Der Turm steht schief

Was bei PISA nicht getestet wurde Die Fähigkeit, Fakten von Vorurteilen, Naturgesetze von Konventionen, Gemeinplätze von treffenden Begriffen zu unterscheiden ...

Die Fähigkeit, Fakten von Vorurteilen, Naturgesetze von Konventionen, Gemeinplätze von treffenden Begriffen zu unterscheiden

Wenn die PISA-Studie der OECD etwas geschafft hat, dann bestimmt dies: Sie hat die Bildungspolitik, eine sonst recht unbeliebte, als dröge und undankbar verschriehene Angelegenheit, in den Rang einer neuen Weltmeisterschaftsdisziplin katapultiert - zumindest in der Wahrnehmung der deutschen Öffentlichkeit, denn aus anderen Ländern ist von vergleichbarer Aufregung nichts zu vernehmen. Selbstverständlich müssten "wir" an die Spitze beim nächsten PISA-Rennen, da sind sich Politik, Wirtschaft und Medien einig. Zweifel daran, ob das Vorhaben dauerhaft ein vergleichbares Maß an libidinöser und/oder aggressiver Energie mobilisieren wird wie das kampflustige Ausschwärmen von Männerhorden über Rasenflächen, haben vorläufig keine Chance - Fragen nach Sinn und Zweck der ganzen Veranstaltung auch nicht. Der Weg zur Schulreform scheint jetzt ganz klar: regelmäßige Leistungsmessung und permanenter Wettbewerb.

Schon die Frage, was denn da genau gemessen wird, kommt niemandem in den Sinn. Der Test misst zunächst Leistungen der Schüler, nicht der Schulen oder der Schulpolitik. Gleichzeitig werden indirekt auch Differenzen der kulturellen Traditionen, des Zeitgeistes, des Wohlstandes und der Sozialstruktur abgebildet. Und selbst angenommen, wir könnten das relevante Signal herausfiltern und durch Reformmaßnahmen den Beitrag der Schulen zum Testerfolg sogar steigern: Taugte die so gewonnene Größe auch als Indikator für eine gelungene Bildungspolitik? Anders formuliert: Werden wir unserer Verantwortung für unsere Nachkommen gerecht geworden sein, wenn wir irgendwann in der Zukunft den Platz 1 in der PISA-Rangliste einnehmen werden? Wird das unseren Kindern helfen, die Herausforderungen zu bewältigen, die sich ihnen stellen werden, als Individuen, als Mitgliedern "ihrer Sozialverbände" und schließlich der Menschheit?

Eine Lektüre der PISA-Aufgaben vermag Zweifel daran nicht nur zu verstärken, sondern in wachsende Irritation zu überführen. Sicher ist dort eine Leistung gefragt, doch erfordert diese eine merkwürdig phantasieverlassene, konformistisch gebrochene Form von geistigem Vermögen. Ein Beispiel aus den Mathematikaufgaben (Fragen 5 und 8): Eine grafische Darstellung zeigt die Geschwindigkeit eines Rennwagens abhängig vom Weg. Gefragt ist unter anderem, wo der längste geradlinige Abschnitt der Strecke beginnt (5) und welche aus einer Reihe von Karten die Strecke darstellt, die der Rennwagen befuhr (8). Angeblich kommt hier jeweils nur eine einzige Antwort in Frage.

Es gibt jedoch weder Naturgesetze noch technologische oder physiologische Grenzen, die alle Alternativen ausschließen. Das leisten nur bestimmte Zusatzannahmen. So ist nicht gesagt, dass ein Abschnitt, auf dem der Wagen Höchstgeschwindigkeit fuhr, auch geradlinig verlaufen muss, und dass dann der längste derartige Abschnitt auch der längste geradlinige sein muss, wie in der Musterlösung unterstellt. Es ist nicht einmal zwingend, dass überhaupt ein geradliniger Abschnitt auf der Strecke existiert. PISA testet hier nicht naturwissenschaftliche Kenntnisse oder gar konsequentes Denken, sondern die Bereitschaft, das nächstliegende Vorurteil zu übernehmen. Vielleicht ist den Aufgabenstellern auch nicht der Unterschied zwischen der Rennstrecke (einer gedanklichen Konstruktion) und der Rennbahn (einer real existierenden Straße) klar. Eine Straße kann sehr wohl, zum Beispiel in Kurven, überhöht sein, auch wenn die Rennstrecke in einer Ebene abgebildet wird. Das würde die angeblichen Lösungen zwar immer noch nicht zwingend, aber ein wenig plausibler machen.

Die Aufgaben zum Leseverständnis lassen eine ähnliche Tendenz erkennen. Auch hier ergibt sich die erwartete Antwort oft nicht schlüssig aus den gegebenen Informationen. So etwa bei den Fragen 4, 8 und 44. Das Schaubild, auf das sich Frage 4 bezieht, ist offenkundig unsinnig beschriftet, weshalb sich nichts über die Annahmen ableiten lässt, die in dem Schaubild enthalten sind. Oder Aufgabe 8: Die als korrekte Lösung ausgewiesene Aussage, dass eine Grippeimpfung zwar eine gute Sache, doch kein Ersatz für Bewegung und gesunde Ernährung sei, ist beim besten Willen keine Folgerung aus den wiedergegebenen Aussagen. Dies könnte sie nur sein unter der heimlichen Prämisse, dass Aussagen darüber, was gut, besser oder am besten ist, lediglich Punkte auf einer linearen Wirksamkeitsskala markieren. Frage 44 mutet den getesteten Schülern zu, aus der Beschreibung diverser Beratungsaktivitäten für Angestellte, die von einer Umstrukturierung betroffen sind, den Schluss zu ziehen, dass eben diesen Angestellten (die voraussichtlich arbeitslos würden) geholfen wird, einen neuen Job zu finden. Doch das ist entschieden zu viel verlangt: Ob bei der Beratung Placebos verteilt werden oder ob sie tatsächlich helfen, ist dem Text nicht zu entnehmen. Der Schlüssel zur "richtigen" Lösung liegt in einer Art vorauseilendem Vorurteilsgehorsam.

Noch einen Schritt weiter geht die Frage 12: Die dort angeführte Äußerung einer Schülerin über Graffiti führt nicht nur die Kosten für deren Beseitigung, sondern unter anderem auch Umweltschäden durch Sprühdosen und den Schaden am Ruf der Jugend als Argumente gegen Graffiti an. Die erwartete Antwort geht stillschweigend davon aus, dass Schäden an der Umwelt oder am Ruf von Menschen unter Kosten zu rubrizieren seien - was einer heute zwar verbreiteten, doch schwer zu rechtfertigenden Sicht der Dinge entspringt. Die Menschen, die Menschheit und die Natur sind keine Wirtschaftsunternehmen, deren Inventar sich mit Preisen versehen in eine Bilanz einstellen ließe, so dass das Verschwinden einzelner Posten nur einen in Geld zu messenden Verlust darstellte, der wiederum durch Geld zu kompensieren wäre. Die Rede von den "Kosten" für die Umwelt kommt im Gewande des schicken Zynismus daher, um sich in letzter Konsequenz als tödliche Dummheit zu entblößen.

Was bei PISA ganz offenkundig nicht auf der Probe steht, ist die Fähigkeit, Fakten von Vorurteilen, Naturgesetze von Konventionen, Gemeinplätze von treffenden Begriffen zu unterscheiden oder gar der Mut, Einsichten gegen die Zumutungen eines zeitgeistkompatiblen Konformismus durchzuhalten. Die neue schulpolitische Geschäftigkeit verschreibt sich von vornherein einem fragwürdigen Maßstab, wenn sie das Abschneiden im PISA-Test zur leitenden Erfolgsvariablen erklärt. Herauskommen kann dabei höchstens ein technokratisches Placebo für die Bildungsreform, die tatsächlich angesagt wäre.

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