Wahlkampf in Vulkanistan (Teil 2)

Hessische Landtagswahl | "Das ganze Leben ist 'ne Wahl, und sie sind nur die Kandidaten... Wie vertreiben sich die Vogelsberger Landtags-Aspirant*innen die Zeit bis zu Sieg oder Niederlage?

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"Wenn die Besten weggehen", so beschrieb der ehemalige Gießener Regierungspräsident Dr. Lars Witteck (CDU) 2013 die Sogwirkung der Metropolregion Frankfurt/Rhein-Main auf den gesamten mittelhessischen Raum, dann müsse man hier die Entwicklung mit den Zweit- und Drittbesten gestalten.

Der Vogelsbergkreis wird dem äußersten Rand (immerhin!) der besagten Metropolregion zugerechnet und unterliegt damit den beschriebenen Sogkräften wohl in besonderem Maße. Und wenn Wittecks (der inzwischen ebenfalls weg gegangenen ist!) Feststellung stimmt, sollte man vielleicht im anstehenden Ringen der Vogelsberger Lokalmatadore um Platz und Sieg im hessischen Landtagswahlkampf keine politischen Offenbarungen erwarten. Für die Landkreiskandidat*innen geht es um alles oder nichts. Denn keine*r von ihnen ist über einen sicheren Listenplatz seiner Partei abgesichert. Und nur eine*r kann die relative Stimmenmehrheit erreichen, den Wahlkreis holen und in den Landtag einziehen. Aktuell ist der Wahlkreis 20 noch in Händen der CDU.

Beim letzten Fest der Wagen und Gesänge, der Landtags- wahl vom 22. September 2013, die zeitgleich mit der Bundestagswahl durchgeführt wurde, ging mit 38,3 % die CDU auch hessenweit als stärkste Partei von der Wa(h)lstatt, gefolgt von SPD (30,7 %), Grünen (11,1 %), Linkspartei (5,2 %) und FDP (5,0 %). Die in Hessen erstmals bei einer Landtagswahl antretende AfD musste mit 4,1 % noch vor der Tür bleiben. Eine bis dahin regierende Koalition aus CDU und FDP konnte aufgrund dramatischer Verluste der FDP nicht fortgeführt werden; auch SPD und Grüne verfehlten die rechnerische Mehrheit. Rot-Rot-Grün hätten 47% zusammen gebracht gegenüber nur 43,3 % für CDU und FDP. Doch nachdem die SPD-Linke Ypsilanti im Januar 2008 üble Erfahrungen mit rechten Abweichlern in der eigenen Partei gemacht hatte, weil sie die durch den erstmaligen Einzug der Linken in den Landtag unerwartet eingetretene Situation [Weder Schwarz-Gelb noch Rot-Grün verfügten über eine eigene Mehrheit] durch Bruch des Wahlversprechens, nicht mit der Linkspartei zu koalieren, aufzulösen versucht hatte, wagte ihr Nachfolger Schäfer-Gümbel derartige Gedankenspiele nicht einmal mehr im Traum. So einigten sich CDU und Grüne 2013 schließlich auf die erste schwarz-grüne Koalition in einem bundesdeutschen Flächenland, der erneut Volker Bouffier als Ministerpräsident vorsteht und die nach allgemeinem Urteil erstaunlich harmonisch und professionell funktioniert. Bouffier, dessen hugenottischer Familienname ins Deutsche übersetzt "der Fresser" heißt, hat den parkettsicher auftretenden grünen Vize-Ministerpräsidenten Al-Wazir, inzwischen Hessens beliebtester Politiker, keineswegs gefressen. Es fehlte nicht an gegenseitigem Respekt, dem Willen zu sachlicher Zusammenarbeit und landesväterlicher Diplomatie des einst strammen CDU-Rechten und Roland-Koch-Intimus Bouffier.

Prognose: GroKo oder Jamaika

Die letzten Landtagswahlergebnisse im Vogelsbergkreis spiegelten im Großen und Ganzen die landesweit erzielten Stimmenanteile der Parteien wider, wobei CDU und SPD eher stärkere, die kleineren Parteien dagegen geringere Unterstützung bei den Vogelsbürger*innen fanden als im Durchschnitt des gesamten Hessenlandes. Und heute? Wie ist die Stimmung der Wähler*innen in Hessen (für den Vogelsbergkreis liegen keine gesonderten Umfrageergebnisse vor)? Angesichts der gemessenen "Zufriedenheitswerte" der drei bisher im Landtag vertretenen Oppositionsparteien - über die Hälfte (54%) der befragten Wahlberechtigten in Hessen sind mit der Arbeit der SPD unzufrieden, bei der FDP sind es sogar 60 und bei der Linken Besorgnis erregende 65 Prozent - ist kaum Wechselstimmung feststellbar. Aber auch Schwarz-Grün kann nicht auf eine Belohnung für die geleistete Arbeit hoffen. Einer neuen Umfrage des Instituts INSA zufolge würden am kommenden Sonntag (24.06.2018) 33 Prozent der Wähler CDU, 24 Prozent SPD, 13 Prozent Grüne, 11 Prozent AfD, 8 Prozent "Die Linke" sowie 7 Prozent die FDP wählen. Demnach kämen nur Jamaika und GroKo für ein Regierungsbündnis in Frage. Koalitionen fressen ihre Kinder zuweilen selbst dann, wenn sie scheinbar erfolgreich sind. Die derzeitige Opposition zeigt sich von der Erfolgsbilanz der Koalitionäre wenig beeindruckt. Sie kritisiert einen durch Harmonie erkauften Stillstand der Politik in Hessen. Der CDU seien die Visionen ausgegangen, und Grün sei längst das neue Gelb. Und je aktueller die Umfrage, desto katastrophaler die Aussichten. Zuletzt lag die Union nur noch bei 31 Prozent, die hessische SPD bei 22 Prozent. Die AfD wäre mit 15 Prozent bereits drittstärkste Kraft im Wiesbadener Landtag. Grüne leicht verbessert bei aktuell 14 Prozent (keine Mehrheit mehr mit der CDU), FDP und LINKE bei jeweils nur noch 7 Prozent.

Leichter Start für die Kandidaten der Volksparteien

Was die Gelegenheiten zur öffentlicher Präsentation angeht, bieten CDU und SPD ihren Landkreiskandidaten konkurrenzlose Vorteile. Sie brauchen sich – vor und/oder nach der Nominierung – nur in jedem der noch immer zahlreich vorhandenen Ortsvereine, bei den Partei-Senioren, allen nur denkbaren innerparteilichen Arbeitskreisen oder Veranstaltungen usw. vorzustellen, von deren Existenz Außenstehende sich kaum einen Begriff machen. Auf Events wie "Fraktions- und Ortsvereinsvorsitzendenkonferenz" oder "Neumitglieder-Frühstück" muss man erst mal kommen. Und jeder dieser Anlässe ist zugleich auch Anlass für publizistische Aktivitäten, sprich Pressemitteilungen oder Presseerklärungen. Dankbare Abnehmer sind die Lokalausgaben von drei oder vier Tageszeitungen, einige Anzeigenblätter und seit 2013 auch ein "Oberhessen live" genanntes "Online-Magazin der Region". Vor allem dieses sorgt dafür, dass die Bildschirme, Tablets oder Smartphones von rund 87.000 Wahlberechtigten im flächenmäßig größten aller 55 hessischen Landtagswahlkreise ständig mit Fotos, oft ganzen Bildstrecken, Videos und ebenso knapp formulierten wie schlecht geschriebenTexten gefüttert werden, die man zusammen mit den euphemistisch als "Gedanken" bezeichneten Leserkommentaren ständig auf dem "neuesten Stand" hält. Viel Kleintierzüchterverein und freiwillige Feuerwehr mischt sich mit kommunalem Kleinkram von baubedingten Straßensperrungen über Kita-Gebühren, Freibad-Öffnungszeiten, Jubiläen und Ehrungen bis zu Volksfesten und Bürgermeisterwahlen. Im Grunde bekommt alles, was im Vogelsbergkreis weltberühmt ist, hier eine Bühne für seinen Auftritt. Und so entgeht dem regelmäßigen "Nutzer" auch nicht das unbedeutenste Wahlkampfereignis. Da gab es Neujahrsempfänge, Frühlingsempfänge (ja, tatsächlich!), traditionelle Rindskopf- oder Heringsessen, politische Aschermittwöche und dergleichen mehr - am "laufenden Band". Und natürlich beherrschten auch die Nominierungsprozeduren für die lokalen Spitzenkandidaten monatelang die Schlagzeilen des sich als "journalistisch" verstehenden Online-Magazins.

Bereits sehr zeitig, im November 2017, hatte die SPD vorgelegt und den 38-jährigen Vogelsberger SPD-Vorsitzenden Swen Bastian ins Rennen um die Spitzenkandidatur im Kreis geschickt, "ohne Gegenkandidaten", wie eine Presseerklärung betont, sowie "lebhaft unterstützt" durch Parteivorstand, Ortsvereins- und Arbeitsgemeinschaftsvertreter. Doch dank respektloser Anmerkungen wurde Bastian auch zum meist gemobten Direktkandidaten in den Kommentarspalten von "Oberhessen live" . Ein Heinz Becker moniert zum Beispiel: "Der Mensch hat den Parteitunnelblick, vom wahren Leben aber keine Ahnung. Studium angefangen, keine Berufsausbildung, ein typischer Berufspolitiker."

Im Januar 2018 entschied die CDU über eine "kraftvolle Nachfolge" für ihren bisherigen Spitzenmann, den Landwirtschaftsmeister Kurt Wiegel, der 2013 gegen Bastian noch das Direktmandat im Vogelsberg holte, aber nun nicht mehr antritt. Ihn beerbt der 33-jährige Diplom-Wirtschaftsingenieur und Bundesbankoberrat Michael Ruhl, der mit seiner Familie in der katholischen Enklave Herbstein lebt.

Nicht zu unterschätzen ist auch die Unterstützung durch Auftritte der Partei-Prominenz. Zu akuten Wahlkampfzeiten zieht es die auffallend häufig in die Provinz. Sie lassen auch den regionalen Bewerber und gerade den Nachwuchs ein wenig im Flair weltläufigen Regierens oder Opponierens baden. Und wenn man schon mal da ist, kann man ja auch gleich irgendetwas Tiefsinnig-Programmatisches hinterlassen, um das Profil der Partei und der Kandidaten zu schärfen oder sich wenigstens als guter Zuhörer an der Basis zu präsentieren, der aufnimmt, "wo die Menschen der Schuh drückt" bzw. etwas "mitnimmt" von den Sorgen der Bürger*innen ins bescheidene Parteibüro.

Mit Amtsbonus: Bouffier

Achtung Wortspiel: Als ausgeboufftester hessischer Wahlkämper ist sich Landesvater und CDU-Spitzenkandidat Volker Bouffier der Wirkung eines Auftritts in der unter "hessisch Sibirien" bekannten Provinz wohl bewusst. "Niemand geringeres als der Hessische Ministerpräsident Volker Bouffier wird im Gasthaus Gischler in Lingelbach zu den Gästen sprechen, verrät der CDU-Vorsitzende Alexander Heinz in einer Pressemitteilung." Verrät wiederum "Oberhessen live", das „journalistische Online-Magazin der Region“ (Selbstbeschreibung), in einer auf eben dieser Pressemitteilung basierenden Presseerklärung. Und nutzt die günstige Gelegenheit auch gleich noch für ein Video mit schülerzeitungsreifen Interviewfragen zur neuesten Auflage der GroKo in Berlin. Lingelbach zeigt sich derweil absolut CDU-affin, beherbergt das Dörfchen bei Alsfeld doch die Westernstadt "Lingelcreek", in deren filmreifer Bretterkulisse viele Dorfbewohner traditionell ihre komplette Freizeit verbringen, um im Zustand der dissoziativen Identitätsstörung John Waynes einfaches Weltbild vom gesetzestreuen weißen Siedler und dem guten (weil vermutlich toten) Indianer nachzuerleben. Wayne juckt`s.

Im gutbürgerlichen Gasthaus Gischler dreht es sich am 14. Februar (Einlass ist ab 18.30 Uhr) im engeren Sinne um die 35. Auflage des traditionellen Heringsessens am Aschermittwoch und den "hochkarätige[n] Gast". Der erzählt den restlichen 100 geladenen Gästen (Optimisten wollen sogar 150 gesehen haben) vom CDU Stadtverband Alsfeld und dem CDU-Gemeindeverband Antrifttal "bei einem Lauterbacher Pils, Heringssalat und Kartoffeln" das Gruseligste aus den Jamaika- und zuletzt den GroKo-Verhandlungen mit der SPD, die er ungeachtet ihrer wieder mal staatstragenden Rolle "für eine in sich zerrüttete Partei" hält. Nein, die CDU sei die einzig verlässliche Kraft, mit der man noch Politik machen könne, versichert Bouffier. Und in dem Koalitionspapier mit der SPD gebe es nun erstmals ein Kapitel zum ländlichen Raum. Ohnehin sei die CDU die einzige Partei, die Regionen wie den Vogelsberg - seine "erweiterte Heimat" - im Blick hätten. Was immer das heißen mag.

In der sahneheringsfreien Zeit durchstreift Bouffiers Partei-Ziehsohn und frisch gekührter CDU-Direktkandidat Michael Ruhl die erweiterte Heimat seines Ziehvaters und besichtigt unablässig Betriebe, Altenheime, Schulen und Kitas, lässt sich bei CDU-Senioren wie Jung-Unionisten sehen, greift aber nur in wenigen Detailfragen wie der Abschaffung der Straßenbeiträge den roten Koalitionspartner im Kreis an. "Die Senioren werden mit ihm verschiedene seniorenspezifische Themen ansprechen, die besonders für die älteren Mitbürger im Kreis wichtig sind", heißt es in einer Veranstaltungsnotiz der Senioren-Union ausgerechnet zum 1. April 2018. Das klingt weder irgendwie kontrovers noch sonstwie spannend. Und wenn es weiter heißt: "Für die CDU Senioren sei es wichtig, dass Ruhl die Landtagswahl im Vogelsbergkreis gewinne. Daher werde er im Wahlkampf mit aller Kraft unterstützt werden", ist darin kein einziges Argument, geschweige denn eine politische Forderung zu erkennen. Offensichtlich geht's allen gut. Und man unterstützt den CDU-Landkreiskandidaten, damit das so bleibt. Demografischer Wandel? Drohender Zusammenbruch des Pflegesystems? Fehlende Tagespflege-Angebote zur Entlastung pflegender Angehöriger? Kein Thema für die satten und sauberen CDU-Senioren oder nur hinter verschlossenen Türen zu diskutieren? Ruhl findet anlässlich der dann stattfindenden Veranstaltung aber doch noch ein paar kitzlige Themen und geht "insbesondere auf die ärztliche Versorgung sowie die Mobilität ein", denn "gerade dies [seien] Themen, welche die ältere Generation im Vogelsberg in Zukunft vor echte Herausforderungen stellen“. Die alten Kämpen danken ihm dies und sichern ihm "volle Kampfbereitschaft" zu, „damit der Wahlkreis auch weiterhin von jemandem vertreten" werde, "der mit beiden Beinen im Leben steht und sich trotz seinen erst 33 Jahren bereits früh und immer wieder für den Dialog zwischen Junger Union und Senioren-Union eingesetzt" habe. So sorgt frühes Engagement beizeiten für dankbare Wähler: Er habe, so die Pressemitteilung der Senioren-Union, "in seiner Zeit als Kreisvorsitzender der Jungen Union bereits ab 2004 regelmäßig gemeinsame Veranstaltungen zu Themen wie Rente aber auch politischen Extremismus organisiert". Nun ja, grammatikalisch [Zitat "Oberhessen live"] vielleicht etwas unbefriedigend, aber ein ermutigender Fingerzeig auf die Tatsache, dass in manchen Bevölkerungsgruppen immer noch "traditionell CDU gewählt" wird.

Schäfer-Gümbel als Don Quixote

Auch ein anderer „erweiterter Vogelsberger“, der hessische Partei- und Fraktionsvorsitzende der SPD und Oppositionsführer im Wiesbadener Landtag, Thorsten Schäfer-Gümbel, möchte da hinsichtlich eines engen Kontakts zur Wählerschaft nicht zurückstehen. Damit ihre Spitzenkandidaten nicht jeden einzelnen der 1.200 Ortsvereine abklappern müssen, veranstaltet die SPD Hessen einmal jährlich eine Fraktions- und Ortsvereinsvorsitzendenkonferenz in der Alsfelder Stadthalle. Das führt zwangsläufig zu einem ziemlichen Auftrieb im mitgliederstarken einstigen SPD-Land Hessen (ca. 55.000 Mitglieder). „Wir hören die Basis“, behauptet Generalsekretärin Nancy Faeser. Ob da mehr zu hören ist als das übliche Saal-Gegrummel? Von einem „extrem wichtigen“ Austausch spricht Schäfer-Gümbel, denn die Ortsvereine und die Fraktionsvorsitzenden würden am schnellsten merken, „wo der Schuh drückt“. Und ohne sich darüber auszulassen, von wessen Schuh da die Rede ist (dem der Parteifunktionäre oder dem der Bürger*innen?) ist er dann aber auch ganz schnell wieder bei seiner Grundsatzrede vom Vormittag. „Ich habe gesagt", zitiert sich der hessische Spitzenkandidat selbst, "dass die SPD Windmühlen bauen muss und den Wind der Veränderung aufnehmen muss“. Whow! Und weiter: Andere würden Mauern bauen und Angst machen. Die SPD müsse den Wind der Veränderung nutzen, um die Welt zu gestalten.

Die W e l t gestalten, so so. Ob die Schnellmerker an der Vogelsberg-Basis sich dabei die Hühneraugen holen? Ziemlich unwahrscheinlich. Und die Metapher von den Windmühlen erinnert an Don Quixote, den Ritter von der traurigen Gestalt. Die SPD verliert im Vogelsberg kontinuierlich an Boden. Oder positiv ausgedrückt: Die Zahl ihrer Wähler nähert sich der ihrer Mitglieder an. Windmühlen kennt man übrigens im Vogelsberg nicht. Historisch gab es nur Wassermühlen, die in den vielen Flusstälern ausreichend Antriebsenergie fanden. Die 200 Meter hohen Dinger, die jetzt jeden windhöffigen Hügel im Vogelsberg krönen, heißen Windkraftanlagen (WKAs) oder Windräder. Die dürfte Schäfer-Gümbel nicht gemeint haben, obwohl gerade bei diesem Thema nun zufälligerweise gerade der Schuh drückt. Der energiepolitische "wind of change" geht vielen Naturliebhabern nämlich inzwischen sowohl gegen den Strich als auch auf den Keks und am A... vorbei. Und selbst der SPD-Parteinachwuchs stellt sich mittlerweile auf den Standpunkt, dass der Vogelsbergkreis in punkto Energiewende sein Soll erfüllt habe und weitere WKAs daher ruhig mal woanders gebaut werden könnten.

Am 18. April 2018 lädt Schäfer-Gümbel dann aber auch einmal zum „Stammtisch“ nach Wartenberg ein. Ins Vereinsheim der SG Landenhausen. Das klingt zunächst volksnah, wird aber in den Rahmen der Vortragsreihe „Hessen von morgen – Ideen für unser Land“ gestellt. Wie jetzt? Vortrag oder Stammtisch? Oder nichts von beidem? „Nach der Begrüßung durch den SPD Kreisvorsitzenden Swen Bastian“, heißt es weiter im Text der medial verbreiteten Einladung, „möchte Schäfer-Gümbel mit Thomas Schaumberg, dem Geschäftsführer der Vogelsberg-Consult GmbH, Erwin Mönnig, dem Geschäftsführer der Kreishandwerkerschaft im Vogelsbergkreis und der Schottener Bürgermeisterin Susanne Schaab über die wirtschaftliche Entwicklung von Handwerk und Tourismus im ländlichen Raum diskutieren.“

„Vor allem in ländlichen Regionen und kleinen Gemeinden“, weiß Wikipedia, „war die Zugehörigkeit zum Stammtisch an einen höheren Sozialstatus gebunden. So setzte sich ein Dorfstammtisch bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem aus örtlichen Honoratioren wie dem Bürgermeister, Arzt, Apotheker, Lehrer, Förster oder wohlhabenden Bauern zusammen.“ Der Stammtisch beginne um 19 Uhr und stehe allen Bürgerinnen und Bürgern offen, heißt es dagegen im Pressetext. Der Widerspruch lässt sich nur dadurch auflösen, dass die „Basis“ den Honoratioren beim Diskutieren zuschaut. Und merkt dabei hoffentlich, wo die SPD der Schuh drückt oder warum die Zahl der Wähler bröckelt.

Schäfer-Gümbels Statthalter in der Vogelsberger Provinz, Sven Bastian, erweist sich als gelehriger Schüler des Windmüllers aus Wiesbaden. Gleich am Tag seiner Wahl zum Direktkandidaten für den Vogelsbergkreis, auf der Wahlkreisdelegiertenkonferenz im Februar 2018, verkündete er vollmundig:

"Ich habe den festen Wunsch, im Hessischen Landtag die Rahmenbedingungen für unsere Heimat zu verbessern. Dabei muss gelten: Der Vogelsberg zuerst. Nicht die Partei zuerst. Erfolgreich kann man nur dann sein, wenn man sich auch mit den unterschiedlichen Interessen innerhalb der eigenen Partei kritisch auseinander setzt. Das vermisse ich vollkommen bei der CDU.“

Eine in mehrfacher Hinsicht sonderbare Erklärung, die das SPD-Dilemma in seiner ganzen Schärfe zeigt. Denn im Landkreis regiert SPD-Landrat Manfred Görig gemeinsam mit der CDU in einer großen Koalition. Den Koalitionsvertrag von 2016 hatte Swen Bastian auf einem außerordentlichen Unterbezirk-Parteitag in Frischborn wegen seiner "ursozialdemokratische[n] Inhalte" ausdrücklich verteidigt und so die einstimmige Annahme durch seine Partei vorbereitet. Wovon also spricht Trump-Imitator Bastian ("Der Vogelsberg zuerst") hier? Etwa von kritischer innerparteilicher Auseinandersetzung? Da nützt auch die unglückliche Volte zur CDU nichts, bei der er vermisse, was auch in der SPD ersichtlich nicht stattfindet. Ein bizarrer Auftritt.

Noch bizarrer wird es, wenn man weiß, wie sich der amtierende SPD-Landrat Manfred Görig, Vorgänger Bastians in dem angestrebten Mandat, über die Einflussmöglichkeiten als Vertreter des Vogelsbergkreises im Wiesbadener Landtag geäußert hat: „Wenn man in Wiesbaden sitzt als Abgeordneter, dann ist das keine leichte Aufgabe etwas für den Vogelsberg zu bewegen – man ist einer unter vielen. Ein Einzelkämpfer. Viel bewegen kann man da nicht“ (zitiert nach OL vom 29.08.2017).

Bleiben noch die Mitbewerber der kleineren Parteien, die von FDP, Grüne/Bündnis 90, Die Linke und AfD.

Wahlkampf nach Jägerart

Der Studienrat, FDP-Direktkandidat und FDP-Kreisvorsitzende Mario Döweling (38), wurde 2008 bereits einmal in den Wiesbadener Landtag gewählt und ist dort als stellvertretender jagdpolitischer Sprecher seiner Partei in Erscheinung getreten. Was eine klare politische Positionierung angeht, hat Döweling (mit diesem Namen kann man eigentlich nur Lehrer werden!) es von allen Bewerbern noch am leichtesten. Weder auf einen aktuellen [siehe Kreistags-GroKO in Lauterbach] noch einen ehemaligen [bis 2016 regierte eine Koalition aus SPD, Grünen und Freien Wählern] Koalitionspartner muss Rücksicht genommen werden. Darum klingen die FDP-Wahlkampfparolen aus Döwelings Mund auch wie scharfe Schüsse aus der Jagdflinte. Piff, paff! Der "schwarz-grüne Spuk" in der Landeshauptstadt müsse dringend beendet werden! Landesvater Volker Bouffier habe "keine großen Visionen mehr" und regiere "mit eingeschlafener Hand". Die Errungenschaften der ehemals schwarz-gelben Koalition - z.B. eine "auskömmliche Lehrerversorgung" und angemessene Investitionen in die Infrastruktur - seien durch eine falsche Sparpolitik zunichte gemacht worden. An "DDR-Verhältnisse" fühlt sich Döweling mittlerweile erinnert angesichts des Zustands vieler Straßen im Kreis. Die Politikfelder Landwirtschaft, Forsten und Jagd - letzteres ein besonders intensiv gepflegtes Steckenpferd des Geschichts- und Geografie-Lehrers Döweling - überlasse die CDU nach dem spukigen Koalitionsschluss den grünen Ideologen. Auch sonst ist Döweling ein Freund der deutlichen Aussprache, wenn auch nicht immer sattelfest in der Auslegung jagdlicher Bestimmungen. „Dem Mann gehört der Jagdschein abgenommen!“ urteilte Döweling laut "Oberhessen live" vorschnell und ohne Kenntnis aller Details, wie er selbst einräumte, als Vorsitzender des Jagdvereins Alsfeld im Mordfall zum Nachteil der von einem holländischen Jagdgast abgeschossenen Alsfelder Labrador-Hündin Mali. „Als Jagdgast", so wetterte Döweling, "ist der Mann in keinem Fall befugt, auf einen Hund zu schießen!“ Stimmt nicht, widersprach die untere Jagdbehörde: „Der Jagdausübungsberechtigte kann den Jagdschutz gegenüber wildernden Hunden und Katzen auch schriftlich auf Jagdgäste übertragen“. Zu John Waynes Zeiten wäre man da wohl weniger formal gewesen. Zumindest im Fall toter Indianer. Schwächen zeigt Döweling auch bei der Beherrschung der Fachkürzel für das Lehramt. So weist ihn sein Lebenslauf als Gymnasiallehrer für Griechisch (G) und Erdkunde (EK) aus. Tatsächlich ist er aber Lehrer für Geschichte (GE). Wayne juckt's, anyway.

Keineswegs nur wegen des Wortspiels ist Döweling in jagdlicher Funktion gern einmal in der katholischen Enklave Antrifttal anzutreffen bzw. bereitet er im benachbarten Feldatal das Feld für den Wiederaufstieg der FDP. Dort wurde vor kurzem sein Parteifreund Leopold Bach mit 81,7 Prozent zum neuen Bürgermeister gewähl, allerdings wohl nur, weil er sich als unabhängiger Kandidat ausgab. Dass der kommunalpolitische Schwerpunkte des Undercover-Freidemokraten Bach sowohl im Stadtrat seines Wohnorts Kirtorf als auch in der Bürgermeisterei seiner neuen Wirkungsstätte Feldatal, wo er sich besonders für die Einrichtung von Ärztehäusern einsetzte, mit dem Tätigkeitsschwerpunkt seines bisherigen Arbeitgebers, einer Beratungskanzlei für die Einrichtung von Ärztehäusern, identisch ist, schien nicht weiter zu stören. Die Partei des als Wirtschaftsminister wegen Steuerhinterziehung vorbestraften FDP-Grafen Lambsdorff und seines in derselben Strafsache verurteilten sowie auch in der sog. "Leuna-Affaire" ins Zwielicht geratenen Minister-Kollegen Hans Friedrichs scheint öffentliche und private Angelegenheiten immer noch nicht auseinander halten zu können und bleibt sich insofern treu. Wo FDP draufsteht, ist auch FDP drin. Versprochen.

Grüne in der Zwickmühle

Die 55-jährige Betriebswirtin und Landtagsabgeordnete Eva Goldbach von Bündnis 90/Die Grünen und ihre "Man*nen" steckten durch die Wiesbadener Liaison ihrer Partei in der Vergangenheit immer mal in einer schizophrenen Situation, die ihrer Glaubwürdigkeit bis heute schadet. Dies zeigte sich besonders im Jahr 2015, als man im Kreistag noch mit der SPD, in Wiesbaden aber schon mit der CDU das Koalitionsbett teilte. Am Wiesbadener Kabinettstisch waren die Bündnisgrünen mitverantwortlich für ein Gesetz zum kommunalen Finanzausgleich, das den Vogelsberger Kreistag auf die Barrikaden trieb und zu einem äußerst seltenen Schulterschluss zwischen SPD, FDP, Freien Wählern und Linkspartei führte. Da tat sich die Grünenpartei schwer, vom ursprünglichen Lob des Wiesbadener Gesetzentwurfs auf die scharfe Resolution des Kreistags umzuschwenken, worin gerügt wurde, dass der vorgesehene kommunale Finanzausgleich nicht ausreiche, um die Löcher in den kommunalen Haushalten zu stopfen, die durch die von Bund und Land auferlegten Pflichtaufgaben entstünden und keinen Spielraum mehr für eigene Entwicklungsvorhaben ließen. Am Schluss blieb der "schwarze Peter" allein an der Kreis-CDU hängen, während die Grünen ihren Wählern den Spagat zumuteten, als Regierungspartei in Wiesbaden die Verantwortung für den Kommunalen Finanzausgleich zu übernehmen, doch auf Kreisebene gegen den eigenen Gesetzesentwurf zu stimmen, weil man hier die Interessen der Region vertrete (so der Fraktionsvorsitzende Udo Ornik). Wirklich nachvollziehen kann das wohl bis heute niemand. Gerade erst haben sich Vize-Ministerpräsiden und Grünen-Spitzenbewerber Tarek Al-Wazir und die Spitzenkandidatin und Umweltministerin Priska Hinz auf dem Programmparteitag der Grünen (02.06.2018) ganz im Stil einer Regierungspartei mit einem umfassenden Erneuerungsprogramm für ganz Hessen zu Wort gemeldet. Doch angesichts der tatsächlichen Stimmenanteile der Ökos kann man sich günstigstenfalls noch einen großen schwarzen Mann mit einer grünen Schürze vorstellen.

Linke im Umbruch

"Die Linke"-Direktkandidatin Nicole Eggers (43), Diplom-Sozialwissenschaftlerin und gegenwärtig als Referentin bei der Landtagsfraktion der Linken in Wiesbaden beschäftigt, wo sie für den Bereich Schul- und Hochschulpolitik zuständig ist, hat sich bei dem kleinen Häuflein derer, die sich im Vogelsbergkreis für eine gleichermaßen sozial gerechte wie ökologisch verantwortbare Politik jenseits von SPD und Grünen engagieren, mit ihrer Herkunft aus dem Sauerland und ihrer derzeitigen Adresse in einem kleinen Dorf im Rheingau-Taunus-Kreis empfohlen. Sie kenne die Probleme im ländlichen Raum daher sehr gut, trägt sie vor. Wenn sie sich da mal nicht irrt!. Der Vogelsberg hat da schon seine Besonderheiten. Im Wahlkampf wolle sie sich besonders um die ärztliche Versorgung auf dem Lande sowie um die Bildungspolitik kümmern.

Die Zahl der Aktiven mit Linke-Parteibuch reicht gerade einmal aus, um alle vorgeschriebenen Funktionen zu besetzen. Ortsvereine gibt es - bis auf einen einzigen in Alsfeld - im gesamten Vogelsberg nicht. Im Lauterbacher Kreistag, wo keine Fünfprozenthürde besteht, hat die Linke mal gerade zwei Sitze. Doch im Gegensatz zur SPD, der man nicht ohne Häme unterstellt, die Zahl der Wähler nähere sich derjenigen der Mitglieder an, verhält es sich bei der Linken nachweislich genau umgekehrt. Erheblich mehr Vogelsberger als sich zu einer Mitgliedschaft bekennen bzw. sich aktiv an der Parteiarbeit beteiligen, machen bei Landtags- und Bundestagswahlen ihr Kreuzchen bei der "Partei des demokratischen Sozialismus", der einstigen Volks- und Protestpartei des Ostens, die letztere Funktion dort mehr und mehr an die AfD verliert, dafür aber im Westen - insbesondere bei der akademischen Jugend - "im Kommen" ist. Allerdings bewegt sich die Zahl der eroberten Länderparlamente in den alten Bundesländern nach wie vor in eher überschaubaren Grenzen.

Die Newcomerin Nicole Eggers und ihr Ersatzkandidat Christian Hendrichs, ein sanft und bedächtig wirkender Mittsechziger, der sich im Auftrag der evangelischen Landeskirche für das Freiwilligenmanagement in der Flüchtlingshilfe engagiert, sollen nun also sozial-ökologische Aufbruchstimmung entfachen. Dietmar Schnell, Pressesprecher der Linken-Kreisorganisation und seit dem 21.06.2018 neuer Vorsitzender des "Die Linke"-Kreisverbandes, "zeigte sich optimistisch, mit den beiden Kandidaten eine optimale Besetzung gefunden zu haben". Und weiter heißt es bei Oberhessen live vom 19.04.2018: „Nicole und Christian werden dazu beitragen, dass Die Linke erneut und gestärkt in den hessischen Landtag einziehen wird.“ Auch der Kreisvorsitzende Claus Rauhut (bis 21.06.2018) verbreitet angesichts des personellen Neubeginns Euphorie: „Nicole Eggers wird uns in den Themenfeldern Ökologie, Pflege und Bildung inhaltlich enorm nach vorne bringen und mit ihrer erfrischenden Art nicht zuletzt die Jugend ansprechen.“ Damit ist ein drängendes Problem angesprochen: Anders als etwa in den nahen Universitätsstädten Marburg und Gießen fehlt auf dem platten Land der jugendliche Nachwuchs. Doch unverdrossen die Genossen: "Vorwärts immer, rückwärts nimmer!" Oder: "Den Sozialismus in seinem Lauf... "(kleiner Scherz).

Da es keine Ortsvereine gibt, die abgeklappert werden könnten, und auch keine traditionellen Parteiveranstaltungen, wo die Rinderköpfe rollen für den Sieg oder Heringe zum gepflegten Bierchen in Sahnesoße ersäuft werden könnten, müssen Eggers und Hendrichs sich dort präsentieren, wo ohnehin kollektive Volksaufläufe stattfinden. Die alljährliche Kundgebung zum 1. Mai auf dem Alsfelder Rathaus-Platz ist eine günstige Gelegenheit. Hier versammeln sich alle, die den Tag der Arbeit nutzen, um für Arbeitnehmerrechte einzutreten, zum gewohnten Ritual: 2017 oder 2018 - man könnt's glatt verwechseln. Und da sind sie ja auch alle wieder: Neben den DGB-Gewerkschaftsvertretern der Alsfelder Bürgermeister Stephan Paule (CDU), die Direktkandidaten von SPD und CDU, Bastian und Ruhl, fast die ganze Kreisspitze der Linkspartei. Vor etwa 100 Besuchern, die sich gefühlt fast alle beim Vornamen kennen, versichert man sich gegenseitig der Wertschätzung der Arbeit und des Nachbesserungsbedarfs bei Polizei, Pflege, Bildung, pipapo. Nur ein Zufall, dass die Ansprache von CDU-Ruhl nur aus ein paar dürren Grußworten besteht? Ansonsten: 1000 mal berührt (natürlich nur die Themen!), 1000 mal ist nichts passiert. "Zoom" machte es dann erst wieder bei Nicole Eggers, die ihr 1.-Mai-Debüt zu einer flammenden Rede nutzte. Die Oberhessische Zeitung berichtete:

Die Landtagskandidatin der Linken, Nicole Eggers, ging auf Menschen am Rande der Gesellschaft ein, die nach 40 Jahren Erwerbstätigkeit unter dem Existenzminimum lebten und Flaschen sammeln müssten. Manch eine Rentnerin könne sich nicht einmal das Busticket für den Arztbesuch leisten, weil es auf dem Land keine Ärzte mehr gebe. Sie wolle jedoch keine Rede für ihre Partei halten, sondern alle Arbeitnehmer dazu auffordern, sich gewerkschaftlich zu engagieren.

Hoffen wir mal, dass das nicht tatsächlich so gesagt wurde, weil der Ärztemangel auf dem Lande sicherlich nicht der Grund dafür ist, dass manche von Altersarmut betroffene Frau sich die Fahrt zum Arzt nicht mehr leisten kann. Eggers' andernorts vorgetragenen Forderungen, den Ärztemangel auf dem Land "dringend und sofort" anzugehen, die Schließung oder Teilschließung von Krankenhäusern oder deren Privatisierung zu verhindern beziehungsweise rückgängig zu machen und den ÖPNV attraktiver zu gestalten bzw auszubauen, setzten allerdings grundlegende Einschnitte in das gesamte Versorgungssystem voraus. "Dringend und sofort" bleibt da ein frommer Wunsch. Die "inhaltlosen Phrasen der anderen Parteien" machten sie wütend, schreibt die Kandidatin in ihrer Bewerbung für die Landesliste der Linken. Schauma mal.

AfD - Geheimnis des Glaubens

So ziemlich als einzige zuverlässige Skandalquelle in dem insgesamt recht eintönigen Landtagswahlkampf-Allerlei bietet sich die Auseinandersetzung der etablierten Parteien, zu denen überraschenderweise zunehmend auch die LINKE gezählt wird, mit der AfD an. Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, sing nicht ihre Lieder...

Aber diese AfD wirkt derzeit noch eher im Aufbau als im Aufbruch. AfD-Direktkandidat für den Vogelsbergkreis und die aus Gründen der zahlenmäßigen Symmetrie kurzfristig dem zwar großflächigen, aber dünn besiedelten Wahlkreis 20 zugeschlagene Stadt Laubach wurde der 42-jährige Steffen Rühl, Angestellter im Polizeidienst und Kreissprecher der AfD Vogelsberg. Ein Artikel des Lauterbacher Anzeigers von Januar 2018 berichtet von Schwierigkeiten, irgend jemanden von der Kreisspitze ans Telefon zu bekommen. "Nach Beschimpfungen und Bedrohungen durch die Anrufer", so erfährt der investigative Anzeiger-Reporter von einem namentlich nicht genannten AfD-Repräsentanten, "hätte man diese aus den Büchern und Internetseiten streichen lassen". Das klingt nach Christenverfolgung, Spartakusaufstand, Zeugenschutzprogramm oder einfach nur nach Paranoia. Doch selbst aus dem "Untergrund" gelingt den Rechtspopulisten ein massiver (Tief-)Schlag gegen die Vogelsberg-Sozen: Das ehemalige Bürgerbüro der abgewählten SPD-Bundestagsabgeordneten Birgit Kömpel in der Lauterbacher Bahnhofstraße 3, für die im Schulz-Zug offensichtlich kein Sitzplatz reserviert war, fällt nun kampflos an die Blauen. Während Kömpel wie auch ihr ehemaliger Zugführer Schulz abgetaucht ist wie Käpt*n Nemo, der Schriftzug „SPD“ aber noch traurig über der Tür hängt, wird im Inneren bereits aufgeräumt. Der neue Mietvertrag, so weiß der Gewährsmann, liege bereits beim AfD-Kreisvorsitzenden Steffen Rühl in Antrifttal. Und in eben diesem Lauterbacher Ladenlokal werde die Kreis-AfD nun ihr neues Büro eröffnen, sich die unscheinbare Immobilie aber mit dem AfD-Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann teilen. Auf eine Einweihungsfeier verzichte man vorerst. Auch auf die sicher geglaubte Siegesfeier am Abend des 28. Oktober 2018?

Apropos AfD-Kreisvorsitzender Steffen Rühl in Antrifttal. Im Oktober 2009 erschien auf FAZnet ein Artikel von Marcel Giersdorf über die letzten Bastionen der erodierenden Volksparteien CDU und SPD auf dem Lande. Der heutige AfD Kreisvorsitzende begegnet uns dort noch als Vorsitzender des Antrifttaler CDU-Ortsvereins:

"Wenn Steffen Rühl, 34 Jahre alt, in seinem roten Opel über die Landstraße fährt, schimpft darin einer laut auf „die Linken“. Rühl ist es nicht, er lässt lieber schreien, Franz Josef Strauß auf einer Best-of-CD. Strauß ist sein Idol, sagt der Vorsitzende des CDU-Ortsvereins, und über allem lächelt Angela Merkel von den Laternenpfählen. Auch Tage nach der Bundestagswahl verkündet sie den Bürgern noch, dass sie oder die CDU oder auch ganz Deutschland die Kraft hat. Andere Plakate hängen nicht, nur die der CDU."

Antrifttal sei Merkel-Land, fabuliert der FAZnet-Schreiber weiter. Das erlaubt allerdings keine sehr exakte geografische Ortung, und so überrascht es wenig, dass er das "Dorf in einem - politisch gesehen - schwarzen Tal" anschließend dem Bundestags-Wahlkreis 173 Gießen zuschlägt, wo die CDU in fernerer Vergangenheit angeblich Spitzenwerte von mehr als 80 Prozent erzielt habe. Das ist natürlich Unfug und dürfte die Gießener (CDU-Zweitstimmen-Anteil im Jahr 2009 = 31%) zu berechtigtem Widerspruch gereizt haben. Auch zwei Wahlperioden später, im Jahr 2018, gehört Antrifttal noch immer nicht zum Kreis Gießen, wohl aber zu einer katholischen Enklave des einst kurmainzischen Amöneburg mit hohem CDU-Wähler-Anteil, dessen Kerngebiet auf der anderen Seite der Kreisgrenze, d.h. gerade noch im Landkreis Marburg-Biedenkopf, liegt. Nur der einstige CDU-Ortsvereinsvorsitzende von Antrifttal hat die Fronten gewechselt. Mangels geeigneter Best-of-CD schreit Rühl jetzt vermutlich doch selbst. Und zwar für die AfD. Ob das Auto trotzdem noch rot ist?

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