Der Schutz der Leitkultur

Polizeigewalt als strukturelles Kalkül für politische Stabilität

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Die Polizeigewalt, die wir zur Zeit in Hong Kong beobachten, mag den einen oder anderen erschrecken und Solidarität bekunden lassen. Jedoch betrifft uns diese Gewalt nicht mittelbar und noch dazu ist die Ausübung einer solch maßlosen Gewalt unter einem autoritären Staat wie die Volksrepublik China nicht weiter verwunderlich. Zwar ist Hong Kong eine Sonderverwaltungszone mit eigenen staatlichen Strukturen und Institutionen, allerdings ist es naiv zu meinen Xi Jinping würde eben jene staatlichen Strukturen nicht kontrollieren.

Dass uns Hong Kong so wenig schockiert liegt daran, dass es so voraussehbar war - es deckt sich mit unserem westlichen Weltbild von der Reaktion eines autoritären Regimes, das bereits Soldaten auf Student*innen schießen ließ.

Der Gedanke, dass so eine ausufernde Polizeigewalt in Deutschland jedoch nicht geschehen könnte, lässt die meisten gut Schlafen. Diejenigen, die 2017 in Hamburg die G20 Demonstrationen miterlebten, sehen das vielleicht anders.

Damals wurde in Hamburg eine 38 km2 große Demonstrationsverbotszone erlassen, die von 31.200 deutschen und 200 österreichischen Polizeibeamten, 600 Spezialkräften in 3000 Einsatzfahrzeugen und 21 Wasserwerfern geschützt und überwacht worden ist. Es wurden mehr als 145 Mio. Euro ausgegeben, mit dem Ziel die G20-Gipfelteilnehmer zu schützen und die Proteste von 80.000 Demonstranten gegen eben diese vom Gipfel zu trennen.

Über den Verlauf des Tages war die Situation in der Stadt in einem Maß eskaliert, dass jede friedliche Versammlung von der Polizei als Angriff aufgefasst worden war. Es gab Gewalt sowohl von Seiten der Demonstranten und von der Polizei; beides ist zu verurteilen. Schaut man über die oberflächliche Ausübung von Gewalt hinaussehen, erweist sich eine strukturelle Gewalt in der Organisation und Durchführung des G20-Gipfels. Im Zuge des Wochenendes wurden namentlich Journalisten von BKA (Holger Münch) und Verfassungsschutz (Hans-Georg Maaßen) dem Innenministerium (Thomas de Maizière) als Gefährdung der Sicherheit benannt. Daraufhin wurden auf Drängen des Innenministers 32 Akkreditierungen entzogen.

Nach dem Gipfel wird vom Bürgermeister (Olaf Scholz) öffentlich geäußert, dass es keine Polizeigewalt gegeben hätte. Die eingesetzte Sonderkommission hat aus der Analyse von 12 TB an Videomaterial lediglich sechs Verfahren an Polizeibeamte an das Dezernat für Interne Ermittlungen weitergeben. Von Polizeibeamt*innen selbst wurde kein einziges Verfahren wegen Regelüberschreitung eingeleitet.

Auf Seite der Demonstranten gab es 40 Verurteilungen, 51 Untersuchungshaftanordnungen, 319 Ermittlungen gegen namentlich bekannte Personen und 3200 Ermittlungsverfahren, eingeleitet von der SoKo [1].

Die Verschärfung der Polizeigesetze hinsichtlich Demonstrationen und die Ausweitung der polizeilicher Kompetenzen dient letztlich der Verteidigung der Politik von Landes- und Bundesregierungen. In deren Augen öffentliche Ordnung der Beweis für gelungene Politik ist.

Politik ist nicht das was möglich ist, Frau Merkel. Politik ist der Diskurs zwischen Realität und Idealismus, danke Herr Palme, und die Dialektik, die sich darin offenbart. Realität ist nicht möglich, denn sie ist. Alles was bereits ist, ist nicht mehr möglich. Somit ist nur Idealismus das Mögliche. Ohne der Verschreibung eines Ideals bleibt lediglich der Diskurs über Realität, das was ist und darüber es unverändert zu lassen. Das ist es, was Konservative tun. Sie festigen ihr gesellschaftliche und wirtschaftliche Stellung in dem sie andere mit einer geringeren Stellung („wirtschaftliche Flüchtlinge“, Intoleranz jeglicher nicht-abendländische Kultur mit Ausnahme von Tourist*innen) diskreditieren und Abgrenzung (nach unten) betreiben. Gleichzeitig vermitteln sie mit ihrer Rhetorik einer breiten Masse, dass diese Abgrenzung inherent ist und dass gesellschaftliche Stellung alles ist was in einer (kapitalistisch-bürgerlichen) Gesellschaft zählt.

Es ist jene kapitalistische Propaganda des 20. Jahrhunderts, für die Wirtschaft instrumentalisiert durch Menschen wie Edward Bernays [4], die als bürgerliche Leitkultur daherkommt und Angst vor wirtschaftlichem und gesellschaftlichen Abstieg konstruiert. Diese Angst sehen Bürger*innen darin künstlich manifestiert, dass wir in einem Staat leben, der Absteiger*innen (aus welchem Grund auch immer: marktwirtschaftliche oder gesellschaftliche Ereignisse, eigene oder fremde Krankheit, Zufall) allein lässt und dies als alleiniges Selbstverschulden stigmatisiert.

Konservative Politiker*innen haben es in den vergangenen Jahrzehnten geschafft, dass sich die Menschen mit ihnen als Person identifizieren und nicht mit den (wie auch immer gearteten) Ideen bzw. Programmen und Prämissen ihres Handelns.

In Österreich ist Sebastian Kurz zum Beispiel eines Personenkults geworden, wie es ihn schon einmal im deutschsprachigen Raum gegeben hat. In Deutschland sind diese Ausmaße nicht so monopolistisch, aber die politische Kultur bewegt sich ebenso in Richtung: Person vor Programm. Dies hat mittel- und langfristig zur Folge, dass Bürger*innen sich von Kritik persönlich angegriffen fühlen, wenn man solche politischen Persönlichkeiten kritisiert oder diskreditiert.

Kritik an Politik wird zur Kritik der Person wird zur Kritik am eigenen gesellschaftlichen Bild und zur Kritik am eigenen Lebensstil.

Es ist jene Angst vor Verlust, materiell wie gesellschaftlich, die die Menschen in die Arme von rechts- und neo-populistischen Parteien wie die AfD und Menschen wie Donald Trump, Jair Bolsonaro und Boris Johnson treiben, und gleichzeitig stur verharren lässt ihr Leben zum Wohl einer geschützten Umwelt und einer solidarischen Gesellschaft verändern zu lassen.

Getragen wird ein solches System in Zukunft von einer immer härter durchgreifenden Polizei, welche gezielt Gewalt als Abschreckung einsetzt, welche mit immer mehr Rechten zur Überwachung und Strafverfolgung (Online-Durchsuchung, Funkzellenabfrage, präventiver Einsatz von Gesichtserkennungssoftware) ausgestattet wird und welche durch keine staatliche Instanz kontrolliert und sanktioniert wird. Solche Maßnahmen werden immer öfter nicht allein gegen mögliche Straftäter, sondern auch gegen politische Personen aus Parteien, Gewerkschaften und der Presse eingesetzt [1].

Wenn Bürger*innen kollektiv unter Strafe gestellt werden, weil sie Teil einer Demonstration sind und bereits im Vorfeld Bedenken um die eigene körperliche Unversehrtheit haben müssen, schützt die Polizei letztlich nur noch die Interessen von oben beschriebenen Politikern.

Hierin verblasst die Trennung von Legislativ-, Judikativ- und Exekutivgewalt und damit demokratische Strukturen, wie wir es zur Zeit in Hong Kong sehen.

[1] „Hamburger Gitter - Der G20 Gipfel als Schaufenster moderner Polizeiarbeit“, Dokumentation, lumapark, (https://www.hamburger-gitter.org/)
[2] „Ist die Polizei brutal?“, Die Zeit 40/2019 S.36
[3] „Gefühlte Unsicherheit - Warum Deutschlands Polizei aufgerüstet wird“, Deutschlandfunk - Hintergrund
[4] „Public Relations - Manipulation der Masse“, Dokumentation, Arte

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Kommentarfunktion deaktiviert

Die Kommentarfunktion wurde für diesen Beitrag deaktiviert. Deshalb können Sie das Eingabefeld für Kommentare nicht sehen.