Über das ideologische Wesen der AKP

Im Gespräch Der Politologe Dr. Can Zeyrek spricht über die Untergrabung des Rechtsstaates in der Türkei und dessen Auswirkungen

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Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan
Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan

Foto: Sascha Schuermann/ Getty Images

Anfangs waren europäische Politiker von Erdoğans Politik überzeugt, das hat sich verändert, spätestens seit der Sperre von Twitter – wie lässt sich die anfängliche Euphorie erklären?

Can Zeyrek: Die anfängliche „Euphorie“ der europäischen Politiker könnte man dadurch begründen, dass Erdoğan gleich zu Beginn seiner ersten Amtsperiode Reformen versprach, die eine weitergehende europäische Integration der Türkei ermöglichen sollten. Das war notwendig, um die eigene Legitimität als neuer Premierminister zu festigen und ein Vertrauensverhältnis zur EU aufzubauen, was ihm binnen relativ kurzer Zeit auch gelang. Aufgrund erheblicher Defizite hinsichtlich der rechtsstaatlichen Entwicklung und dem autoritären Führungsstil ist die demokratische Legitimität der AKP-Regierung äußerst fragwürdig. Daher ist die Twitter-Sperre als die Spitze des Eisbergs zu betrachten. Das Vertrauensverhältnis zwischen der Türkei und der EU ist gestörter denn je.

Was stört sie eigentlich daran, dass die AKP in Europa als islamisch-konservativ bezeichnet wird?

Can Zeyrek: Allen voran denke ich, dass die AKP als politische Partei, keineswegs als ein Vertreter des Islam als Religion gesehen werden kann und darf. Dass sie ihren Ursprung in der fundamentalistischen Bewegung hat ist nun wirklich kein Geheimnis. Jedoch ist sich Erdoğan dessen durchaus bewusst, dass das Wort „fundamentalistisch“ negativ konnotiert ist. Daher hat er bereits zu Beginn seiner Amtszeit im Jahr 2003 in seinen Reden wiederholt darauf bestanden, dass seine Partei eine konservativ-demokratische, was auch immer man darunter verstehen mag, sei und mit der CDU hierzulande vergleichbar wäre. Das möchte ich jedoch stark bezweifeln. Der Rechtsstaat kann unter einem „konservativ-demokratischen“ Deckmantel nicht ausgehöhlt werden. Das ideologische Wesen der straff geführten AKP kann lediglich als moderner Neofundamentalismus bezeichnet werden.

Seit den Gezi-Protesten, die sich am Samstag, dem 31.05. gejährt haben, wird auch in Europa Erdoğans Führungsstil als autoritär wahrgenommen – welche Agenda verfolgt ihres Erachtens Erdoğan?

Can Zeyrek: Das ist offensichtlich richtig. Man kann durchaus von einem autoritären Führungsstil und noch mehr reden. Was für eine Agenda Erdoğan in dieser Hinsicht verfolgt, kann ich nicht sagen. Allerdings könnte ich an dieser Stelle sehr wohl einige Bedenken zum Ausdruck bringen. Nämlich die derzeitige Diskussion über die Einführung des Präsidialsystems. Diese Diskussion bestimmte vor den Gezi-Protesten die politische Agenda. Während der Proteste und der Zeit bis zu den Kommunalwahlen im März hielten sich die Parteifunktionäre bei diesem brisanten Thema aus wahltaktischen Gründen zurück. Offensichtlich nutzt Erdoğan nun kurz vor den Präsidentschaftswahlen im August seinen Wahlerfolg vom März als Gelegenheit, um dieses Thema erneut aufzugreifen. Eine mögliche Kandidatur Erdoğans zum Präsidialamt und ein in diesem Zusammenhang stehender Übergang zum Präsidialsystem würde eine weitere Machtkonzentration in der Person Erdoğans bedeuten, über dessen Folgen ich mir im Moment keine Gedanken machen möchte.

Geht die Entwicklung hin zu einem totalitären Staat?

Can Zeyrek: Ein totalitärer Staat geht u.a. mit einer totalen Kontrolle der Gesellschaft einher, was auf die Türkei nicht zutrifft. Jedoch ist durchaus zu erkennen, dass Erdoğan seinen autoritären Führungsstil weiter ausbaut und staatliche Institutionen dadurch mehr und mehr unter seinen Einfluss geraten. Verbindet man dies mit der Tatsache, dass der Rechtsstaat fortlaufend untergraben und eine vermehrte Machtkonzentration angestrebt wird, so lässt sich durchaus sagen, dass die reale Möglichkeit besteht, in absehbarer Zukunft von einem autoritären Regime zu sprechen.

Wie unlängst die Kommunalwahlen zeigten, hat die AKP immer noch eine hohe Wählerschaft – wie lässt sich das erklären?

Can Zeyrek: Diesbezüglich möchte ich nur kurz zwei Punkte ansprechen, zumal diese Frage einer tiefergehenden soziologischen Analyse bedarf. Der erste Punkt ist, dass Erdoğans Führungsstil nicht nur als autoritär zu kennzeichnen ist, sondern gleichzeitig an die religiöse bzw. konfessionelle Überzeugung der Massenwählerschaft appelliert, um diese im Endeffekt mobilisieren zu können, was ihm auch recht gut gelingt. Der zweite Punkt ist, dass die AKP-Regierung als Nutznießer der strukturellen Reformen der Vorgängerregierung unter dem Sozialdemokraten Bülent Ecevit tatsächlich wirtschaftliche Teilerfolge erzielen konnte, welche ebenso von seiner Wählerschaft stets wahrgenommen wird. Ob diese nicht unumstrittenen Teilerfolge weiterhin anhalten, lässt sich natürlich nicht vorhersagen. Nicht zu vergessen, dass 55% die AKP nicht gewählt haben.

Der Einfluss der Religion auf die Politik verstärkt sich in Ländern, in denen überwiegend Muslime leben – wie lässt sich diese Entwicklung erklären?

Can Zeyrek: Das lässt sich dadurch erklären, dass in diesen Ländern die Trennlinie zwischen Staat und Religion immer mehr verwischt wird. Der Grund geht auf eine Sinnkrise zurück, in der soziopolitische, wirtschaftliche und kulturelle Belange ausgedrückt werden und in der die Überzeugung vorherrscht, dass der moderne säkulare Nationalstaat keine Alternativen für diese Belange bietet. Der politische Islam soll hierfür die geeigneten Antworten liefern. Dieser Umstand wird von „politischen Unternehmern“ bestens ausgenutzt.

Mittlerweile kann man von einer Spaltung der türkischen Gesellschaft sprechen. Die Säkularen auf der einen Seite, die Fundamentalisten auf der anderen Seite. Doch welchen Stellenwert haben diejenigen, die sich keiner Seite zugehörig fühlen?

Can Zeyrek: Sie sagen es selbst. Die türkische Gesellschaft ist gespalten. In solch einer Situation sind diejenigen, die sich weder dem einen noch dem anderen Lager zugehörig fühlen schwer auszumachen. Selbstverständlich gibt es – medienunwirksame – Stimmen, die sich für eine weniger erhitzte, konsensorientierte Politik aussprechen. Allerdings unterscheiden sich die politischen Auffassungen der beiden Lager so dermaßen, dass diese Stimmen entweder untergehen oder nur sehr wenig Beachtung finden.

In der Türkei ist der Gründer der modernen Türkei, Mustafa Kemal Atatürk immer noch omnipräsent. Er führte den Säkularismus ein und steht somit im Kontrast zu Erdoğan – Wie stehen die Parteimitglieder der AKP zum Staatsgründer, gibt es dazu Äußerungen?

Can Zeyrek: Nicht gut. Ich habe bereits erklärt, dass säkulare Trennlinien von „politischen Unternehmern“ verwischt werden. In der Türkei nunmehr seit etwa 12 Jahren. Erdoğan selbst hatte in mehreren seiner Reden offenbart, dass er kein Säkularer sei und dass sich der Laizismus mit dem Islam nicht vereinbaren lasse. Abgesehen von vielleicht einigen Karrieristen innerhalb der AKP, glaube ich, dass das Vermächtnis Atatürks wenig Respekt erfährt. Offen ausgesprochen wird das nicht.

Unlängst wurde anonym ein Mitschnitt veröffentlicht, in dem unter anderem der türkische Außenminister, ebenso der Geheimdienstchef zu hören sind, in dem quasi ein Vorwand für einen Krieg mit Syrien diskutiert wird – was könnte eigentlich der türkischen Regierung an einem Krieg mit Syrien gelegen kommen?

Can Zeyrek: In erster Linie wäre mit einem Krieg, sofern er denn „erfolgreich“ geführt würde, die Position Erdoğans als starker Premier noch weiter verstärkt. Er würde als Mann gefeiert, der dem „Diktator von Damaskus“ die Stirn bietet, was seine „demokratische Legitimität“ als Premierminister und potentieller Präsidentschaftskandidat untermauern würde. Ob dieses Szenario durchführbar ist? Auch das möchte sehr stark bezweifeln.

Vielen Dank für das Gespräch.

Can Zeyrek: Gerne.


Der Politologe Dr. Can Zeyrek lehrte an der Philipps-Universität Marburg und Universität Izmir/Türkei. Vor kurzem erschien der von ihm herausgegebene Sammelband Laboratory Western Balkans – Vol. 1, der sich vor allem mit Transformations- und Demokratisierungsprozessen auf dem westlichen Balkan auseinandersetzt. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt ebenso die Türkei.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Raffael Siegert

Geboren 1982, verheiratet. Studium der Kulturanthropologie und Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Göttingen. Seit 2011 journalistisch tätig.

Raffael Siegert

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