Kaum eine Formel einigt Friedensbewegung wie Bellizisten, Pro- wie Antiamerikaner, Linke wie Rechte so sehr wie die von der Weltherrschaft, die die einzig verbliebene Supermacht USA, sei es nun anmaßend, sei es als Bestimmung, auferlegt bekomme. Wer wie Emmanuel Todd zu einem Zeitpunkt, zu dem US-Truppen von Sieg zu Sieg marschieren, die Fähigkeit der USA zur Weltherrschaft in Frage stellt, zieht den Vorwurf der Extravaganz auf sich. Dass seine Analyse auf einmal soviel Aufmerksamkeit findet, mag am Zeitpunkt liegen und daran, dass die Übersetzung seines jüngsten Buches in einem bekannten Verlag erscheint.
Die wesentlichen Aussagen finden sich schon in seinem früheren Werk Die neoliberale Illusion (1999), das die theoretische Basis, auf der sie fußen, umfassender darlegt. Eine Herausforderung für die hiesige Diskussion stellen nicht allein Todds Thesen dar, sondern auch das begriffliche Raster, auf dem er sie entfaltet. Sein Buch spitzt die früheren Aussagen lediglich zu. Die imperialen Ambitionen der USA seien zum Scheitern verurteilt, weil diese vor drei wesentlichen Kriterien versagten: Es fehlten ihnen das militärische Durchhaltevermögen, die wirtschaftliche Kraft und das soziale Integrationsvermögen, die erforderlich seien, um die imperiale Rolle auszufüllen.
Das erste Defizit erkennt Todd darin, dass die USA unfähig seien, einen lang andauernden, verlustreichen Landkrieg zu führen. Die US-Position in Afghanistan sei höchst fragil, weil sie auf die Truppen regionaler Kriegsunternehmer angewiesen sei. Schon 1999 charakterisierte Todd die US-Wirtschaft, "die eher Arbeitsplätze als Güter erzeugt, als gigantischen Industrieparasiten ... der Fertigwaren importiert und ideologische Vorstellungen und Illusionen exportiert". Das seither verdreifachte Außenhandelsdefizit unterstreicht diese Einschätzung. Seiner damaligen These, dass das US-Inlandsprodukt überwiegend aus virtuellen Werten bestehe (1999:109), dürfte seither - Stichworte: dot.com-Crash, Enron, Bilanzfälschungen - noch mehr empirische Substanz zugewachsen sein. Auch ein genauerer Blick auf das Wissenschaftssystem und die High-tech-Industrie, den Todd auslässt, unterstützt seine Analyse: Die USA benötigen nicht nur den jährlichen Zufluss von nahezu 600 Milliarden Dollar, sondern auch von Tausenden junger, gut ausgebildeter Wissenschaftler und Ingenieure. In den Promotionsprogrammen der renommierten Universitäten sind Ausländer seit langem in der Überzahl. Dessen ungeachtet ist die Innovativität der High-tech-Industrie zum großen Teil Schein: Der IT-Boom der Neunziger beruhte auf der Popularisierung von Innovationen aus den vorangegangenen Jahrzehnten. Die Erlöse aus dem Export von Software, die einen der wenigen positiven Posten der Handelsbilanz bilden, tragen den Charakter einer Monopolrente, die durch den Trend zu freier Software bedroht ist.
Die Abhängigkeit vom Öl ist nur eine Facette einer generellen Abhängigkeit vom Import von Waren, Kapital und Menschen, die die Achillesferse der USA bildet; wobei der Zufluss von Kapital, der erst den Passivsaldo der Handelsbilanz ermöglicht, wie der von Menschen eine Funktion des Vertrauens - sei es der Anleger, sei es der Qualifikationsträger - in die Zukunft des Imperiums ist. In dem New Look, den die Bush-Gang der Außenpolitik verpasste, erkennt Todd eher ein Zeichen der Schwäche als der Stärke und vor allem eine Dummheit von wilhelminischen Ausmaßen, die das hervorbringen werde, was die USA am meisten fürchten sollten: Die Koalition der vor den Kopf Gestoßenen von Paris bis Tokio, die ihr an Bevölkerung und Wirtschaftsmacht vielfach überlegen sei. Der "theatralische Mikromilitarismus", der sich darin erschöpfe, militärisch dritt- und viertrangige Nationen zu strangulieren, emuliere lediglich imperiales Handeln, ohne ein dauerhaftes Imperium aufbauen zu können.
Die Dauer von Imperien gründe in ihrem Universalismus, ihrer Fähigkeit, alle ihnen Unterworfenen als Gleiche zu behandeln. Als Indizien, die gegen die Fähigkeit der USA sprächen, genau dieses zu leisten, führt Todd die gescheiterte Integration der Schwarzen und Latinos sowie die wachsende soziale Ungleichheit im Inneren, den mit ethnischen und religiösen Vorurteilen aufgeladenen Konflikt mit der muslimisch-arabischen Welt sowie die Weigerung, die Eliten der überseeischen Protektorate als gleichwertig zu akzeptieren, im Äußeren an.
Für viele Leser ungewöhnlich dürfte die Weise sein, in der Todd zu seinen Aussagen, etwa über den Status der Schwarzen kommt: Er leitet sie aus demographischen Daten ab; in diesem Fall aus den Veränderungen in der Partnerwahl und der Kindersterblichkeit. Dass schwarze Frauen weißen Männern immer weniger als angemessene Partnerinnen gelten, während die Kindersterblichkeit bei Schwarzen zunimmt, darf als Indiz für die zunehmende Marginalisierung dieser Gruppe gelten.
Das Besondere an Todds Werken ist eine Perspektive, die sich nicht mit den üblichen wirtschaftlichen Daten zufrieden gibt, sondern Parameter einbezieht, die als Indikatoren der Lebensverhältnisse einer Gesellschaft taugen: Partnerwahl, Reproduktionsraten, Kindersterblichkeit, Lebenserwartung, Alphabetisierung, Häufigkeit von Tötungsdelikten und Selbstmorden. Er bestreitet nachdrücklich, dass sich die wirtschaftlichen Leistungen der Nationen innerhalb rein ökonomischer Kategorien angemessen charakterisieren ließen und vor allem, dass es auf dieser Grundlage möglich sei, ein allgemein gültiges Modell der "richtigen" Wirtschaftspolitik zu entwickeln. Determinanten des wirtschaftlichen und politischen Verhaltens der Nationen sieht er in anthropologischen Faktoren wie den Familienstrukturen, also dem Verhältnis von Eltern und Kindern sowie der Geschwister unter einander und führt zum Beispiel den "Produktivismus" sowohl Deutschlands wie auch Japans ebenso auf die dortigen Familienstrukturen zurück wie ihr Scheitern als Weltmächte.
Damit entfernt er sich gleichermaßen von der neoklassischen wie von der marxistischen Orthodoxie. Wenn man ihn in die Nähe eines großen Nationalökonomen stellen möchte, bietet sich der weithin vergessene Friedrich List an. Todd erkennt, dass unregulierter Welthandel den Zusammenhang von Löhnen und effektiver Nachfrage zwar nicht global aufhebt, aber doch lokal schwächt und damit eine deflatorische Abwärtsspirale in Gang setzt, die zur Stagnation oder gar Rezession und zur Verarmung wachsender Bevölkerungsschichten führen muss.
Gleichwohl ist er optimistisch: Der entscheidende Vorgang im Weltmaßstab sei die fortschreitende Alphabetisierung, die zur Demokratie, zur Emanzipation der Frauen und schließlich auch zum Absinken der Geburtenraten auf europäisches Niveau führe. Beispielhaft sei etwa die Entwicklung im Iran. Zu Recht erinnert Todd hinsichtlich des Islamismus an vergleichbare Strömungen der europäischen Neuzeit. Um zu sehen, dass Fundamentalismus und der Hang zur Theokratie keine mittelalterlichen Phänomene sind, sondern die andere Seite der Aufklärung, braucht man nur an Figuren wie Savonarola, Müntzer, Calvin, Cromwell und Andreae zu erinnern.
Ungeklärt bleibt, in welche Wechselwirkung die durch zunehmende Bildung getragene Tendenz zum sozialen Fortschritt mit der zur Barbarisierung tritt, die der entfesselte Kapitalismus in den Metropolen wie an der Peripherie hervorruft, und die der "theatralische Mikromilitarismus" befördert. Offen bleibt auch, welcher Form der imperialen Versuchung die eurasischen Achsenmächte erliegen werden. Todd glaubt, dass die Einhegung des Kapitalismus diesen in eine positive Kraft verwandle, und kann doch in der jüngeren Vergangenheit nur auf deren Scheitern verweisen. Die Einschätzung, dass dies nur Folge falscher Politik sei, gibt seiner Position an dieser Stelle etwas Voluntaristisches.
Emmanuel Todd: Weltmacht USA: Ein Nachruf. München: Piper 2003, 264 S., 13 EUR
** Die neoliberale Illusion: Über die Stagnation der entwickelten Gesellschaften. Rotpunkt, Zürich 1999, 315 S., 21 EUR
Am Sonntag den 22. Juni um 12 Uhr diskutiert Emmanuel Todd mit Jeffrey Gedman vom Berliner Aspen-Institut und dem Publizisten Matthias Greffrath im "Streitraum" der Berliner Schaubühne über das Thema: "Die USA - Weltmacht im Niedergang?".
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