf, 4.1.2017

[3] Vgl. Gerd Steffens, Bildungspotenziale der Kritik. Eine notwendige Erinnerung, in: Benedikt Widmaier/ Bernd Overwien (Hrsg.): Was heißt heute Kritische Politische Bildung. Schwalbach/ Ts. 2013, S. 261f. und Andreas Eis, Mythos Mündigkeit – oder Erziehung zum funktionalen Subjekt? In: Benedikt Widmaier/ Bernd Overwien (Hrsg.): a.a.O., S. 69-77.

[4] Vgl. Wolfgang Sachs, Gerechtigkeit im Treibhaus. Für eine Neuausrichtung der Klimapolitik, „Blätter“, 9/ 2017, S. 63-70.

[5] Vgl. zur Civic Education z.B. Detlef Oesterreich, Politische Bildung von 14-jährigen in Deutschland. Studien aus dem Projekt Civic Education, Opladen 2012 und zum Globalen Lernen z.B. Klaus Moegling/ Bernd Overwien/ Wolfgang Sachs (Hrsg.), Globales Lernen im Politikunterricht, Reihe: Erfahrungsorientierter Politikunterricht, Band 1, Immenhausen bei Kassel 2010, S. 107 ff., S, 149 ff. sowie die fächerübergreifenden Unterrichtsversuche auf S. 558 ff.

[6] Vgl. ausführlicher zum inter- und transdisziplinären Lernen bei Klaus Moegling, Kultureller Transfer und Bildungsinnovation: Wie Schulen die nächste Generation auf die Zukunft der Globalisierung vorbereiten können. Opladen, Berlin, Toronto 2017.

[7] Vgl. auch Wolfgang Sander, Integrierte politische Bildung. Gesellschaftswissenschaftliche Fächer stärker verbinden. In: HLZ, 2/ 2017, S. 8f.

[8] Manfred Molicki, Die „Zeitkultur-Schule“ – Schule des 21. Jahrhunderts. In: Görtler, M./ Reheis, F. (Hrsg.): Reifezeiten. Zur Bedeutung der Zeit in Bildung, Politik und politischer Bildung. Schwalbach/ Ts. 2012,S. 69-80 sowie Natalie Fischer/ Hans Peter Kuhn/ Carina Tillack (Hrsg.): Was sind gute Schulen? Teil 4. Theorie, Praxis und Forschung zur Qualität von Ganztagsschulen. Immenhausen bei Kassel 2016.

[9] Vgl. z.B. Gerhard De Haan/ Dorothee Harenberg, Bildung für eine nachhaltige Entwicklung. Bonn 1999 sowie Horst Peter/Klaus Moegling/ Bernd Overwien, Politische Bildung für nachhaltige Entwicklung. Bildung im Spannungsfeld von Ökonomie, sozialer Gerechtigkeit und Ökologie. Schriftenreihe ‚Erfahrungsorientierter Politikunterricht‘, Band 4, Immenhausen bei Kassel 2011.

[10] Vgl. zur ‚Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage‘ http://www.schule-ohne-rassismus.org/startseite/, 4.10.17

[11] Vgl. ausführlicher hierzu Klaus Moegling, Kultureller Transfer und Bildungsinnovation: Wie Schulen die nächste Generation auf die Zukunft der Globalisierung vorbereiten können. Opladen, Berlin, Toronto 2017, S. 714-822.

[12] Vgl. z.B. Elmar Altvater, Theorie des Möglichen und Politik der gesellschaftlichen Gestaltung in Zeiten der Globalisierung. In. Polis, 4/2005, S. 9-12. und Elmar Altvater, Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen. Eine radikale Kapitalismuskritik. Münster 2006.

[13] Vgl. Gerd Steffens, Bildungspotenziale der Kritik. Eine notwendige Erinnerung, in: Benedikt Widmaier/ Bernd Overwien (Hrsg.): Was heißt heute Kritische Politische Bildung. Schwalbach/ Ts. 2013, S. 261f.

[14] Vgl. zur Kritik an der Integration schulischer Bildung in neoliberale Bildungskonzepte Hans-Peter Waldrich, Die neoliberale Schule. Bildungspolitik à la Bertelsmann, „Blätter“ 9/ 2009, S.73-81.

(15) Vgl. hierzu ausführlicher Gesa Heinbach/ Tim Engartner, Geschäftsmodell Privatschule. Der selbstverschuldete Niedergang des öffentlichen Bildungswesens, in: „Blätter“, 11/ 2015, S. 111-121.

[16] Vgl. Magda von Garrel, Schule und Kinder aus armen Verhältnissen. Ein E-Mail-Interview mit Magda von Garrel. In: Klaus Moegling/ Catrin Siedenbiedel (Hrsg.) „Ich würde die Hausaufgaben abschaffen ebenso wie das Sitzenbleiben.“ 19 Interviews zu zentralen Fragen der Schulpädagogik, Immenhausen bei Kassel, S. 87-97.

Autorenangaben:

Klaus Moegling, apl. Professur im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel, Ehemals Fachleiter für das Fach Politik und Wirtschaft. Habilitationen an den Universitäten Hamburg und Frankfurt.

Autor von „Kultureller Transfer und Bildungsinnovation. Wie Schulen die nächste Generation auf die Zukunft der Globalisierung vorbereiten können. Verlag Barbara Budrich, 872 Seiten, 2017.

Zuletzt erschienen: Neuordnung. Eine friedliche und nachhaltig entwickelte Welt ist (noch) möglich. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Verlag Barbara Budrich, 277 Seiten, 2019.

E-Mail: klaus.moegling(at)uni-kassel.de

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Geschrieben von

Klaus Moegling

apl. Prof. Dr. habil. i.R., Pol.wiss. u. Soziologe, Autor von 'Neuordnung', https://www.klaus-moegling.de/aktuelle-auflage-neuordnung/

Klaus Moegling

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