„Ich bereue nichts“

Respektpreis Halil İbrahim Dinçdağ wurde eine psychosexuelle Störung attestiert. Seither darf der homosexuelle türkische Schiedsrichter nicht mehr seiner Berufung nachgehen

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„Ich bereue nichts“

Foto: Raffael Siegert

Es war quasi ein Zwangs-Outing, als er sich im Jahre 2008 an die Öffentlichkeit wandte. Doch seither kämpft er wie ein Löwe dafür, wieder auf dem Platz stehen zu dürfen. Am 17.11.2014 war Halil İbrahim Dinçdağ im Fanraum von Göttingen 05 und erzählte seine Geschichte. Eine Woche später, am Montag, den 24.11.2014 wurde Dinçdağ der Respektpreis verliehen, eine Auszeichnung für herausragendes Engagement gegen Homophobie, der vom Bündnis gegen Homophobie verliehen wird. Klaus Wowereit übergab den Preis.

Raffael Siegert: Wie haben Sie es geschafft, vom türkischen Militärdienst befreit zu werden?

Halil İbrahim Dinçdağ: Wenn Sie in der Türkei das zwanzigste Lebensalter erreichen, müssen Sie den Wehrdienst antreten. Es ist in unserer Kultur üblich, dass heranwachsenden Jungen gesagt wird „mein Sohn wird, wenn er groß ist, ein Soldat werden“. Ich habe mir allerdings bereits als Kind gedacht, dass ich kein Soldat werden möchte. Irgendwie habe ich es dann geschafft, den Antritt zum Wehrdienst bis in das Jahr 2008 zu verzögern. Dann musste ich jedoch antreten. Beim Militär angekommen, habe ich darüber nachgedacht, was ich tun muss, um ausgemustert zu werden. Da Homosexualität in der Türkei als Ausmusterungsgrund gilt, habe ich mich dafür entschieden die Karten auf den Tisch zu legen. Eine dreimonatige Prozedur begann, bis ich den Ausmusterungsbescheid bekam. Unter anderem wurde ich auf einer Station mit Schizophrenen untergebracht.

Nachdem Sie ausgemustert wurden, gingen Sie zurück nach Trabzon, um weiterhin als Schiedsrichter zu arbeiten. Wie kam es dazu, dass Sie nicht mehr in Ihrem Beruf arbeiten durften?

Der lokale Schiedsrichterverband wollte das Schreiben haben, das bestätigte, dass ich nicht mehr zum Wehrdienst muss. Ich händigte es ihnen aus. Als sie dann jedoch sahen, dass ich dem Schreiben nach nicht für den Wehrdienst geeignet war, teilten sie mir mit, dass ich nicht mehr als Schiedsrichter arbeiten könne und verwiesen auf einen bestimmten Paragraphen der Schiedsrichterkommission. Dieser besagt, dass Personen, die aus gesundheitlichen Gründen vom Wehrdienst befreit werden, nicht als Schiedsrichter arbeiten können. Daraufhin habe ich dem Verband erklärt, dass ich keine gesundheitlichen Probleme habe. Trotzdem verweigerten sie mir weiterhin, meinen Beruf auszuüben. Doch ich ließ nicht locker. Dann verlangte der Schiedsrichterverband das ärztliche Attest, welches ich vom Militärkrankenhaus erhalten hatte. Ich legte es vor. Daraufhin kontaktierte der lokale Schiedsrichterverband die Türkische Fußballföderation, die ebenfalls auf den besagten Paragraphen verwies. Nachdem mir das Widerfahren war, beschloss ich, gegen diese Ungerechtigkeit anzukämpfen und schrieb der Fußballförderation einen Brief. In dem Brief bat ich darum, mir das Recht als Schiedsrichter zu arbeiten, zurückzugeben. Doch einen Tag nachdem die Türkische Fussballföderation das Schreiben erhalten hatt, leitete sie es einfach an die Presse weiter.

Was geschah dann?

Eine Woche lang war das Thema in den Schlagzeilen.Ich wurde zwar nicht namentlich genannt, dennoch wurden mein Rechtsanwalt und ich ständig angerufen. Die Presse in der Türkei benutzt jedes Mittel, um an Statements zu kommen. Darüber hinaus hat Fatah Altaylı, ein berühmter Kolummnist, in seiner Kolumne das Thema aufgegriffen und geschrieben, dass es sich um einen Schiedsrichter aus Trabzon handelt, der die Initialen, H. I. D trägt. Früher oder später wäre man ohnehin auf mich gekommen. Um Verleumdungen und dergleichen entgegenzuwirken, habe ich mich dafür entschieden, mich im Fernsehen zu bekennen. Ich habe öffentlich dazu Stellung genommen und erzählt, dass mir ein Unrecht widerfahren ist und ich aufgrund dessen dagegen ankämpfe.

Was stand auf dem Attest, das sie vom Militär erhalten hatten? Welcher „medizinische Fachausdruck“ wurde verwendet?

Das türkische Gesundheitswesen sieht Homosexualität nicht als Krankheit an, das Militär aber schon – unddasMilitärkrankenhaus führte die Musterung durch. Im Attest steht, dass ich eine psycho-sexuelle Störung hätte. Im Grunde verstößt diese Formulierung gegen die Menschenrechte und müsste öffentlich diskutiert werden.

Auch Ihre Familie hatte zuvor nicht gewusst, dass Sie homosexuell sind. Wie war die Reaktion?

Lediglich ein paar Freunde wussten Bescheid. Meine Familie hat es, wie die gesamte türkische Öffentlichkeit, aus dem Fernsehen erfahren. Darüber waren sie sehr traurig. Meine Mutter, die am Muttertag 2013 verstorben ist, hat mich angerufen und mir mitgeteilt, dass sie, egal was die anderen Menschen sagen, hinter mir stehen wird und ich ihr Sohn bleibe, egal was passiert. Sie hatte Angst, dass ich sie verlasse, obwohl ich derjenige war, der dachte, dass mich meine Familie nach diesem öffentlichen Outing verstößt. In Wirklichkeit war es allerdings so, dass meine Familie Angst hatte, mich zu verlieren. Mein Vater, der eine sehr starke Persönlichkeit ist, hat mir im ersten Telefonat die Frage gestellt, warum ich ihn nicht vorher über meine Situation in Kenntnis gesetzt habe. Insbesondere meine Schwester war eine große Hilfe. Sie erläuterte das Ganze auf eine einfühlsame Art und Weise der ganzen Familie. Meine Schwester ist sowohl seelisch als auch finanziell meine größte Stütze. Sie ist ein ganz besonderer Mensch.

Vor ihrem Outing haben sie auch als Radiomoderator gearbeitet. Auch dort wurden sie entlassen ...

Der Radiosender, bei dem ich 12 Jahre lang gearbeitet habe, hat mich aufgrund der Nachrichten über meine Homosexualität entlassen. Sie begründeten es damit, dass meine Homosexualität gegen deren Rundfunkpolitik verstoße und es nicht dem Sinn der Zuhörer entspreche. Das haben sie mir allerdings nicht direkt gesagt – ich habe es über die Presse erfahren.

Gab es aus politischer Sicht Personen, die Sie unterstützt haben?

Ja, die gab es. Ich war sogar beim türkischen Parlament und habe gemeinsam mit der CHP-Abgeordneten Melda Onur eine Presseerklärung abgegeben. Außerdem habe ich mit Abgeordneten der MHP gesprochen. Mit den AKP-Abgeordneten konnte ich nicht sprechen, weil die eine Gruppensitzung hatten als ich beim Parlament war. Mit ihnen möchte ich jedoch noch sprechen. Allerdings muss ich hinzufügen, dass es auch in den Parteien die mich unterstützen, sehr homophobe Personen gibt.

Wie ist die Haltung der Regierungspartei AKP zur Homosexualität?

Ich bin mir sicher, dass es auch in der AKP viele Personen gibt, die mich unterstützen, jedoch können sie dies nicht öffentlich kund tun, weil sie dann Gefahr laufen, ihre Wähler zu verlieren. Ich sage immer, dass keine Gefahr von religiösen Menschen in der Türkei ausgeht. Lediglich diejenigen, die die Religion in einem schmalen Grad deuten, stellen eine Gefahr dar. Diese Gruppe nutzt die Religion für ihren eigenen Vorteil, indem sie ihre eigenen Gedanken als Religion darstellen. Der Großteil meiner Familie ist auch religiös, mein Bruder und auch meine Schwester haben Theologie studiert. Mein Bruder ist als Imam tätig. Sie unterstützen mich. Das einzige was sie sagen ist: „Wir können gegen nichts sein, was Gott erschaffen hat.“

Wie war die Haltung Ihrer Kollegen und Ihrer Fans?

Am Anfang waren meine Schiedsrichter-Kollegen sehr zurückhaltend, weil der zuständige Regionalverantwortliche der Türkischen Fussballföderation ihnen angedroht hatte, dass sie keine Aufträge mehr bekommen würden, wenn sie Kontakt mit mir hätten. Sie haben mich trotzdem heimlich unterstützt, indem sie mich telefonisch kontaktiert haben. Jetzt habe ich mit vielen Kontakt, wenn ich nach Trabzon fahre.

Anfangs hatten Sie kaum Unterstützung. Woher nahmen und nehmen sie die Kraft?

Es ist zwar so, dass ich arbeitslos bin und nur durch die Unterstützung meiner Familie und meiner Freunde über die Runden komme, aber ich bereue nichts. Meine Familie hat mir beigebracht: “Lebe als Mensch mit Würde“, diesem Motiv folge ich. Ich bin ein sehr gläubiger Mensch. Ich sage immer wieder zu mir selbst, dass ich am Tag des jüngsten Gerichtes, wenn mir Gott die Frage stellt: „Was hast du für die Menschheit gemacht?“ – voller Stolz und Ehre sagen kann, dass ich für die Würde der Menschheit gekämpft habe. Meine Haltung in dieser Situation hat vielen Menschen Kraft und Mut gegeben. Das einzige wovor ich Angst habe, ist, Menschen zu verlieren, die ich liebe. Ansonsten habe ich in meinem ganzen Leben vor nichts Angst gehabt, obwohl ich sehr viele Morddrohungen erhalten habe. Ich habe keine Angst vor dem Tod. Wir werden sowieso alle früher oder später sterben. Es ist nicht wichtig, wie man stirbt – es ist wichtig, wie man lebt, weil es wichtig ist, wie die Menschen dich nach deinem Tod in Erinnerung haben werden.

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Halil İbrahim Dinçdağ im Fanraum von Göttingen 05, Foto: Raffael Siegert

Wenn Sie zurückblicken und alle Schwierigkeiten und Ungerechtigkeiten Revue passieren lassen – würden Sie mit der Gewissheit, was auf Sie zukommt, heute genauso entscheiden, oder bereuen Sie etwas?

Ich würde mich wieder gegen den Wehrdienst entscheiden. Ich würde, wenn die Türkische Fussballföderation mich nicht arbeiten ließe, wieder mein Recht einfordern. Ich würde alles ganz genau so machen- Auch mit der Gewissheit, dass meine Homosexualität auf einem Weg geoutet wurde, den ich nicht geplant hatte. Viele mögen mich deshalb als verrückt beizeichnen, aber ich mag es, verrückt zu sein.

Wie ist die Lage für Homosexuelle in der Türkei?

Wenn Sie in der Türkei als Modedesigner oder Künstler homosexuell sind, gibt es keine Probleme, möglicherweise werden sie beklatscht und auf Händen getragen. Wenn Sie jedoch Sportler, Polizist oder Lehrer sind, haben sie ein Problem. Es gibt diese Probleme mit Sicherheit auch in einigen Städten in Europa. Auch Europa ist kein Paradies, da müssen wir uns nichts vormachen. Auch hier in Deutschland gibt es mit Sicherheit sehr konservative Gegenden und Gruppen, die strikt gegen Homosexuelle sind. Ich bin mir jedoch sicher, dass extrem homophobe Menschen nur versuchen ihre Homosexualität zu unterdrücken. Aber es hat sich einiges in der Türkei verändert. Noch vor einigen Jahren war es nicht möglich, dass Homosexuelle Hand in Hand auf der Istiklâl spazieren gehen. Heute kann man das ohne Probleme tun. Dies ist selbstverständlich das Resultat vieler Bemühungen und Kämpfe.

Sie haben gesagt, dass Künstler und Modedesigner nicht mit solchen großen Problemen zu kämpfen haben. Das zeigt sicherlich auch die transsexuelle türkische Sängerin Bülent Ersoy, die bis in die 1980er Jahre als Mann berühmt war. Auch nach Ihrer OP ist sie bis heute eine der berühmtesten und geschätztesten Sängerinnen in der Türkei.

Ja, ganz genau. Das Volk stand immer hinter ihr. Auch heute gibt es sehr viele Künstler und Modedesigner, die vom Volk vollkommene Akzeptanz genießen. Wie ich vorher schon gesagt habe, in diesen Berufsfeldern sind Homosexuelle gut aufgehoben und das Volk trägt sie.

Sie haben gesagt, dass es für Sie wichtig, ist, wie die Rechte der Homosexuellen im realen Leben gewahrt werden. Es gab Fanggruppierungen aus der ganzen Türkei, die Sie unterstützt haben. Welche waren diese?

Ja, das stimmt. Es waren etwa Göztepe - Yabasta Gruppe, eine Fanggruppierung von Karşıyaka, Altay, Bucaspor, Galatasaray -Tek Yumruk, Fenerbahçe - Sol Açık, Beşiktaş - Halkın Takımı, Sakaryaspor - Tatangalar Grubu und noch viele andere Fangruppierungen, die mir gerade nicht einfallen. Die Beşiktaş - Carşı Gruppe, die gerade in der Türkei, aber auch in Deutschland so gehyped wird, unterstützt mich nicht. Obwohl sie in der öffentlichen Meinung als Kämpfer für Gerechtigkeit gelten, unterstützen sie mich nicht. Wären sie ehrlich, würden sie bei irgendeinem Spiel ein Plakat mit der Aufschrift: „Wir unterstützen Ibrahim Hali Dinçdağ – Wir sind gegen Homophobie“ zeigen. Die Istanbul - Boz Baykuşlar Gruppe hat z.B. ein Plakat vorbereitet, allerdings hat es die Polizei verhindert, dass es mit in das Stadion genommen werden konnte.

Derzeit sind Sie arbeitslos. Wie finanzieren Sie sich?

Ich arbeite in Istanbul für eine Stiftung, die von Künstlern und Journalisten gegründet wurde. Diese Stiftung hat auch Ihre eigene Fussballliga, die Efendi Lig, die jenseits der kapitalistische Ordnung funktioniert. Dort bin ich in der Verwaltung tätig und pfeife Spiele. Mit dem Geld, was ich dort bekomme und mit der Unterstützung meiner Familie, bestreite ich meinen Lebensunterhalt. Es reicht gerade einmal für Miete und Lebensmittel.

Hat sich eigentlich mit den Gezi Protesten etwas geändert?

Bei den Gezi-Protesten haben die Homosexuellen ihre Stimme erhoben, aber sie sind danach wieder verstummt. Sie haben nicht weitergemacht und sind als Gruppe zersplittert. Bei den Gezi-Protesten haben sich Menschen ganz verschiedener politischer, religiöser oder sexueller Gesinnung zusammengetan, aber danach sind sie wieder auseinander gefallen. Jedes kapitalistische System handelt nach dem Motto „Spalte und Regiere“. Das ist leider auf der ganzen Welt so.

Vielen Dank für das Gespräch.

Bitte

Übersetzt wurde das Interview von Müge Zeyrek-Siegert
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Raffael Siegert

Geboren 1982, verheiratet. Studium der Kulturanthropologie und Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Göttingen. Seit 2011 journalistisch tätig.

Raffael Siegert

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