Macht Statistik zum Pflichtfach!

Corona Die Pandemie zeigt, dass wir „die Zahlen“ lesen lernen müssen – überall Kurven, Modelle, Indikatoren. Und die Frage: Was sagen sie uns?
Ausgabe 42/2021
Macht Statistik zum Pflichtfach!

Illustration: Animationseries2000 für der Freitag

Macht Statistik zum Pflichtfach!

Eins hat die Pandemie gelehrt: Wir leben in Datenwelten. Wie wir seit anderthalb Jahren auf „die Zahlen“ starren, die privateste Pläne so stark beeinflussten, illustriert: Kein Lebensbereich bleibt heutzutage von Prozessen der Quantifizierung und Datafizierung ausgenommen. Anhand von Statistiken werden täglich gesellschaftliche Zustände, soziale Probleme und Trends dargestellt. Politik und Regierungen, Medien und öffentliche Kritik stützen sich gleichermaßen auf statistische Daten und Indikatoren. In westlichen Gesellschaften wächst einerseits die Nachfrage nach solchen datenbasierten Repräsentationen. Andererseits geraten deren Validität und vermeintlich illegitime Motivlagen von Datenproduzierenden in die Kritik. Daten werden vergöttert. Daten werden diskreditiert. Wer sie produziert, ist manchmal die Autorität schlechthin – und manchmal der Manipulation verdächtig.

In modernen, komplexen Gesellschaften sind Daten unverzichtbar. Nicht mehr nur für die Regierung, sondern gerade auch für gesellschaftliche Kritik und engagierte Öffentlichkeiten. Daten sind aber auch die ökonomische Grundlage für global agierende Internetunternehmen, die auf ihrer Basis Konsumverhalten analysieren und profitabel zu beeinflussen versuchen. Man kann von einer neuen politischen Ökonomie der Quantifizierung und Datafizierung sprechen. „Big Data“ ist hier das Schlagwort, das für einige geradezu unbeschränkte Möglichkeiten beschreibt, technische, ökonomische und soziale Probleme zu lösen sowie ungeahnte Potenziale freizusetzen. Für andere klingt es schlicht nach „Big Brother“ und neuen Formen sozialer und ökonomischer Ungleichheit.

Im Gegensatz zum lateinischen Wortsinn – Datum: das Gegebene – sind Daten eben nicht einfach „da“. Sie müssen erst produziert werden. Das aber kann in verschiedener Weise erfolgen. Das Aufkommen sozialer Bewegungen wie „Open Data“, „Citizen Science“ oder „Statactivism“ zeigt, dass eine Pluralität konfligierender Datenwelten existiert. Gesellschaftliche Daten sind nicht objektive Abbildungen, keine rein technischen Messungen sozialer Sachverhalte. Denn die Messung sozialer Sachverhalte erfordert zunächst soziale Konventionen, wie gemessen und wie Indikatoren entwickelt und implementiert werden sollen. Erst so können Indikatoren gesellschaftlich akzeptiert und etabliert werden, um politischer Steuerung und sozialem Handeln im Sinne kollektiver Ziele und des Gemeinwohls zu dienen.

Das klingt komplex und ist es auch. Folgerichtig kommen in jüngeren Jahren die „Data Sciences“ als Studienfach auf, die diese Zusammenhänge und Prozesse erklären und erforschen. Die Statistik ist hierbei der Kernbereich. Was aber fehlt, ist eine fächerübergreifende und gesamtgesellschaftliche Verankerung von „data literacy“ – also der Kompetenz, Daten zu analysieren, zu deuten sowie ihre Qualität zu beurteilen. Sehr plastisch zeigte sich das im Umgang mit Covid, als die Öffentlichkeit je nach Lage und Phase mit sich schnell verändernden Indikatoren, Prognosen und Handlungsempfehlungen konfrontiert war.

Die Pluralität der Datenwelten basiert auf unterschiedlichen Konventionen für Datenqualität und Datenproduktion – sowie auf einer Vielheit von Handlungszwecken und Vorstellungen über das Gemeinwohl. Die Datenwelten von Big Data, der Zivilgesellschaft, der Marktforschung, der akademischen Welt oder der amtlichen Statistik stehen deshalb in einem Spannungsverhältnis. Mal erfolgt wechselseitige Kritik, mal bilden sich aber auch Allianzen. Erst die Anerkennung dieser Pluralität von Datenwelten lässt verstehen, warum heute Daten selbst Gegenstand von Kritik sind. Über die Methoden, Logiken und Institutionen, die in die Herstellung von Datenwelten involviert sind, lässt sich streiten. Wer aber nur „die reinen Zahlen“ zum Gegenstand der Kritik macht, folgt einem naiven Datenverständnis und verfehlt die eigentlich relevante Ebene, auf der Daten und ihre Produktion zu kritisieren sind.

Rainer Diaz-Bone ist Professor für Soziologie an der Universität Luzern

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