Die glorreichen Linien

Ausstellung Höchst aktuell und sehr lebendig: die "Frank Stella - Retrospektive" im Kunstmuseum Wolfsburg

Es handele sich bei Frank Stella um „einen der letzten lebenden Heroen der amerikanischen Malerei aus der Zeit der fünfziger und sechziger Jahre“. Dieser Satz klebt wie ein Label an der Werkschau des Künstlers, die aktuell im Kunstmuseum Wolfsburg gezeigt wird. Man denkt dabei unweigerlich an seltene Alligatoren und Schildkröten, die sich als „letzte ihrer Art“ träge durch den Sand schleppen, den eine Eventagentur in eine Mehrzweckhalle kippen lies, in der sie als „letzte lebende Heroen“ vorgeführt werden.

Die Stella-Retrospektive entspricht glücklicherweise nicht dieser Prospekt-Rhetorik: Sie ist höchst aktuell und sehr lebendig, was der kuratorischen Konzeption des Wolfsburger Ausstellungshauses, aber auch dem Selbstverständnis und der Arbeitsweise des Künstlers zu verdanken ist. Man hat nie das Gefühl, einer Unterrichtstunde in Kunstgeschichte beizuwohnen, dazu ist die Hängung zu eigenwillig. Stella, der selbst mit der Idee einer Werkschau nicht sehr glücklich war und sich am Aufbau beteiligte, sagte dazu jüngst in einem Interview: „Ich schaue lieber nach vorn als zurück.“

Den Blick in die Vergangenheit kann die Schau jedoch nicht aussparen: Beim Betreten der Räume stößt der Besucher als erstes auf die legendäre Black-Painting-Serie, mit der Stella 1958, gerade 20-jährig, berühmt geworden ist, schwarz bemalte Leinwände, die von exakten geraden weißen Linien durchzogen werden. Das Bild wirkt zunächst technisch, und doch scheinen die Linien zu glühen. Metaphysik hing bei Stella stets mit Abstraktion zusammen.

Mit seinen nüchternen abstrakten Bildern reagierte Stella auf den damals allgegenwärtigen abstrakten Expressionismus eines Willem de Kooning oder Jackson Pollock. Es wäre jedoch falsch, hier der Legende des Fortschritts zu folgen, derzufolge sich stets irgendetwas Neues gegen etwas Bestehendes durchgesetzt hat. Denn schon zehn Jahre später begann der ehemalige Minimalist mit maximaler expressionistischer Farb- und Formenvielfalt Werke zu erschaffen, die von ihrem Ansatz her Bilder zu sein scheinen, deren raumbildende Kraft sie von der Wand in den Raum übertreten lässt.

Antiillusionistische Arbeitsweise

„You see what you see“, so bezeichnete Stella einst seine antiillusionistische Arbeitsweise. Dies ist vielleicht eine Kontinuität zwischen den frühen grafischen Bildern und den späteren Bildskulpturen: Stella täuscht nie über die Materialität seiner Arbeiten hinweg. Es gibt Anspielungen auf die Literatur, die Serien heißen Heinrich von Kleist oder Moby Dick, es gibt Strukturzitate aus Bildern alter florentinischer Meister – aber ein gebogenes Stahlrohr bleibt mit seiner aufgedruckten Werksnummer stets ein gebogenes Stahlrohr.

„Meine Mutter malte Landschaften – ich dachte, ich überlasse ihr das Feld“, bemerkte Stella in einem Interview. Ebenso wie seine abstrakten Bildobjekte schaffen die minimalistischen Bilder durch ihre Abkehr vom Gegenständlichen der realen Welt etwas davon radikal Unterschiedenes, vielleicht Utopisches.

Die in den Raum eintretenden Arbeiten sind nicht zeitlich sortiert, in der gigantischen hellen Wolfsburger Halle werden Werke aus 30 Jahren zueinander in Beziehung gesetzt und laden einander auf. Dieser Aufbau weist Parallelen zu Frank Stellas New Yorker Atelier auf: In der 2500 qm großen Halle in Manhattan Downtown umgibt er sich mit einer großen Sammlung seiner älteren Arbeiten, die er in Beziehung setzt, zu dem, woran er gerade arbeitet. Auf diese Weise wird die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart gehalten, gewinnt alle Vergangenheit an Aktualität.

Frank Stella – Die Retrospektive Kunstmuseum Wolfsburg , bis 20. Januar 2013

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