Ein entscheidender Unterschied zwischen Literatur- und Architekturkritik besteht darin, dass die erstere nach, die letztere dagegen meist vor der Erfahrung ihres Gegenstandes stattfindet - wenn es zu dieser überhaupt kommt. Der Berliner Hauptbahnhof bestätigt die Regel: Die Zahl der erfahrungslosen Besprechungen, die zu seiner Eröffnung erschienen, ist Legion und zugleich ein Ansporn, die Regel zu brechen und nach einem Jahr die Summe der Erfahrung mit diesem Gebäude zu ziehen - der Erfahrung des Reisenden, in dessen Leben die Bahn eine bedeutende Rolle spielt.
Ohnehin schon Mitglieder einer Minderheit, erfahren Bahnfahrer in diesem Bahnhof erst recht ihre Bedeutungslosigkeit. Er gibt sich als in Beton, Stahl und Glas verdichtete Verachtung ihrer wesentlichen Bedürfnisse zu erkennen. Aus welcher Perspektive auch immer, der Bahnhof bietet sich mehr wie ein an Piranesis Carceri erinnernder Architekturalptraum dar denn als ein begehbarer, den Zielen der Reisenden dienender Zweckbau.
Wer von Süden oder Norden kommend im Tiefbahnhof aussteigt, findet sich in einer Gruft, die den Charme einer Aussegnungshalle ausstrahlt. Der Blick nach der Bahnhofsuhr, mit dem der Passagier die Uhr am Handgelenk überprüft, geht ins Leere. Die Uhren sind gut hinter Stützen und Fahrstuhlschächten versteckt. Überhaupt die Fahrstühle: Das Kreuzungskonzept bedingt, dass es maximal einen Fahrstuhl gibt, der einen Bahnsteig im Tiefbahnhof mit einem bestimmten Bahnsteig im Hochbahnhof an der alten Stadtbahn verbindet. Wer diesen endlich gefunden hat, stellt fest, dass die Menschentraube davor zu groß, das Fassungsvermögen und die Geschwindigkeit dagegen zu niedrig sind. Als apart stellt sich die Situation auf den Bahnsteigen der Tiefgleise 1/2 und 7/8 heraus: Von dort führen die beiden Fahrstühle lediglich in die unterste der drei Ladenebenen. Ganz offensichtlich sollte der Komfort der Reisenden nicht zuviel Ladenfläche kosten. Auf dem immer wieder durch Orientierungspausen und Fußmärsche unterbrochenen Weg nach oben über vier Rolltreppen - die weiterführende Rolltreppe findet sich keinesfalls immer dort, wo die vorige endet - drängt sich endgültig der Eindruck auf, als Bahnfahrer hier ein kaum geduldeter Fremdkörper zu sein. Auf den Hochbahnsteigen bleibt neben den Aufgängen nur so wenig Platz, dass bei der Zugeinfahrt dort eine gefährliche Enge entsteht.
Auf "Europas größtem Kreuzungsbahnhof" (Eigenauskunft) müssen Reisende absurd lange und unübersichtliche Wege zurücklegen, um von den Kreuzungen des Bahnhofs profitieren zu können. Die acht Minuten Umsteigezeit, die das Auskunftssystem im Internet einrechnet, sind das Doppelte der an anderen Bahnhöfen üblichen Zeitspanne, doch für Menschen mit Gepäck, Behinderung, schlechtem Orientierungssinn oder ohne Ortskenntnis zu knapp bemessen. Dass Reisende drei Shopping-Etagen überwinden müssen, um von der Nord-Süd- auf die Ost-Westbahn oder umgekehrt zu kommen, kann seinen Grund nur darin haben, dass es am Berliner Hauptbahnhof eher nicht ums Bahnfahren geht.
Um die drei Ladenetagen zu ermöglichen und, ein durch die Planung selbst generierter Zwang, die Spree zu unterqueren, musste das Nord-Süd-Gleis 15 Meter unter die Erde verlegt werden - mit den bekannten Kosten treibenden und Bauzeit verlängernden Folgen. Dabei wies das Gelände an Gleisdreieck, Potsdamer Platz, Tiergarten, Spreebogen und Spandauer Schifffahrtskanal, durch das die Nord-Süd-Verbindung führt, zum Konzeptionszeitpunkt keine Bebauung auf, die einer oberirdischen Anlage im Wege gestanden hätte. Eine Brücke über die Spree und die Ost-West-Bahn wäre viel billiger und schneller fertig zu stellen gewesen als der Tunnel. Eine Brücke hätte die unsinnig große Steigung vermieden, die die Züge vom Tiefgleis bis zur Überquerung des Spandauer Schifffahrtskanals bewältigen müssen, und den Reisenden außer kürzeren Wegen noch einen Ausblick auf die Stadt geboten.
Ein funktionierender Bahnhof gliedert die raumzeitliche Bewegung der Reisenden, er setzt eine Pause zwischen dem Aufenthalt an einem Ort und dem Unterwegssein, indem er der Abreise, dem Zwischenhalt, der Ankunft einen Raum gibt. Der Berliner Hauptbahnhof ist daran gemessen ein Unraum, einem Escher´schen Labyrinth ähnlicher als historischen Bahnhofsbauten. In ein die Orientierung verwirrendes Durcheinander von Laden- und Verkehrsflächen zerfallend, spiegelt er die Zersplitterung, die den städtischen Raum zunehmend heimsucht, in nuce. Das hat Prinzip. Die Zerstörung des Bahnhofs durch das Raumkonzept, das die Deutsche Bahn seit Jahrzehnten durch Verbudung und Vermallung historischer Bauten betreibt, findet in dem Berliner Hauptbahnhof ihren vorläufigen Höhepunkt.
Nur Puristen des Schienenverkehrs würden alle Konsumgelegenheiten aus dem Bahnhof verbannen wollen. Eine gewisse Rangordnung ist allerdings angezeigt, die zu finden hilft, was Reisende an erster Stelle brauchen. Die Suche nach Fahrkartenverkauf und Auskunft (oder wenigstens einem Fahrkartenautomaten), nach einem Zeitungskiosk und einer Theke für einen schnellen Kaffee führt zu ungeahnten Schwierigkeiten. Man irrt umher im Gewirr der Fahrstühle, Rolltreppen und Ladenfluchten, die alles Mögliche anbieten, nur nicht das Nötigste. Und hat man den Zeitungs- und Buchladen endlich gefunden, bleiben Zuschnitt und Angebot hinter dem aus kleineren Großstädten wie Köln, Nürnberg und Stuttgart gewohnten Maß zurück.
Die Gastronomie im Berliner Hauptbahnhof bewegt sich durchweg auf Schnellimbiss-Niveau. Reisenden, die den Aufenthalt am Bahnhof zu einem Gespräch, zu einer Erholungs- oder Nachdenkpause nutzen möchten, bietet sie keinen Raum. Von der Qualität der Buffets im Zürcher Hauptbahnhof oder im Schweizer Bahnhof Basels ist sie weit entfernt. Selbst in der DB-Lounge, die privilegierten Reisenden zur Verfügung steht, herrscht alles andere als der Eindruck entspannter Großzügigkeit. Ein kleinlicher Grundriss und eine unsensible Anordnung der Sitze erzeugen die Vorstellung von Enge und Hektik: kein Platz zum Verweilen. Dabei hat es die Deutsche Bahn doch schon besser gekonnt, wie sie etwa mit der DB-Lounge im alten Berliner Bahnhof Zoo oder gar dem preußischen Wartesaal in Leipzig unter Beweis gestellt hat. Das Gefühl, als Reisender im Hauptbahnhof lediglich eine Statistenrolle zu spielen und mit geringstem Aufwand durchgeschleust und abkassiert zu werden, dringt derart bis in die Zonen, in denen die Bahn eigentlich ihre Stammkundschaft pflegen will.
Wie die Schwundstufe eines Bahnhofs aussieht, bei dem die Immobilienverwertung entfällt, die beim Hauptbahnhof so offenkundig im Vordergrund steht, kann man übrigens am neuen Fernbahnhof Berlin-Gesundbrunnen studieren. Bei den Aufgängen ist dort die Abwärtsrolltreppe eingespart, die es bei den S-Bahngleisen nebenan noch gibt. Eine Einkaufspassage, die das dominierende Baumotiv beim Hauptbahnhof bildet, steht hier schon seit einigen Jahren neben dem Bahnhof. Den von der DB stiefmütterlich behandelten Gesundbrunnen-Bahnhof zeichnet dagegen das aus, was dem Hauptbahnhof fehlt: Er liegt an einem Ort, zu dem Menschen strömen und er bietet, am Kreuzungspunkt von Ringbahn und Nord-Süd-Achse der S-Bahn sowie einer U-Bahn und mehreren Buslinien, Anschluss an den Nahverkehr. Um zum Hauptbahnhof zu gelangen, der ohne U-Bahn-Anschluss und Straßenhaltestelle abseits der Nord-Süd-Verbindung der S-Bahn liegt, muss man zumeist länger fahren und öfter umsteigen, als es zu Zeiten der Fall war, als der hauptstädtische Zugverkehr seine prominenten Haltespunkte in Zoo und Ostbahnhof hatte. Überdies lässt die Zugfrequenz zwischen Hauptbahnhof und Gesundbrunnen im Norden beziehungsweise dessen Pendant in entgegengesetzter Richtung, dem Südkreuz, zu wünschen übrig.
So vermag der Berliner Hauptbahnhof die Irritation, die den Bahnfahrer seit Jahren umfängt, noch zu steigern. Sie dreht sich um die Frage, ob man es mit inkompetenter Planung zu tun hat oder der DB-Führung in Wahrheit der Sinn nicht danach steht, dem Land einen funktionierenden Personenfernverkehr zu ermöglichen. Diese Frage sollte den noch hundertprozentigen Eigentümer der Bahn beschäftigen.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.