"Rock 'n' Roll hat eine unglaubliche Kraft"

Im Gespräch Der neue Roman von Jaroslav Rudiš handelt von Punk in den 1980er Jahren in der Tschechoslowakei und in Ostdeutschland, Gentrifizierung und Vergangenheitsbewältigung

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Ihr Roman „Vom Ende des Punks in Helsinki“ handelt von einem ostdeutschen Punk und einer sudetendeutschen Punkerin die 1987 auf einem Konzert in Pilsen aufeinander treffen – woher stammte die Idee?

Jaroslav Rudiš: Ich wusste schon lange von dem Konzert 1987 in Pilsen. Das war eine kleine Sensation. Man muss sich natürlich vergegenwärtigen das Mitteleuropa noch geteilt war. Da sind wirklich zum ersten mal offiziell hinter dem eisernen Vorhang Die Toten Hosen in der Tschechoslowakei aufgetreten. Es war ein abgefahrenes Festival, ein Friedenskonzert. Neben Einstürzende Neubauten und Die Toten Hosen sind dort auch regimetreue tschechoslowakische Popstars aufgetreten. Ein tschechischer Musiker der so eine Mischung aus Disco und Italopop macht, ist gleich nach Die Toten Hosen aufgetreten, das musste natürlich in einer Katastrophe enden. Ich selbst war damals nicht dabei, ich war ja erst 15, aber ich habe es damals im Fernsehen gesehen. Außerdem habe ich mit vielen Leuten darüber gesprochen, das ganze fand ich irgendwie spannend. Mich interessieren irgendwie diese Deutsch-Tschechischen-Geschichten aus dem letzten Jahrhundert. Das ist schon irgendwie eine besondere Geschichte als die ostdeutschen und tschechoslowakischen Punks das erste mal aufeinander trafen. Sie hatten einen gemeinsamen Feind: die tschechoslowakische Volkspolizei. Zu diesem Konzert sind eben nicht nur Punks aus der Tschechoslowakei, sondern auch aus der DDR angereist. Lange habe ich darüber recherchiert, ich kenne einige Leute die dort waren.

Sie erzählen von jugendlichen Punks in Hrubý Jeseník, dem Altvatergebirge – gab es in tschechoslowakischen Provinzen tatsächlich eine Punk-Jugendbewegung?

Jaroslav Rudiš: Sicher. Mein Freund Jaromír Švejdík, mit dem ich die Graphik-Novelle Alois Nebel gemacht habe, lebte im Altvatergebirge und war Punk. Das ist eine sehr verlassene Gegend in Mitteleuropa und zugleich das Ende der Welt. Ich selbst bin in einer kleinen Stadt in Nord-Ost-Böhmen aufgewachsen, daher weiß ich – obgleich ich kein Punk war –, wie schwer es dort ist Punk zu sein. Insgesamt waren da maximal zwei bis fünf Punks und die hatten es natürlich schwerer als in einer Metropole. Dieses No Future war tatsächlich No Future. Alles war hoffnungslos in den späten 1980ern. Aber die Punk-Bewegung war im allgemeinen sehr wichtig, überhaupt der Rock 'n' Roll an sich. Ich bin mir sicher, dass die große Energie des Rock 'n' Rolls das sozialistische Regime ankratzte. Ich würde auch sagen, dass die samtene Revolution – auf englisch: The Velvet Revolution – eine klare Anspielung an The Velvet Underground ist. Unser erster Präsident Václav Havel war ein riesiger Fan von The Velvet Underground. Außerdem gab es auch eine tschechoslowakische Rock-Band namens The Plastic People of the Universe, die damals in den 1970ern im Knast landeten, nur weil sie Rock 'n' Roll spielten. Das war keine politische Band, die kommunistische Partei machte allerdings aus ihnen ein Politikum, da sie Rock 'n' Roll spielten und frei sein wollten. Rock 'n' Roll hat eine unglaubliche Kraft, darum geht es auch in meinem Buch. Meine Helden treffen sich 1987 in Pilsen und das was sie verbindet ist letztendlich die Musik. Sie versuchen dann auch in den Westen zu fliehen, das scheitert allerdings, so viel kann ich verraten – die drei Tage in Pilsen verändern komplett das Leben.

Unter anderem beschreiben sie, dass die Punks in Hrubý Jeseník, also im Altvatergebirge Gras rauchten, gab es in Tschechien Drogen bereits vor der Wende?

Jaroslav Rudiš: Ja, ein bisschen. Aber die wichtigste Droge aller Drogen ist und bleibt – das hat sich nicht verändert – das Bier! In Bier schwimmen wir hier in Böhmen, das ist das einzige Meer was wir hier haben. Was kiffen angeht – die Leute haben es selbst ein bisschen angebaut. Ich kenne das aus den frühen 1990ern, das war viel harmloser als die anderen Dinge die hier her kamen. Aber Drogen gab es in der Tschechoslowakei, man konnte es sich ja auch aus Medikamenten kochen, das war allerdings nicht so verbreitet.

Apropos Bier, welche Rolle spielt das Hopfengetränk in ihrem Leben?

Jaroslav Rudiš: Bier ist schon ein Teil unserer Kultur. Ich habe schon einige Zeiten in Kneipen verbracht, auch einiges darüber geschrieben. Es ist schon unglaublich was sich hier in den Kneipen abspielen kann. Unzählige Bands wurden in Tschechien in Kneipen gegründet. Es ist kein Zufall, dass das Helsinki in meinem Roman nicht die Stadt in Finnland, sondern eine Bar ist. Im allgemeinen hat Tschechien eine sehr lange Kneipenliteraturtradition. Man kommt nicht umhin Jaroslav Hašek zu erwähnen, der uns in „Der brave Soldat Schwejk“ beigebracht hat, dass es sich lohnt in Kneipen zu gehen, aufzupassen und das aufzuschreiben was passiert. Auch Bohumil Hrabals „Ich habe den englischen König bedient“, ebenso viele seiner Kurzgeschichten spielen in einem ähnlichen Milieu. Es heißt ja nicht, dass man sich in Kneipen nur über Sport und Frauen austauscht. Du gehst mit deinen Freunden einen Trinken und erzählst über etwas das dich traumatisiert – wie bei einer Beichte. Das was für die Finnen die Sauna ist, ist für uns die Kneipe. All die Geschichten die in „Vom Ende des Punks in Helsinki“ auftauchen sind wirklich passiert und haben einen realen Hintergrund.

Ihre Heldin, die sudetendeutsche Nancy, beschreibt, dass sie im Grunde besser Deutsch sprechen würde als ihre Lehrerin. Gab es damals, in der Tschechoslowakei einheitlichen Deutschunterricht?

Jaroslav Rudiš: Wir sind eine kleine Nation und unsere Sprache ist nicht weit verbreitet, daher braucht man noch eine Sprache dazu. Vor der Wende war natürlich Russisch Pflicht, allerdings war auch deutsch weit verbreitet. Beispielsweise weiß jeder wie man auf deutsch ein Bier bestellt. Fast jeder Tscheche kann etwa hundert deutsche Wörter sagen. Deutsch ist im allgemeinen sehr präsent in der tschechischen Sprache, es gibt viele Germanismen. Dennoch war es damals eine kleine Provokation die deutsche Sprache zu nutzen. Auch die deutsche Geschichte wurde immer ein bisschen verschwiegen, speziell die Geschichte der Sudetendeutschen. Man wusste nicht so viel über die Sudetendeutschen Gebiete. Deshalb ist es umso spannender diese lange vergrabenen Geschichten zu entdecken. Das habe ich in der Graphik-Novel „Alois Nebel“ gemacht und ein bisschen in „Grandhotel“, ebenso in „Vom Ende des Punks in Helsinki“. Mittlerweile ist es kein Tabu mehr.

Wo genau in Tschechien sind sie aufgewachsen?

Jaroslav Rudiš: Ich bin in Nord-Ost-Böhmen aufgewachsen, in der Nähe von Liberec, in Reichenberg; da spielt „Grandhotel“. Das ist 120 km von Prag entfernt, diese 120 km waren allerdings eine Weltreise. Der Weg nach Zittau war kürzer. Ich habe in Liberec gewohnt, dann in Prag, anschließend ein bisschen in Zürich und immer wieder in Berlin.

Welchen Stellenwert nahmen Jugendsubkulturen für sie selbst in der Zeit vor der Wende ein?

Jaroslav Rudiš: Das war eine Zuflucht, genauso wie für Nancy, die Heldin meines Romans. Für sie war Punk nicht nur Revolte, sondern ebenso Flucht vor der Gesellschaft. An Musik überhaupt heran zu kommen war auf dem Lande wesentlich schwieriger als in Prag, zu dieser Zeit. Man war glücklich, sofern man The Cure oder Sisters of Mercy auf Kassette hatte, obwohl es sich um die fünfte Kopie handelte. Die Qualität war nicht die beste, aber die Energie kam herüber. Subkultur hat auch bedeutet, dass es etwas anderes gibt als die offizielle Propaganda, das war die kleine Freiheit.

Wie wurde eigentlich die Punk-Jugendbewegung in Tschechien, also im Ostblock, von den Akteuren selbst, politisch verortet?

Jaroslav Rudiš: Das ist eine gute Frage, in wie weit die Akteure politisch waren oder einfach nur Musik machen wollten. Definitiv waren sie gegen das Establishment. Die Bands hätten vermutlich auch heute eine oppositionelle Haltung gegenüber dem Establishment. Auch der Protagonist Ole und seine Freunde aus dem Helsinki sind im anderen System mehr oder weniger gegen das Establishment. Sie sind keine Gewinner, keine Bankberater oder Anwälte geworden. Eine Band die auch in dem Buch vorkommt ist Hrdinové nové fronty, HNF – die vielleicht wichtigste tschechische Band der 1980er Jahre; die waren schon antimilitaristisch, also politisch und definitiv gegen das Establishment. Ebenso ging es ihnen um Freiheit, getreu dem Motto: Lasst uns einfach die Musik machen, die wir machen wollen. Bei der Romanheldin Nancy ist es beispielsweise eine kleine Provokation, wenn sie sich zum Deutschtum bekennt und Deutsch als ihre Muttersprache angibt. Mein Opa war ein überzeugter Kommunist. Er hat immer gesagt: „Im Westen sind die bösen Deutschen und im Osten die Guten!“ Sich der Vergangenheit zu stellen und das Thema Sudetendeutsche aufzuarbeiten ist in Tschechien ein eher linkes Thema. Anders in Deutschland. Sofern man etwas über Sudetendeutsche macht, kann man schnell falsche Freunde bekommen.

Welche Band hat ihre Jugendzeit am meisten geprägt?

Jaroslav Rudiš: Also von den Punkbands war das definitiv HNF, aber ich habe mehr Indie gehört: The Cure, Joy Division, The Smiths, auch ein bisschen Gothicrock wie Sisters of Mercy. Doch auch Die Toten Hosen waren für meine Generation eine besondere Band, da sie es – damals – einfach gewagt haben in Pilsen aufzutreten. Ebenso haben Einstürzende Neubauten in Tschechien einen Kultstatus, obwohl sie bei dem besagten Festival in Pilsen gar nicht mehr auftreten konnten, da es Querelen gab. Musik und Rock 'n' Roll sind mir sehr wichtig. Leider kann ich kein Instrument spielen, aber beim Schreiben versuche ich einen Rhythmus zu erzeugen. Das zeichnet meines Erachtens gute Literatur aus. Ich habe selber ein Bandprojekt, die Kafka-Band. Mein Freund Jaromír 99 hat zusammen mit David Zane Mairowitz Kafkas „Das Schloss“ als Graphik-Novell adaptiert. Gemeinsam haben wir jetzt so eine art Soundtrack zu Kafks „Das Schloss“ gemacht. Es gab auch ein paar Konzerte in Deutschland, vielleicht machen wir im Herbst noch weitere. Ich lese und rezitiere Kafka auf deutsch. Entstanden ist das ganze letztes Jahr auf einer Vernissage im Literaturhaus Stuttgart, als die eine große Ausstellung zu Kafka Comics gemacht haben.

Haben sie von Die Toten Hosen einen Lieblingssong?

Jaroslav Rudiš: „Disco in Moskau“ mag ich sehr gerne, da sie ein bisschen das vorweg nahmen, was dann wirklich passiert ist.

Da sie eben ihre Band und das Zitieren aus „Das Schloss“ erwähnten, wie stand es eigentlich um Franz Kafka in der Tschechoslowakei?

Jaroslav Rudiš: Die ganze deutsche Prager Literatur wurde mehr oder weniger verschwiegen. Sie wurde zwar in den 1960ern, in den Zeiten des Prager Frühlings wiederentdeckt, dann allerdings wieder vergessen – das war vom Staat so gewollt. Erst mit der Wende wurde die deutsche Prager Literatur wiederentdeckt.

Wie steht es Heutzutage mit Jugendsubkulturen in Tschechien, passiert da etwas?

Jaroslav Rudiš: Subkulturen sind heute globalisiert. Ob man nun in Prag, Bratislava, Warschau, Berlin oder Wien in die Clubs geht, man bemerkt, das die Bands alle ähnlich klingen. Auch die Städte haben sich angeglichen. Überall die selben Läden. Leider schmeckt das Bier auch überall gleich. Das Thema Gentrifizierung wird ja auch in meinen Roman thematisiert. Aber ich denke, auch die Musikszene hat sich gentrifiziert. Mittlerweile gibt es viele tschechische Bands die auf englisch singen. In Prag gibt es eine große Hip-Hop-, Hardcore-, Punk- und Electro-Szene. Es gibt kaum Unterschiede zu anderen Städten. Viele kucken nach Berlin, da es eine Stadt ist die alle in Europa bewegt und fasziniert.

Erkennen sie eigentlich, als jemand der in der sozialistischen Tschechoslowakei aufgewachsen ist, noch Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland?

Jaroslav Rudiš: Immer weniger natürlich. Aber im Osten Deutschlands muss ich niemanden erklären wo ich herkomme. Wenn ich sage, dass ich aus Liberec komme und im Riesengebirge aufgewachsen bin, muss ich niemanden erklären wo das ist, alle wissen Bescheid. Das gilt allerdings auch für viele Tschechen, zumindest in meiner Generation. Die kennen Ostdeutschland besser als Westdeutschland. Mein Blick auf Deutschland hatte sehr lange Zeit ausschließlich Ostdeutschland im Fokus. Das war wesentlich näher, außerdem war es damals unser Urlaubsland. Das ist der Unterschied: Die Wahrnehmung von Mittelosteuropa. Ich denke auch, dass man in Ostdeutschland viel mehr über Osteuropa weiß als in Westdeutschland. Dort muss man den Leuten nicht all zu viel erklären über die Ukraine und Russland, finde ich.

Wie ist eigentlich die Stimmung in Tschechien bzgl. der russischen Annexion der Krim?

Jaroslav Rudiš: Ich würde sagen das wir unsere Erfahrungen mit den Russen gemacht haben. Ob nun 1945 oder 1968. Man hat schon ein bisschen angst und ist besorgt. Wir haben auch sehr lange gedacht, dass alles mit der Wende gut wird und haben dabei vergessen, dass das alles jederzeit kippen kann. Viele sehen das mit Besorgnis was auf der Krim passiert, wegen der eigenen Erfahrung in der Geschichte.

1989, zur samtenen Revolution waren sie 17 Jahre alt – wie haben sie damals die Wende erlebt?

Jaroslav Rudiš: Das war ein unglaubliches Rock 'n' Roll Konzert. Das hatte eine unglaubliche Energie. Allerdings gab es bald eine Katerstimmung. Es kamen ernstere Probleme auf die man bekämpfen musste. Probleme wie man sie auch im Westen kennt: politische Korruption und so etwas. Man erkannte, dass man im Grunde auch in diesem System für die politische Freiheit kämpfen muss.

In Ostdeutschland gibt es seit einigen Jahren ein DDR-Revival mit Ostalgie-Partys und usw. – gibt es auch in Tschechien ähnliche Vorkommnisse?

Jaroslav Rudiš: Ja, eine gewisse Ostalgiewelle hatten wir hier auch. Einerseits habe ich nichts dagegen. Die Leute waren in diesem System ebenso verliebt wie im anderen. Manche waren vielleicht einigermaßen glücklich. Andererseits wird dabei einiges vergessen. Die Leute beginnen zu romantisieren. Deshalb war es mir wichtig, dass in „Vom Ende des Punks in Helsinki“ die Erinnerungen an die 1980er Jahre zurück kommen. Sowohl in Ostdeutschland als auch in der Tschechoslowakei. Das wird knallhart und schonungslos mit einer gewissen Brutalität dargestellt – es wird absolut nichts idealisiert. Die erinnern sich und sehen wie knallhart das war. Das war mir wichtig. Ich bin in einer Welt aufgewachsen in der die sowjetische Armee bei uns stationiert war. Das war ein schräges, abgefahrenes Gefühl, wenn ich mit dem Dorfbus zum Gymnasium an der Kaserne vorbei gefahren bin.

Innerhalb ihres Romans behandeln sie auch das Thema Gentrifizierung. Beispielsweise wird die Helsinki Bar des Protagonisten Ole geschlossen und anschließend mit Bio-Konzept in einer anderen Räumlichkeit wiedereröffnet – was halten sie im allgemeinen von dieser Entwicklung?

Jaroslav Rudiš: Das ist etwas das Hamburg, Berlin, Leipzig, Warschau und Prag gemeinsam haben. Ganze Stadtteile verlieren ihre alten Geschichten und ihre Authentizität. Es ist einfach eine Entwicklung die stattfindet. Zwar sehe ich das alles nicht ausschließlich kritisch, doch einiges geht verloren und die Städte werden sich überall ähnlicher. Diese Bio- und Ökokultur ist nicht für alle, sondern nur für Leute die Kohle haben. Klar, viele osteuropäische Städte glichen Ruinen. Jetzt wurden sie saniert, allerdings zu einem hohen Preis. Das Stadtviertel in Prag, in dem ich zehn Jahre lang gewohnt habe, hat sich komplett verändert, es ist nicht mehr wieder zu erkennen. Mit der Sanierung wurde allerdings auch die Bevölkerung ausgetauscht. Aber diese Entwicklung die da momentan stattfindet interessiert mich. In fast allen größeren mitteleuropäischen Städten werden Tunnel gebaut. Millionen Tonnen von Beton und Gelder verschwinden in diesen Gruben und kein Mensch weiß wie lange sie da noch bauen. In Prag wird seit Jahren ein völlig überteuerter Autobahntunnel gebaut und kein Mensch weiß wie lange die da schon unterwegs sind und wie lange das noch dauert – oder was die da überhaupt die ganze Zeit machen. Wer weiß, vielleicht brechen diese ganzen Tunnelsysteme eines Tages zusammen und die Städte gehen verloren.

Internationale Aufmerksamkeit erlangte der Film Alois Nebel – der auf einer Graphik Novelle basiert, die sie zusammen mit Jaromír Švejdík entwickelt haben – wie kam es damals zu der Idee?

Jaroslav Rudiš: Im Prinzip handelt es sich um eine mitteleuropäische Familiengeschichte wie sie viele kennen. Eine Geschichte über einen Großvater in der Zeit des zweiten Weltkrieges. Mein Großvater war ein Eisenbahner und hat die Weichen für die Züge im Grenzgebiet gestellt. Man muss sich nur vorstellen was alles in diesen Zügen transportiert wurde. Und dann dachte ich mir, ich schreibe etwas über einen einfachen Eisenbahner. Und irgendwann erzählte ich Jaromir von einer Geschichte, in der ein Mann verrückt wird, weil er plötzlich ganz klar sieht, wer in diesen Zügen abtransportiert wird. Und Jaromir meinte dann, dass er das spannend fände und sich vorstellen könnte, darüber eine Graphik-Novelle zu machen. Bis jetzt können wir uns noch nicht so recht erklären, weshalb das so ein Erfolg geworden ist.

Schienenfahrzeuge, so könnte man meinen, sind ein immer wiederkehrendes Motiv in ihren Erzählungen – woher rührt ihre Faszination gegenüber der Eisenbahn?

Jaroslav Rudiš: Die Geschichte Mitteleuropas ist unmittelbar mit der Eisenbahn verbunden. Das finde ich faszinierend. Ich bin ein leidenschaftlicher Bahnfahrer. Ich sammele selbst wie Alois Nebel alte Fahrpläne und finde es spannend wie sich darin die Geschichte Mitteleuropas widerspiegelt. Ich habe ja Geschichte studiert. Meine Romane spielen zwar oft in der Gegenwart, aber die Vergangenheit – also die Geschichte – kommt immer wieder vor.

Was steht bei ihnen als nächstes an? Arbeiten sie derzeit bereits an einem neuen Roman?

Jaroslav Rudiš: Sehr langsam. Letztes Jahr ist in Tschechien eine Novelle erschienen, die in den 1989ern spielt. Ansonsten arbeite ich mit Jaromir an einer neuen Comic-Geschichte und im Herbst kommt ein Radiofeature über das Altvatergebirge, dass ich zusammen mit Martin Becker gemacht habe.

Danke für das Gespräch

Jaroslav Rudiš: Gerne.

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Der tschechische Autor Jaroslav Rudiš, 41, ist in Nord-Ost-Böhmen, in der Nähe von Liberec aufgewachsen und lebte zwischenzeitlich in Prag und Berlin. Hierzulande ist er vor allem für die Graphik-Novelle Alois Nebel bekannt, die er gemeinsam mit dem Zeichner Jaromír Švejdík entwickelt hat. Mit „Vom Ende des Punks in Helsinki“ ist nun sein vierter Roman in deutscher Sprache beim Luchterhand Verlag erschienen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Raffael Siegert

Geboren 1982, verheiratet. Studium der Kulturanthropologie und Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Göttingen. Seit 2011 journalistisch tätig.

Raffael Siegert

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