Weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit arbeitet derzeit eine Arbeitsgruppe mit Mitgliedern verschiedener Bundesministerien an einem Projekt, das einen der Pfeiler des Arbeits- und Sozialrechts zum Einsturz bringen könnte. Es geht um ein Gesetz zur „Tarifeinheit“, das große Auswirkungen auf das Streikrecht hätte. SPD-Arbeitsministerin Andrea Nahles hatte kürzlich einen Entwurf für 2014 angekündigt. Ein Anlass für das geplante Gesetz ist der Streik der Lufthansa-Piloten vom April, der drei Tage lang den Luftverkehr in Deutschland weitgehend zum Erliegen brachte. 3.800 Flüge wurden gestrichen, 425.000 Menschen waren davon betroffen. Kritiker warfen der Pilotenvereinigung Cockpit vor, die Allgemeinheit für ihre Partikularinteressen in Geiselhaft zu nehmen. Allerdings hatten Union und SPD bereits im Koalitionsvertrag vereinbart, das Thema auf die Agenda zu nehmen.
Ausgerechnet Nahles
Die Idee: Künftig soll nur noch die mitgliederstärkste Gewerkschaft in einem Betrieb die Tarifverträge verhandeln. Konkurrierende Organisationen unterlägen dann der Friedenspflicht und dürften zur Durchsetzung ihrer Forderungen nicht mehr streiken. Spartengewerkschaften könnten dann keine Sonderkonditionen für Berufsgruppen wie Ärzte oder Lokomotivführer rausschlagen; am Ende soll die breite Masse profitieren. Doch dieses Versprechen ist gefährlich und falsch. Gefährlich, weil die Tarifeinheit das Streikrecht einschränkt, und falsch, weil durch die Konkurrenz zwischen den Gewerkschaften letztlich alle Arbeitnehmer gewinnen. Durch die geplante Tarifeinheit wird das Streikrecht eingeschränkt und somit auch die im Grundgesetz verankerte Koalitionsfreiheit. Man darf daher gespannt sein, wie ein verfassungsgemäßes Gesetz aussehen soll. Zudem entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet eine SPD-Ministerin eine der wichtigsten Errungenschaften der Arbeiterbewegung infrage stellt.
Der Vorstoß basiert auf einer gemeinsamen Initiative der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB). Nachdem das Bundesarbeitsgericht im Juni 2010 entschieden hatte, dass konkurrierende Tarifverträge in einem Unternehmen prinzipiell zulässig sind, forderten die Verbände ein Gesetz zur Tarifeinheit. In einer gemeinsamen Erklärung hieß es: „Die Interessen der Gesamtbelegschaften dürfen nicht von Einzelinteressen verdrängt werden. Tarif- und Betriebspartnerschaft kann nur funktionieren, wenn sie von dem gemeinsamen Willen zur Regelung der Arbeitsbedingungen getragen ist.“
Gegen diesen Vorstoß protestierten nicht nur die Sparten- und Berufsgewerkschaften, die damit drohten, vor dem Bundesverfassungsgericht und vor dem Europäischen Gerichtshof zu klagen. Auch innerhalb des DGB regte sich Widerstand. Auch äußerten viele Juristen Zweifel, dass ein verfassungskonformes Gesetz zur Tarifeinheit möglich ist. Im Juni 2011 änderte der DGB schließlich seine Position. Man sehe „unter den gegebenen Bedingungen keine Möglichkeit mehr“, ein Gesetz zur Tarifeinheit durchzusetzen. Auch die Bundesregierung legte das Vorhaben, zum Verdruss der Arbeitgeber, vorerst auf Eis.
Das war eine gute Nachricht für alle Arbeitnehmer. Es ist nämlich nicht richtig, dass die Spartengewerkschaften besondere Privilegien auf Kosten der übrigen Belegschaft durchsetzen können. Diese Behauptung entpuppt sich bei näherer Betrachtung als falsch, wie verschiedene Beispiele zeigen. Die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) erstreikte im Winter 2007/2008 eine Gehaltserhöhung von rund elf Prozent bei der Deutschen Bahn AG. Zuvor hatte die zum DGB gehörende Eisenbahngewerkschaft Transnet (heute: EVG) für die anderen Bahn-Beschäftigten ein Plus von 4,5 Prozent vereinbart – was nicht einmal die Reallohnverluste kompensierte. Daraufhin gerieten Konzern und Transnet unter Druck, den Abschluss nachzubessern; die GDL war also Vorreiterin für eine bessere Entlohnung aller Mitarbeiter. Ähnlich sah es bei der Lufthansa aus, wo sich nach den Erfolgen der Unabhängigen Flugbegleiter Organisation auch Verdi genötigt sah, angemessene Lohnerhöhungen für diese Berufsgruppe auszuhandeln, um nicht noch mehr Mitglieder zu verlieren.
Ohnehin ist das Erstarken der Spartengewerkschaften eine Folge der Deregulierungspolitik in den 90er Jahren. Organisationen wie der Marburger Bund oder die GDL agierten bis dahin eher als Standesvereinigungen ohne eigene Tarifmacht. Die Lokführer hatten bis zur Umwandlung der Bundesbahn in eine staatseigene Aktiengesellschaft als Beamte ohnehin kein Streikrecht.
„Unverschämte Forderungen“
Den mit der Privatisierung einhergehenden „Sparmaßnahmen“ auf Kosten der Beschäftigten setzten die Großgewerkschaften wenig entgegen. Sie nutzten nicht die Durchsetzungsmacht von Berufsgruppen wie Piloten, Ärzten, Fluglotsen oder Lokführern, um für alle Beschäftigten Verbesserungen durchzusetzen. Stattdessen wurden diesen Arbeitnehmern in einigen Fällen sogar zusätzliche Einbußen zugemutet. Daraufhin lösten sich bestehende Spartenorganisationen aus den Tarifgemeinschaften mit den DGB-Gewerkschaften und forderten eigene Tarifverträge. Es war die Quittung für eine Tarifpolitik, die an den Interessen der Unternehmen ausgerichtet war.
Auch der Hinweis auf die überdurchschnittlich hohen Vergütungen für Berufsgruppen wie Ärzte und Piloten taugt kaum als Beleg für die Notwendigkeit der Tarifeinheit. Dass der Gehaltsabstand zwischen diesen Gruppen und anderen Beschäftigten in den jeweiligen Unternehmen in den vergangenen Jahren größer geworden ist, hat weniger mit „unverschämten Forderungen“ zu tun als mit der Lohnzurückhaltung der anderen Gewerkschaften.
Immerhin: Der DGB fasste vor wenigen Wochen einen neuen Beschluss. Es ist zwar kein eindeutiges Nein zur Tarifeinheit. Die Gewerkschaft lehnt aber eine gesetzliche Regelung ab, sofern dadurch Tarifautonomie oder Streikrecht eingeschränkt wird. Jetzt muss Andrea Nahles daraus nur noch die richtigen Schlüsse ziehen.
Rainer Balcerowiak ist Journalist und berichtet seit Jahren über Gewerkschaftsthemen
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.