Vor kurzem schien es noch eine unerschütterliche Gewissheit zu sein, die anzuzweifeln als Sakrileg galt: dass die IT-Industrie uns in eine neue Gesellschaft führen würde - mal als Informations- mal als Wissensgesellschaft ausgewiesen -, die auf einer neuen Wirtschaft - neudeutsch: New Economy - basierte. Dort könnten besonders die Profite und Aktienkurse dank sagenhafter Innovationen und immer willfährigerer Konsumenten nur noch steigen, dagegen ganz allgemein die Märkte immer nur transparenter, das Leben immer nur preiswerter, die Welt überhaupt nur schöner werden. Ein Hinweis auf die oberflächlichsten Widersprüche dieses Bildes riskierte das Stigma der Ketzerei aufgebrannt zu bekommen.
Doch im März 2001 liegt der Börsenwert solider, seit Jahrzehnten erfolgreicher IT-Unternehmen oft bei einem Bruchteil des Standes vom März 2000. Den Anleger hatte man eingeredet, in der New Economy sei es völlig normal, dass sich der Wert von Unternehmen innerhalb weniger Wochen oder Monate vervielfache, dass nichts dabei sei, wenn ein Unternehmen an der Börse das Hundertfache seines Gewinns oder noch mehr wert sei oder dass gar die vage Aussicht auf irgendwelche künftigen Geschäfte im Internet allein schon mit Milliarden aufzuwiegen wäre. Diese Anleger müssen jetzt zusehen, wie sich ihr Geld verflüchtigt. Das vor kurzem noch belächelte Sparbuch sieht auf einmal wieder wie die bessere Anlageform aus.
Selbstverständlich sind Sun, Oracle, Cisco, Nokia, Deutsche Telekom und wie sie alle heißen technisch kompetente Unternehmen mit guten Namen, doch konnten sie beim besten Willen niemals soviel wert sein, wie die Börsen im Jahr 2000 meinten. Es genügen ein paar einfache Überlegungen, um sich klar zu machen, dass ein Unternehmen wie Cisco, das nur ein Mitspieler auf dem Markt für Vermittlungstechnik ist, bei allem Zukunftspotenzial nicht so viel wert sein kann wie die gesamte US-Automobilindustrie und dass - wenn die Börse zu dieser Bewertung kommt - dies ein Irrtum sein muss, der irgendwann seine Korrektur erfahren wird.
Zudem mögen viele der neuen IT-Unternehmen vielleicht spannende, technisch attraktive Ideen haben, doch ist völlig unklar, ob sie dafür jemals einen Markt finden werden und - selbst wenn dies eintrifft - ob dort Platz für eine große Anzahl ähnlicher Anbieter sein wird. Letzteres dürfte das Problem von durchaus interessanten Newcomern wie Intershop sein. Mit Sicherheit zum Untergang verdammt sind dagegen all jene Unternehmen, die, wie viele Web-Shops und Portale, nicht mehr zu bieten haben als ein virtuelles Ladenschild oder die, wie die meisten Internet-Provider und Telefongesellschaften, schlichte Wiederverkäufer von Diensten sind, zu deren Bereitstellung sie praktisch nichts beitragen. Es gehört schon ein geballtes Maß an fachlicher Inkompetenz und Wunschdenken auf der Seite von Bankern, Analysten und Journalisten dazu, derartiges zur Speerspitze einer Revolution hochzujubeln.
Was im vergangenen Jahrzehnt stattfand, war nichts anderes als die Diffusion von Techniken, deren Grundlagen schon längst - größtenteils spätestens in den Achtzigern - gelegt waren. Diffusionsprozesse durchlaufen immer eine exponentielle Phase, um dann in Sättigung zu erlahmen. Deshalb wird das als Signum einer neuen Ära besungene "Internet-Tempo" eine vorübergehende Erscheinung bleiben. Die Kerninformatik selbst ist heute eine eher langweilige Wissenschaft, die ihre große Zeit schon hinter sich hat. Dass die Software heute immer noch so erbärmlich schlecht ist, liegt weniger an einem Mangel an besseren technischen Möglichkeiten als vielmehr an den sozioökonomischen Umständen ihrer Entstehung. Eine sich an Pseudoinnovationen berauschende Industrie wird weiter den vermeintlich nächsten "Killer-Applikationen" hinterher jagen und dabei den Nutzen der ganz normalen Menschen verfehlen.
Die Phantasmen eines Jahrzehnts - seien es nun die der Feuilletons oder der Finzanzresorts - erleben jetzt ihre Kollision mit der Realität. Dazu gehört die Rückkehr des in der New Economy besiegt geglaubten Konjunkturzyklus ebenso wie die des strukturellen Monopols in der Telekommunikation. Vielleicht dämmert dabei die Erkenntnis herauf, dass ein durch Liberalisierung um jeden Preis und die Herrschaft der Finanzmärkte bestimmtes Telekommunikationsregime kaum dazu fähig sein wird, eine zukunftssichere, einheitliche Telekommunikationsinfrastruktur effektiv an jedem Ort für alle bereit zu stellen. Dass UMTS in einer Reihe von Pleiten und einer unausgewogenen Infrastruktur enden wird, zeichnet sich jetzt schon ab.
Auf die Nachricht, dass eine moderne Infrastruktur zuerst viel Kapital verschlänge, bevor sie in ferner Zukunft vielleicht Profit abwürfe, konnten die Kapitalmärkte nur verschnupft reagieren. Seit auch die Stars der IT-Industrie die Aktionäre durch Umsatz- und Gewinnwarnungen nerven, ist die Laune an den Börsen völlig dahin. Dabei war genau das vorhersehbar. Die IT-Besessenheit verführte die Entscheider in der Wirtschaft - die US-Amerikaner gingen hier mit Abstand voran, doch die Europäer folgten ihnen - zu Investitionen, die in keinem angemessenen Verhältnis zu den damit erzielbaren Produktivitätssteigerungen standen. Der Investitionsüberhang führt jetzt zur Absatzkrise der IT-Industrie.
Als Ende der neunziger Jahre das jährliche Produktivitätswachstum in den USA zum ersten mal nach mehr als zwei Jahrzehnten wieder über zwei Prozent geklettert war, kam das vielen wie die Auflösung des berüchtigten "Produktivitätsparadoxons der IT" vor, also des Sachverhalts, dass seit Jahrzehnten wachsenden IT-Ausgaben nur ein immer schwächeres Produktivitätswachstum gegenüber steht. Neuere Studien zeigen jedoch, dass der nach Abzug zyklischer und methodischer Effekte verbleibende Produktivitätsfortschritt vor allem in der IT-Ausrüstungsindustrie selbst stattfand. Er sei nur zu einem Teil technologischer Natur, heißt es, ansonsten auf Größeneffekte durch Marktwachstum und Konzentration zurückzuführen. Auf den Rest der Wirtschaft hätten die Informationstechnik und zumal das Internet kaum einen Einfluss gehabt - ja, dort habe sich das Produktivitätswachstum eher noch weiter verlangsamt.
Vernichtung von Werten in großem Stil ist jetzt angesagt: von größtenteils nutzlosen Ausrüstungserneuerungen und von nur noch auf dem Papier stehenden Unternehmenswerten, denen jedoch reale Verbindlichkeiten gegenüber stehen. Die IT-Besessenheit der vergangenen Jahre hinterlässt vor allem viel irreversibel falsch angelegtes Kapital und damit ein beachtliches Krisenpotenzial.
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