Hören im Akkord

Musikstreaming Der massenhafte Zugriff auf Musik bietet viele Vorteile, jedoch verändert er das Hörerlebnis

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Vinyl feiert seit einigen Jahren ein kleines Comeback als Nischenprodukt
Vinyl feiert seit einigen Jahren ein kleines Comeback als Nischenprodukt

Foto: artemtation/pixabay (CC0)

Die digitale Revolution in der Musikindustrie

Früher war nicht alles besser, doch vieles anders. War viele Jahrzehnte die Vinylplatte das vorherrschende Medium, über das die Musikkonzerne und Plattenfirmen Musik an den Markt brachten, erfolgte, nach einem kurzen Intermezzo der CD, die musiktechnische Revolution durch das MP3: Das elektronische Format ließ sich verlustfrei x-fach kopieren (was man von der Kassette nicht sagen konnte), es ließ sich überall im Web zum Download hinterlegen, illegale Tauschbörsen wie Napster oder Pirate Bay schossen wie Pilze aus dem Boden. Die sich rasant entwickelnde Internetbandbreite machte dann Streamingdienste wie Amazon, iTunes oder Spotify populär: Gegen die Zahlung einer monatlichen Gebühr erhält der Musikfan Zugang zu Abermillionen von Titeln, die er rund um die Uhr hören kann. Anders als bei der CD oder der Vinylscheibe erwirbt er die Musik nicht mehr, er mietet sie quasi – für die Dauer des Abos.

Die Musikindustrie hatte die digitale Revolution verschlafen, sah ihrem eigenen Untergang zu und versucht sich mittlerweile mühsam mit Hilfe der Streamingdienste wieder zu berappeln. Seitdem wird in der Branche, auf den einzelnen Künstler bezogen, erheblich weniger Geld verdient. Keine Plattenfirma investiert mehr größere Summen, um einen Künstler aufzubauen. Auf der anderen Seite haben Bands und Interpreten durch Web, soziale Kanäle, günstige Produktionsmöglichkeiten im Homestudio und Streamingdienste ungeahnte Möglichkeiten der Selbstvermarktung - ohne gängelnde Plattenfirmen im Nacken.

Hören im Vinyl- und CD-Zeitalter

Vinyl – das ist noch gar nicht so lange her, doch im digitalen Zeitalter eine Ewigkeit: Bis Mitte der 1980er-Jahre war es der meistverkaufte Tonträger, bis es durch die CD abgelöst wurde. Die Compact Disc führt mittlerweile einen aussichtslosen Kampf ums Überleben. Vinyl feiert seit einigen Jahren ein kleines Comeback, wird aber allenfalls ein Nischenprodukt für klangüberzeugte Retrofreaks bleiben. Physikalische Tonträger sind im digitalen Zeitalter obsolet geworden.

Von dem Erscheinen einer neuen Platte (ja, so sagte man damals, auch zur CD) erfuhr man durch einschlägige (Print-)Musikmagazine wie Musikexpress/Sounds oder durch Tipps aus dem gleichgesinnten Freundeskreis. Eventuell entdeckte man die neue Platte auch beim obligatorischen Gang in den Plattenladen. Der Entscheidungs- und Kaufprozess dort war kein schneller. Man besah sich zunächst einmal das Cover der Platte, ebenso die Innenhülle, ließ das Artwork auf sich wirken und studierte die abgedruckten Informationen. Das war zu allererst ein visuelles und haptisches Erlebnis. Dann bat man den Plattverkäufer, ob man in die Scheibe hineinhören dürfe: Konzentriert führte man sich die ersten drei, vier Lieder zu Gemüte – wenn der Plattenhändler wohlwollend war, auch die ganze Scheibe und entschied dann, ob das Gehörte den Kauf rechtfertigte oder nicht.

An dieser Stelle erfolgte ein bewusster Selektionsprozess, denn eine Platte musste schon auf ganzer Linie überzeugen, dass sie gekauft wurde. Das Budget, gleich ob Taschengeld oder Arbeitsentgelt, war limitiert und reichte nicht für Scheiben, die man so lala fand. (Diese lieh man sich von Freunden, überspielte sie auf Kassetten, und verlieh wiederum die eigenen Platten.) Zu Hause dann begann die Auseinandersetzung mit der Schreibe: Sie wurde über Wochen rauf- und runtergespielt, die besten Songs hörte man wieder und immer wieder - so lange, bis die Platte von einer anderen abgelöst wurde. Der gleiche Vorgang traf auf die CD zu, wenn auch das visuelle und haptische Erlebnis schon reduziert war.

Die Vinyl- oder CD-Sammlung wuchs so im Laufe der Zeit zu einer persönlichen, vom eigenen Geschmack bestimmten Bestenauslese. Und wenn sich doch mal ein Ei darunter befand, tauschte man die Scheibe im Freundes- oder Bekanntenkreis gegen eine andere.

Musikstreaming

Streamingdienste bewirken eine komplett unterschiedliche Herangehensweise an den Musikkonsum. Nicht nur, dass das visuelle und haptische Element vollkommen fehlt, der Zugang zu sämtlichen Neuerscheinungen oder Backkatalogen von Künstlern, gleich ob E- oder U-Musik, eröffnet ungekannte Möglichkeiten, sich das Werk eines Künstlers oder ein Genre generell zu erschließen. Kennt man beispielsweise einen Interpreten aus dem Bereich des Gypsy-Jazz, kann man durch die Verlinkungen in der Streaming-App in Windeseile alle relevanten Künstler in dem Bereich aufspüren und in deren Angebot hineinhören. Im Vinyl- und CD-Zeitalter hätte dies umfangreiche Recherchen und viele Gänge in Plattenläden bedeutet. Solche logistischen Prozesse entfallen gänzlich: Die Facebook-Seite des Künstlers informiert über die neuste Veröffentlichung, in Echtzeit springt der Hörer vom angegebenen Link zu Spotify oder iTunes und violà: er ist mitten im Hörgeschehen.

Verändertes Hörverhalten

Auf der anderen Seite entwertet der schier unendliche Zugriff auf das Musikangebot die Singularität des einzelnen Werks. Zumal der Zugang vergleichsweise billig ist. Für einen Zehner im Monat kann man sich durch die gesamte Musikgeschichte hören. Man muss sich nicht mehr für eine oder zwei Scheiben entscheiden, weil für mehr das Geld nicht reicht, sondern kann jedes Album, jeden Titel beliebig oft hören. Da unendlich viele Musikwerke zur Verfügung stehen, sinkt die Verweildauer pro Werk. Und je größer das Angebot, desto schwerer fällt die Auswahl - man kennt das aus der Konsumpsychologie. Das intensive, mehrmalige Hören des Werks tritt tendenziell in den Hintergrund, ebenso die im Hörerlebnis stattfindende Auseinandersetzung mit der Musik. Diese macht Platz für ein rastloses Springen von Album zu Album, von Titel zu Titel, zumal der Dienst auch ständig ähnliche Titel des gleichen Genres oder von ähnlichen Künstlern vorschlägt. Man hört, im Vergleich zum Vinyl- und CD-Zeitalter, mehr Titel, diese aber dafür weniger intensiv. Zumal auch die Hörsituation eine andere ist: War man vormals auf fest installierte Abspielgeräte wie Plattenspieler oder Kassettenrekorder angewiesen, kann das Hören über Smartphones nun überall und jederzeit erfolgen. Der hör- und geschmacksabhängige Selektionsprozess, durch den man eine Scheibe bewusst seiner Sammlung einverleibte, wird ersetzt durch einen massenhaften, jederzeit und allerorts möglichen, jedoch im Kern beliebigen Zugriff auf Musik.

Das klassische Album als Auslaufmodell

Die veränderten Hörgewohnheiten haben einen massiven Einfluss auch auf die Musikindustrie. Mancher Künstler veröffentlicht gar kein klassisches Album mehr, also die in einem mühsamen, kreativen Prozess geborene Ansammlung von zehn, zwölf Titeln, sondern lediglich noch einzelne Titel. Begründung: Wirtschaftlich lohne es sich nicht mehr, komplette Alben aufzunehmen und die Aufmerksamkeitsspanne des heutigen Konsumenten reiche für das Durchhören eines kompletten Albums nicht mehr aus. Die klassische Platte als Gesamtkunstwerk, das mehr war als die Summe der einzelnen Titel, hat ausgedient.

Rückwärtsbotschaften: Der Tod Paul McCartneys

1969 machte das Gerücht die Runde, Paul McCartney von den Beatles sei tot und durch einen Doppelgänger ersetzt worden. Ein paar Freaks meinten, eine geheime, diesbezügliche Botschaft entdeckt zu haben, wenn man den Song „Revolution 9“ des Weißen Albums rückwärts spielte. Darauf machten diese sogenannten Rückwärtsbotschaften die Runde in der Musikwelt. Es ist schwerlich vorstellbar, dass diese vermeintlichen Entdeckungen im Musikstreaming möglich wären – nicht nur, weil es technisch komplizierter wäre, einen Song rückwärts abzuspielen, sondern weil man sich schon intensiv mit dem Werk eines Künstlers befassen muss, um auf eine solche Idee zu kommen.

Ob der Musikwelt damit etwas Essenzielles verloren geht, steht auf einem anderen Blatt. Anekdotenärmer wird sie dadurch allemal.

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