Es wird Nacht über Antibes. Die Tagesschwestern haben sich mit Küsschen verabschiedet. Die Tabletten sind ausgeteilt. Die Wäsche der Inkontinenten wurde noch einmal gewechselt, die Morphingeräte gegen die Schmerzen nach den Wünschen der Patienten noch einmal justiert. Das Personal zieht sich zu einem Schwätzchen in die Stationszimmer zurück. Man hört einige Fernsehgeräte. Die Flurbeleuchtung wird gedimmt. Mein Bettnachbar grunzt und furzt. Ich bat darum, die Tü...re zum Flur offen zu lassen. Michel hat Knochenkrebs. Wir diskutieren fast jede Nacht über das Leben an sich und unseres im speziellen und kommen zu dem Schluss, dass es alles in allem doch recht gut mit uns gemeint hat. Immerhin haben wir es bald hinter uns, während den Lebenden noch unsere Erfahrungen, unser Leid, unser Elend bevorsteht. Angesichts der Entwicklung in der Welt sind wir froh, es bald hinter uns zu haben. Wir haben alle auf dieser Station einen langen Kampf hinter uns und sollten deshalb zufrieden sein mit unserem Schicksal.
Aus dem Nachbarzimmer tönt, wie jede Nacht, ein Politiker und beschwert sich über den „skandalösen Service“ in diesem Etablissement. Die Nachtschwester erklärt ihm zum weiss nicht wie vielten Male mit Engelsgeduld, dass wir hier in einem Hospiz und nicht in einem Fünf – Sterne – Hotel sind. Er vermag einfach die Regeln der französischen Revolution Liberté – Egalité – Fraternité nicht einzusehen, die er Zeit seines Lebens bei jeder Scheiss – Ansprache wie eine Monstranz vor sich hergetragen hat. Spätestens hier in unserem Trakt werden wir alle gleich, es ist der Schwester egal, ob ein Millionär, ein grossmauliger Politiker oder ein armer Schlucker ins Bett scheisst. Wir schlafen ein bisschen. Der Schlaf vor Mitternacht ist am tiefsten.
Um zwei Uhr in der Nacht rollt wieder dieser ratternde Medikamentenkarren über den Flur, die Schwestern flüstern zwar, aber wir werden wach. Es war ja ohnehin nur ein Halbschlaf. Fiebermessen, Blutdruckmessen, Urinflaschen werden geleert und ausgespült. Meinen mir ans Herz gewachsener Bettnachbar überfällt einen unbändigen Schmachter nach einer Zigarette. Sofort werde ich von seiner Sucht angesteckt. Die Schwestern ziehen uns an, verhüllen uns in unsere hässlichen Bademäntel, wir schnappen uns unsere Raucherutensilien und unsere Krücken. Der Nachtdienst schliesst uns das Portal zum Hof auf und siehe da, es sind immer dieselben Kameraden da. Wir sitzen vor dem Kiosk, rauchen unsere Zigaretten und ich meine Pfeife und wir schweigen. Jede Nacht fehlen einer oder zwei. Wir schweigen und geniessen diese Augenblicke des Friedens und des Genusses. Niemand verbietet uns mehr etwas, niemand hat uns mehr etwas zu befehlen, wir sind frei, denn wir sind Todeskandidaten. Wir sind glücklich!
Rainer Kahni (diktiert)
Kommentare 4
Lieber Monsieur Rainer,
man wird dürr und vorsichtig mit Worten, wenn man diesen Text liest. Was man auch schreibt, wie man auch versucht, zu trösten, man ist (noch) nicht dran, man kann - noch vom vermeintlich sicheren Leben - gute Wünsche aussprechen, die nichts nützen.
Fasse Mut, sagt mein Mann manchmal morgens zu mir, wenn ich unwillig bin, oft aus nichtigen Gründen. Fassen Sie auch Mut. Zu wünschen ist unbedingt, dass sie gut auch medikamentös versorgt werden, dass die langen Nächte durch etwas Schlaf gemildert werden und - dass die Zigarette trotzdem geschmeckt hat und in der Dunkelheit noch lange - trotzdem - schmeckt.
Ein Gruß an Sie
von Magda Geisler
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Carpe diem, versteht wohl nur,
wer solche Augenblicke durch- und überlebt hat.
Von Januar bis Sept. 2014 war ich in mehreren Krankenhäusern und anschliessend 3 Monate in sog. Rehakliniken. An die ersten Monate habe ich keine Erinnerungen...ich wurde künstlich beatmet, künstlich ernährt ...dazwischen mehrmals operiert. Sehr gut erinnere ich einen Tag im Mai 2014...da war ich wohl zum ersten Mal wieder bei vollem Bewußtsein. Beim Erwachen fragte ich mich, ob ich wohl tot sei...aber dann sagte ich mir, wenn ich darüber nachdenken kann, muß ich ja wohl noch am Leben sein. Inzw. bin ich wieder zuhause und versuche, mein Leben wieder so zu gestalten, dass ich es geniessen kann und meine Umgebung so gering wie möglich zu belasten.
Ihnen, lieber Herr Kahni, wünsche ich von ganzem Herzen, dass Sie wieder gesund werden und weiterhin Ihre Gedanken mit Ihren Lesern austauschen können.
Ansonsten schließe ich mich den oben geschriebenen Worten der Mitforistin Magda an.
Alles Gute für Sie wünscht Ihnen Volker Steinkuhle.