Würde sich in einer Welt, die ausschließlich von rationalen Egoisten bevölkert ist, Solidarität herausbilden? Das hätte weitreichende Konsequenzen für die Politik und die Hoffnungen, die wir auf eine kluge Politik setzen können. Modellierung und Simulation – basierend auf heroischen Vereinfachungen – liefern, wie die Forschung der letzten Jahrzehnte gezeigt hat, erstaunlich realistische Antworten.
Wie modelliert man „Solidarität“? In der Spieltheorie werden Situationen, in denen Menschen wechselseitig voneinander abhängig sind, durch ein einfaches Solidaritätsspiel beschrieben: In jeder Runde wird durch einen Zufallsgenerator vorgegeben, ob keiner, beide oder nur einer von zwei Spielern hilfsbedürftig wird. Wer nicht hilfsbedürftig ist, muss entscheiden, ob er einem hilfsbedürftigen Mitspieler hilft oder nicht. Für den Helfenden ist die Hilfe natürlich mit einem Verzicht verbunden, und aus diesem Grund würde kein rationaler Spieler dem anderen helfen, wenn dieses Solidaritätsspiel nur einmal gespielt wird.
Das gilt fatalerweise auch dann, wenn beide Spieler durch wechselseitige Solidarität gewinnen könnten. Der paradoxe Effekt liegt daran, dass der beidseitige Vorteile nur solange besteht, wie noch nicht klar ist, wer der Hilfsbedürftige sein wird. Ist jedoch durch die Lotterie des Lebens entschieden, wer hilfsbedürftig ist, dann hat ein nicht hilfsbedürftiger Spieler keinerlei Anreiz mehr, dem anderen zu helfen – mögen beide vor dem Spiel sich auch noch so innig wechselseitig Hilfe versprochen haben.
Alles wird jedoch anders, wenn solche Spiele wiederholt gespielt werden. Auch rationale Spieler können dann wechselseitig vorteilhaft Solidarbeziehungen realisieren. In wiederholten Spielen wird es nämlich möglich, für die Unsolidarität des anderen in der nächsten Runde durch eigene Unsolidarität Vergeltung zu üben. Ihre solidaritätstiftende Wirkung kann die Vergeltungsdrohung allerdings nur entfalten, wenn die Wahrscheinlichkeit eines nächsten Spiels hinreichend hoch ist: Je besser die Relation Gewinn zu Kosten der Solidarität, um so geringer die Anforderung an die soziale Stabilität.
Für die Modellierung der Partnersuche ist eine radikale Vereinfachung hilfreich: Die Individuen leben auf einem Schachbrett. Die Individuen gehören neun verschiedenen Risikoklassen an. Klasse 1 (Dunkelrot) wird mit der Wahrscheinlichkeit zehn Prozent hilfsbedürftig, Klasse 2 (Rot) mit 20 Prozent und so weiter bis Klasse 9 (Dunkelblau), die mit 90 Prozent Wahrscheinlichkeit hilfsbedürftig wird. Die Individuen spielen jeweils mit ihren Nachbarn simultan und unabhängig voneinander das gerade beschriebene Solidaritätsspiel.
Zusätzlich bekommen die Individuen in jeder Runde mit feststehender Wahrscheinlichkeit die Option, zu einem anderen Standort auf dem Spielfeld zu wandern, um sich neue Nachbarn zu suchen. Die einzelnen Individuen sind in der Simulation so programmiert, dass sie die Risikoklasse ihrer Mitspieler erkennen können. Jeder weiß, wie es um ihn herum in der Welt bestellt ist. So sind die Individuen in der Lage, Schätzungen über die Stabilität ihrer Beziehung zu ihren Nachbarn zu machen.
Die Ausgebeuteten hauen ab
Die Spieler sind also Realisten bezüglich ihrer Paarungsmöglichkeiten. So wissen sie vorab, dass sie als Angehörige einer mittleren Risikoklasse angesichts des gegebenen Verhältnisses von Gewinn zu Kosten der Solidarität auf die Hilfe von Angehörigen einer sehr guten Risikoklasse eventuell nicht hoffen können. Jeder weiß, dass er in einer besten sozialen Position ist, wenn er allseitig von Individuen umgeben ist, die der besten Risikoklasse angehören, die gerade noch willens ist, mit ihm eine Solidarbeziehung aufzunehmen. Solche Positionen sind auf dem Schachbrett und in der Realität rar. So geben sich die Individuen schon zufrieden, wenn sie sich über einen bestimmten Grenzwert der idealiter erreichbaren Gesamtauszahlung annähern – auf dem Spielfeld durch rechteckige Spielfiguren dargestellt. Diese zufriedenen Spieler haben nur noch eine geringe Neigung zum Wandern.
Das linke Bild zeigt eine zufällige soziale Ursuppe; das rechte zeigt den Zustand nach 1.000 Runden. Weiße Verbindungslinien zwischen zwei Individuen bedeuten funktionierende Solidarbeziehungen. Offensichtlich haben sich aus der Ursuppe großflächige Solidarstrukturen gebildet.
Diese Phänomene fallen sofort ins Auge: Es gibt Risikoklassen, innerhalb derer kein Mitglied irgendeinen Solidarpartner finden konnte. Dies betrifft die extrem gute Risikoklasse 1 und die extrem schlechte 9. Dann gibt es Klassen, deren Angehörige ausschließlich unter sich Solidarbeziehungen eingegangen sind: die relativ gute Risikoklasse 2 und die relativ schlechte 8. Angehörige der mittleren Risikoklassen hingegen finden Solidarpartner sowohl innerhalb der eigenen Klasse wie auch in relativ nahestehenden Risikoklassen.
Was diese Simulation illustriert, lässt sich durch umfassende Analyse verallgemeinern: Auch in einer Welt rationaler Egoisten, die mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten hilfsbedürftig werden und vorteilsorientiert ihre Partner suchen, gibt es Solidarnetzwerke. In solchen Netzwerken kommt es zu einem typischen Segregationsmuster. Mittlere Risiken haben es vergleichsweise leichter, unter sich und anderen Solidarpartner zu finden. Sehr gute und sehr schlechte Risiken werden, wenn überhaupt, eher nur unter einander Partner finden. Fast wie im wirklichen Leben.
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