Für eine Handvoll Landlust

Landtagswahl in Hessen | Auch in den abgehängten ländlichen Regionen Hessens tobt der Wahlkampf. Ein abgehängter SPD-Kandidat sucht einen Aufhänger. Und findet ihn in Landlust und Heimaterde.

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Ort der Handlung: Das plüschige "Marktcafe" im idyllischen Fachwerkstädtchen Alsfeld. Hierhin hat der "heimische Direktkandidat" für den Hessischen Landtag, Swen Bastian, interessierte Bürger zum plüschigen Plausch über ein "gutes Älterwerden auf dem Land" eingeladen. Ihm zur Seite sitzt kein Geringerer als der (O-Ton SPD-Presseerklärung) "bundesweit bekannte Politik-Erklärer" und Heidelberger Bundestagsabgeordnete Lothar Binding, der zudem auch finanzpolitischer Sprecher seiner Partei und Bundesvorsitzender der "SPD AG 60plus" ist. Er verstehe es "wie kaum ein anderer", so teasert der Einladungstext einladend, "komplizierte Zusammenhänge anschaulich zu erläutern". Und er habe, so augenzwinkert das "Online-Magazin der Region", Oberhessen live, selbstverständlich auch "sein bekanntestes Hilfsmittel", einen roten Zollstock, dabei.

Ob dieses Werkzeug, das den wenigen noch verbliebenen SPD-Anhängern mit "einfacher Bildung" bestenfalls den Zahlenraum von 1 bis 200 verdeutlichen kann, auch als didaktisches Hilfsmittel taugt, um den Alsfelder Zuhörern zu visualisieren, wie lange sie sich bereits im roten Bereich der drohenden Altersarmut und herauf ziehenden Pflegekrise befinden, muss sich noch zeigen. Vom roten Zollstock zum Krückstock ist es nur ein kurzes Stück Weges. Und das knallrote Gummiboot sozialdemokratischer Sozialpolitik ist bereits seit 2005 in Seenot, als die heute millionenschweren Lobbyisten, Konzernberater und Selbstvermarkter Gerhard Schröder und Joschka Fischer mitsamt der Mehrheit ihres Parteivolks fröhlich den Sozialstaat zerschmetterten.

Vorerst ist es dem Heidelberger Politikerklärer und 60Plus-Funktionär darum zu tun, die Gedächtnisleistung seiner Zuhörer einem brutalen Test zu unterziehen und mit dem roten Zollstock auf andere Schuldige zu zeigen. „Gutes Älterwerden auf dem Land", so baut Binding zunächst den Parcours auf, an dem das Scheitern des politischen Gegners demonstriert werden soll, "stellt hohe Anforderungen an die Politik". Da noch keine leeren Biergläser oder angebissenen Kuchenstücke fliegen, legt der geübte Debattenredner gleich noch eine Stange mehr auf: "Dazu braucht es mehr als gemeinsame Pressefotos mit lächelnden Landesministern", pöbelt er und ist sich sicher, die Wählerstimmung voll getroffen zu haben. Und in der Tat untermauern seine freudlos-asketischen Gesichtszüge den Kontrast zu grundlos fröhlichen Landesministern auf das Glaubwürdigste. Darum kann Parcourschef Binding jetzt alle Regierungsverantwortlichen in Hessen an den unbewältigten Oxer, Wassergraben oder Pranger stellen: "Entscheidend ist die Umsetzung, denn unvollendete Ankündigungen haben die Menschen in Hessen zu genüge erlebt“, gibt er sich "mit Blick auf die Bilanz der schwarz-grünen Landesregierung" sympathisch-empathisch. Ja, grün ist die Heide, aber schwarz der schwarze Peter. Und deshalb weiß er die Versager-Koalition aus Wiesbaden mit klugen Ratschlägen dieses Kalibers zu beschämen: "Beim Wohnen und der Mobilität müssten praktikable Lösungen umgesetzt werden. Dazu bedürfe es anderer Konzepte als im Ballungsraum" (vgl. Oberhessen live).

Und da sich unter den Anwesenden immer noch niemand an die Geschichte von Hartz IV oder andere üble SPD-Sünden aus Rot-Grün- oder Groko-Zeiten zu erinnern scheint, können die letztgenannten Aussagen unhinterfragt in die gastlichen Räume des Marktcafes gestellt werden. Dass selbst der politische Gegner nicht so ungeschickt wäre, sich mit der Umsetzung nicht praktikabler Lösungen zu empfehlen, fällt an dieser Stelle niemandem auf. Und nicht einer fragt konkret nach Wohn- und Mobilitätskonzepten speziell für die dünn besiedelte und lange vernachlässigte Vogelsbergregion, die unsensible Regionalplaner uncharmant als "ländlich-peripheren Raum mit disperser Siedlungsstruktur" klassifiziert haben.

Doch dies ist nun doch irgendwie das Stichwort für den alerten SPD-Bewerber um das Wahlkreis-Direktmandat im Wiesbadener Landtag, das aber seit Jahren fest in der Hand der CDU ist und dem Jungpolitiker Bastian wohl auch für die nächsten fünf Jahre versagt bleiben wird. Ein aussichtsreicher Listenplatz war nicht zu ergattern, so dass nur ein unverhoffter Erdrutschsieg der SPD den Kandidaten in den Landtag spülen könnte. Doch der ist so wahrscheinlich wie ein Vulkanausbruch im Vogelsberg, dem größten Vulkangebiet Europas, dessen aktive Zeit allerdings 15 Millionen Jahre zurück liegt. Und die SPD liegt derzeit (laut jüngster Wahlprognognose für den 28. Oktober) mehr als fünf Prozent hinter der - allerdings erstmals selbst unter die 30-Prozent-Marke gefallenen - CDU zurück.

Bei den ersten Sätzen gibt sich Swen Bastian noch keine Blöße. „Die Menschen wollen möglichst lange zu Hause bleiben", stellt er fest und findet das "gut und richtig". Hierzu brauche es "im ländlichen Raum eine gute und verlässliche Infrastruktur vor Ort". Auch nicht verkehrt. Doch dann macht er unvorsichtiger- weise "zwanzig Jahre der Vernachlässigung durch CDU-geführte Landesregierungen" dafür verantwortlich, dass sich in Hessen immer größere Lücken "bei der ärztlichen Versorgung, der Mobilität oder den Einkaufsmöglich-keiten" zeigten. Peinlich nur: Im Vogelsbergkreis regiert seit Jahr und Tag die SPD in wechselnden Koalitionen; früher mit den Grünen, jetzt mit der CDU. Und für die Daseinsvorsorge sind nun mal die Kommunen, sprich: Kreisverwaltung, Städte und Gemeinden des Vogelsbergs, verantwortlich. Doch dort gibt es das "gute Wohnen für alle Altersgruppen", das laut Bastian mit attraktiven Dörfern Hand in Hand gehen müsse, nur in Gestalt potemkinscher "Leuchtturm-Projekte", die eine in schwarzer Rhetorik bestens geschulte Kreispressestelle mit allen PR-Tricks in ein flächendeckendes Versorgungsnetz umdichtet. Und so wird zwar in Presseerklärungen ständig das "gute Leben im Alter" beschworen, das der Vogelsbergkreis angeblich biete. Doch eine Infrastruktur, die es beispielsweise den Senioren erlauben würde, möglichst lange in den eigenen vier Wänden selbständig zu leben, existiert ebenso wenig wie Einrichtungen zur Entlastung pflegender Angehöriger oder zur Tagesbetreuung von Senioren, die sich nicht mehr allein versorgen können. Stattdessen schießen stationäre Altenheime privatwirtschaftlicher Betreiber wie Pilze aus dem Boden, in denen laut einschlägiger Umfragen kaum jemand sterben, geschweige denn leben möchte.

Nun wirft Genosse Bastian "den Anspruch auf gleichwertige Lebensbedingungen" in die Debatte, der angeblich grundgesetzlich verbürgt ist (Nur weiß immer keiner, wo's genau steht!) und den so ziemlich alle Parteien nach den letzten AfD-Erfolgen neu entdeckt und zumindest verbal wieder auf die Agenda gesetzt haben. Das Thema wird auch gern unter "Heimat", "Liebe zur Heimat" und "Bewahrung der Heimat" abgelegt. "Wir sagen eindeutig ja zum ländlichen Raum, in dem die Mehrheit der Menschen in Hessen lebt", wirft sich Bastian nun in die Brust, während der Politikerklärer aus Heidelberg stumm auf dem ganzen Tisch herum schaut wie Zappel-Philipps Mutter im Struwwelpeter. Das klingt zunächst wie eine schnell umzusetzende Sofortmaßnahme, die aber sofort ihre Phrasenhaftigkeit offenbart. Ja, ja heißt eben nicht viel mehr als "Leck mich am Arsch!" Es müsse dennoch "zentrale Aufgabe der Landespolitik werden", insistiert Bastian kämpferisch, "den ländlichen Raum konsequent infrastrukturell und sozial aufzurüsten“. Und dazu gehöre natürlich auch, "die Chancen der Digitalisierung nutzen zu können, um alltägliche Dinge des Lebens zu erleichtern." Wie oft hat man das schon gehört.

Zum Abschluss nun wäre es eigentlich an der Zeit, die breite Palette der praktikablen Lösungen gegen die "unvollendeten Ankündigungen" der schwarz-grünen Kontrahenten in Stellung zu bringen. Hieß es doch eben noch: "Entscheidend ist die Umsetzung"! Bastians großer Vorsitzender in Wiesbaden, Oppositionsführer Thorsten Schäfer-Gümbel, hat immerhin eine Neuauflage des einstigen SPD-Erfolgsgaranten "Hessenplan" in die Debatte geworfen, den "Hessenplan +" . Der allerdings räumt dem "günstigen Wohnraum" höchste Priorität ein. Ein Thema für die Ballungsräume. Im Vogelsberg dagegen wandern die Menschen ab. Viele Häuser stehen leer und finden weder Mieter noch Käufer. Das Mietpreisniveau ist so gering, dass der Mietwohnungsbau praktisch zum Erliegen gekommen ist. Verkehrte Welt. Im Vogelsberg kann man zwar billiger bauen. Doch Neubauwohnungen zu kostendeckenden Mieten kann sich trotzdem kaum jemand leisten. Die Arbeitslosenquote ist zwar niedrig. Doch allzu viele sind lediglich teilzeitbeschäftigt oder arbeiten zum Mindestlohn. Ein SPD-Erbe samt der Statistik-Tricks der Arbeitsagenturen.

Der geschasste Neuköllner Bürgermeister Heinz Buschkowsky nannte seine SPD vor kurzem eine Klugscheißerpartei, deren Repräsentanten sich von den Interessen des gemeinen Volkes bereits weit entfernt hätten. SPD-Landeschef Schäfer Gümbel wurde ein Opfer der ZDF-Satiere-Sendung "Heute Show", als er im Fernsehinterview vor Truckern und Gewerkschaftern den knallharten Kämpfer gegen die Ausbeutung im Speditionsgewerbe mimen wollte. Vogelsberg-Kandidat Bastian macht da auch keine kraftvollere Figur. Denn offensichtlich hat die Politik nach Jahrzehnten staatlicher Verschlankung die Handlungsperspektive längst verloren und sich in Politik-Placebos, Scheinaktivitäten und wortreiches So-tun-als-ob verflüchtigt. Und obwohl bei Renten und Pflege die Hütte brennt und dringend etwas geschehen müsste, verlässt sich die Politik auf eine unbegrenzte Leidensfähigkeit der Bevölkerung. Und so bestehen auch Bastians schwungvoll vorgetragene Lösungsansätze lediglich in unverbindlichen Appellen, sich auf die "Stärken des ländlichen Raumes" zu besinnen und "lebendige Begegnungsstätten und Angebote" zu schaffen, "die Jung und Alt zusammenbringen". Denn "eine aktive Dorfgemeinschaft sei in Verbindung mit einer guten Infrastruktur der beste Garant für die Zukunftsfähigkeit der Dörfer" (Oberhessen live). Doch die erwähnte "gute Infrastruktur" ist nicht einmal in Ansätzen vorhanden bzw. existiert nur in einzelnen Projekten, die von ehrenamtlichem Engagement leben. "Solche positiven Ansätze", so macht Bastian sich selbst und seine Zuhörer froh, müssten besser unterstützt werden, denn sie machten "Lust auf das Landleben und eine aktive Teilhabe in einer intakten dörflichen Gemeinschaft". Und das ist Unfug, denn hier soll eine Jahrzehnte währende Entwicklung zur Individualisierung und "Verstädterung" auf dem Lande durch die sozialromantische Rückbesinnung auf ein biedermeierliches Landidyll zurück gedreht werden.

Als Sergio Leone den Italowestern "Für eine Handvoll Dollar" in die deutschen Kinos brachte (1964), war Swen Bastian noch längst nicht geboren. Aber vielleicht hat er den Film inzwischen gesehen. "Ein einsamer Reiter nähert sich dem abgelegenen Wüstenort San Miguel ...", heißt es in der Inhaltsangabe von Wikipedia, ganz so wie der einsame SPD-Direktkandidat sich in seinem ländlich-periphären Wahlkreis mit disperser Siedlungsstruktur bewegt. Für eine Handvoll Dollar fördert der Filmheld immerhin ebenso nachdrücklich wie nachhaltig die Entvölkerung der wüsten Örtlichkeit. Mit nichts anderem als einer Handvoll Landlust im politischen Handgepäck könnte die SPD im Vogelsberg über kurz oder lang ähnlich erfolgreich sein.

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