Das Gefühl, auf einem Stern zu sein

Bolivien Seit fünf Jahren schon regiert der Sozialist Evo Morales. Und die Mehrheit seiner Landsleute erkennt besonders das Credo seines Amtsführung an: Mit dem Gesicht zum Volk

Man liest in Deutschland so wenig über dieses Land und wenn dann oft nur in despektierlichen Tönen – ein „linkes Regime“, der indianische Präsident Evo Morales ein Coca-Bauer, befreundet mit Venezue­las Hugo Chávez und Ecuadors Präsident Rafael Correa, alles Politiker, die von den Wächtern der westlichen Demokratie mit Misstrauen betrachtet werden. Dank Goethe-Institut und DEFA-Stiftung konnte ich nun in vier bolivianischen Städten meinen Film Die Frau und der Fremde zeigen und in La Paz einen Workshop mit Filmemachern abhalten.

Ich kam in Santa Cruz an, der Millionenstadt im Tiefland, 38 Grad und eine Luft wie nach den Waldbränden rund um Moskau. Aus der Kathedrale kommend, zogen violett gekleidete Damen schwermütige Choräle singend mit Büßerstrick um den Bauch durch die Stadt. An der Plaza standen Zelte, und pausenlos von früh morgens bis spät abends schrieen Stimmen über den Platz. Libertad de la expresión! – Pressefreiheit! Es gab einen Hungerstreik. Präsident Morales hatte kurz zuvor ein Gesetz gegen Rassismus und Diskriminierung erlassen, und die Presse fühlte sich in ihrer Freiheit bedroht. Landesweit versuchten Morales-Gegner, eine Million Bürger zur Unterschrift gegen das Dekret zu bewegen.

Ein Skandal an sich

Ich gebe zu, parteiisch gewesen zu sein, denn ich fragte mich, wie die protestierenden Journalisten ihre Freiheit bisher zu nutzen wussten gegen einen seit über 500 Jahren andauernden Rassismus, unter dem die indigene Bevölkerung zu leiden hatte. Was taten sie gegen Menschenrechtsverletzungen und Korruption. Es ging den Protestierenden vorrangig um zwei Artikel des Gesetzes, die der Presse und dem Fernsehen Konsequenzen androhen, sollten sie das Gesetz verletzen. Das aber schien mir logisch. Wozu ist ein Gesetz sonst da in dem so gern zitierten „Rechtsstaat“. Jeder weiß, in Bolivien wie in Ecuador sind die Medien überwiegend in den Händen der alten Hierarchien und nutzen alle verbliebene Macht, die linken Regierungen zu diskreditieren. Die bolivianische Ober- und Mittelschicht hat es nicht verwunden, von einem „Indio“ regiert zu werden – dies an sich ist schon ein Skandal. Ein Gespenst geht um und infiziert selbst solche, die kaum etwas haben: Die Angst vor dem „Kommunismus“. Die Angst, enteignet zu werden. Besser also, sein Geld ins Ausland zu schaffen, vielleicht gar selber zu emigrieren? Oder das Land zu teilen, die Tieflandprovinzen um Santa Cruz abzuspalten von den ärmeren und deutlicher indianisch dominierten Hochlandprovinzen um La Paz. Obwohl, die Lithium-Vorkommen im Salar von Uyuni könnten dem Hochland einen nie geahnten Reichtum bescheren, vielleicht sind deshalb die Separatismus-Befürworter leiser und vorsichtiger geworden.

Mit Kommunismus hat das, was Morales zu ändern sucht, wenig zu tun. Gewiss, er hat die Erdöl- und Rohstoffindustrien verstaatlicht, um deren Gewinne im Land zu halten. Er hat Alten, Schwangeren und Schülern Beihilfen zukommen lassen, die für europäische Verhältnisse lächerlich wirken, mehr ist aber nicht da. Er hat Schulen und Straßen bauen lassen. Die Armen und damit die Mehrheit der Bolivianer danken es ihm. Der Präsident wurde auf demokratische Weise gewählt, eben von jenen, die jeden Tag ums Überleben kämpfen und die an die Wände schreiben: EVO – sí! EVO cumple! Die Gefahr, dass die alten Oligarchien auf altbewährte Weise und von den westlichen Demokratien geduldet oder initiiert zurückschlagen wie in Guatemala und Honduras – oder es versuchen wie gerade erst in Ecuador –, ist nie gebannt.

Ihrem Schicksal ergeben

Meine Busfahrt von Santa Cruz nach Cochabamba sollte zehn Stunden dauern, als jedoch die Straße aus dem heißen Tiefland in die Anden hoch kroch, staute sich der Verkehr an einem Pass. Es hatte geschneit, und die schweren Camions kamen nicht hinauf. Zu Cochabamba habe ich eine ganz spezielle Beziehung. Im Alter von zehn etwa wollte ich eine erste Geschichte schrei­ben. In meinem sächsischen Heimatort Hainichen suchte ich also im Atlas einen Schauplatz, an dem sie spielen könnte, ganz weit weg und sehr exotisch sollte dieser Ort sein – ich entschied mich für Cochabamba.

Nun war ich hier. Die Stadt liegt 2.500 Meter hoch, hat ein angenehmes Klima und einen ungemein großen Markt, die Cancha. Quechua-, Aymara-Indianer und Mestizen bieten alles an, was man sich vorstellen kann. Die Labyrinthe dieser farbenprächtigen Mercados faszinieren und ängstigen mich gleichermaßen. Das Leben scheint selbst hier, wo die meisten Leute wenig haben, aus nichts anderem als Kaufen und Verkaufen zu bestehen. Kann dies der Sinn menschlichen Daseins sein? Immerhin geht es auf diesen Basaren unaufdringlich zu, der Passant wird nicht bedrängt – die Verkäufer sitzen stoisch da, wie schlafend, ihrem Schicksal ergeben, mit Babys und Kleinkindern auf dem Boden um sich herum. Ich will darüber nicht nachdenken, ein Leben lang hinter einem Stapel Röcke oder einem Berg Früchten zu sitzen. Immerhin, sie haben etwas. Die Mehrheit hat nichts zu verkaufen und nichts, womit sie etwas kaufen könnte.

Auf der Plaza waren Informationsstände aufgebaut. „Basta con la Telebasura!“ (Schluss mit dem Fernsehmüll!), hieß es da. „Con racismo no hay democracia! (Mit Rassismus gibt es keine Demokratie!) Es ging hier nicht so laut und schon gar nicht so demagogisch zu wie in Santa Cruz. Minenarbeiter, Gewerkschafter sprachen über Erfahrungen ihres Lebens. Schweigende Indianer hörten zu und studierten Zeitungen, in denen deren Widersprüche und Lügen rot angestrichen waren.

In Cochabamba kam zu meinem Film auch eine Gruppe von Straßen- und Waisenkindern mit Stefan Gurtner, einem Freund aus der Schweiz, der seit langer Zeit in Bolivien ein Kinderprojekt betreut. Tres soles (Drei Sonnen) heißt es. Vor Jahren führten sie in Berlin ein Theaterstück auf, das mich begeistert hatte.

Gurtner betreut 25 Kinder und Jugendliche, die auf einem Grundstück außerhalb der Stadt leben, zu zweit oder zu dritt ein Zimmer mit eigenem Bad und WC haben, ihr Brot selbst backen, ihr Gemüse anbauen und ihre Möbel selbst herstellen, damit sie etwas Eigenes haben und mitnehmen können, wenn sie erwachsen werden. Dann können sie in einer Einrichtung der Stadt Cochabamba weiter betreut werden. Sie fertigen hochwertiges Kunstgewerbe an, sie malen, spielen Theater, drehen eigene Videos. Sie können jederzeit weggehen und haben freien Ausgang. Überall in den mit Phantasie ausgestalteten Räumen hängen Plakate und Schrifttafeln, die auf die Verantwortung des Menschen für Pachamama, die Mutter Erde, hinweisen, um allen immer wieder vor Augen zu halten, wie jeder für sich selbst und seine Umwelt verantwortlich ist. Stefan bekommt die Kinder vom Sozialamt zugewiesen, er arbeitet mit Spendengeldern aus Deutschland und der Schweiz. Ich konnte mich überzeugen, dass der Einsatz lohnt. (www.tres-soles.de)

Schwarzes Maskottchen

In Cochabamba steht in einem Park der Palacio de Portales, ein schlossähnliches Anwesen, erbaut in europäischen und arabischen Stilen, ausgestattet mit dem modernsten und teuersten, was es im Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab, nicht frei von Kitsch. Es handelt sich um das Haus des legendären Zinnbarons Simon I. Patiño, eines der reichsten Männer der Welt. Als Maskottchen kaufte er sich einen kleinen schwarzen Jungen.

Die 620.000 Einwohner zählende Stadt wird wie viele südamerikanische Metropolen von einer gewaltigen Jesus-Statue überragt. Sie wirkt bedrohlich, sieht aus wie ein Konquistador. Als solche kamen die Christen ja auch hierher. Gerade startete die Führung der katholischen Kirche Boliviens wieder eine Attacke gegen die Regierung von Evo Morales. Der hat vor Jahren ein Gesetz zur Religionsfreiheit erlassen, so dass auch Naturreligionen zu ihrem Recht kommen.

Diese Freiheit nutzen evangelikale Sekten aus den USA besonders gern. Überall, wo sie in Bolivien auftauchen, besteht die Gefahr, dass die indianische Bevölkerung gespalten und gekauft wird. Doch die Evangelikalen geben nicht nur Geld aus für ihre Ziele, sie nehmen es auch den Ärmsten ab. In La Paz zieht mich laute Pop-Musik in einen Veranstaltungssaal, über der Bühne prangt nur ein Wort: JESUS! Indigene Cholitas wiegen sich in ihren vielen und weiten Röcken verzückt im Tanz. Dann tritt ein Entertainer auf mit dem Gehabe eines miesen Fernsehconferenciers. Nach jedem seiner Sätze schreit er das eine Wort: JESUS! Auf der Bühne werden Urnen mit Spenden ausgeschüttet, die man den gewiss nicht reichen Gläubigen gerade abgenommen hat.

Eine Episode, die mich nach Potosí führt, in die höchste Großstadt der Welt, über der wie eine Pyramide der 4.829 Meter hohe Silberberg Cerro Rico thront. Zu Kolonialzeiten starben in seinem Inneren Hunderttausende Indígena unter unmenschlichen Arbeitsbedingungen. Heute werden von Kooperativen noch immer letzte Reste von Zinn-, Zink- und Kupfererz aus dem Berg geborgen. Reich kann man damit nicht mehr werden. Und bisher holt sich der Berg jedes Jahr seine Opfer.

Wo der Reichtum von Potosí blieb, kann man in den luxuriösen Kirchen der Stadt sehen. Alles prangt in Gold und Silber. Ins Karmeliterinnen-Kloster Santa Teresa schickten einst reiche Familien ihre Töchter – nicht mehr als die streng limitierte Zahl von 21 Nonnen durfte aufgenommen werden. Man zahlte viel Geld, damit jene hinein und nie wieder herauskamen. Jeglicher Blickkontakt mit der Außenwelt war verboten, nur sprechen durften die Novizinnen hin und wieder mit ihren Angehörigen, doch war es verboten, deren Hände zu berühren. Wenn die Nonnen starben, wurden sie unter den Dielen des Klosters in Kalk begraben, der sie schnell zersetzte.

Das Gotteshaus hängt voller Kunstwerke, die – wie auch die Bilder in der Casa Real de la Moneda – der Malschule aus Potosí entstammen. Im Unterschied zu den Ateliers von Quito und Cusco, wo indianische Einflüsse und Symbole in die Gemälde drängten, waren auf Werken aus Potosí bei den abgebildeten Heiligen keine einheimischen Gesichtszüge zu erkennen, auch wurden selten Sonne, Mond, Pflanzen oder Tiere abgebildet. Die indigenen Maler der Schule von Potosi mussten nach einem europäischen Regelkanon arbeiten, den die Kirchenoberen streng kontrollierten. Immerhin hat im Patio ein dreihundertjähriger Apfelbaum ebenso überlebt wie ein den Ureinwohnern heiliger Huachuma-Kaktus. Die Natur bleibt stärker als jede Ideologie. Die Indígena haben das nicht vergessen.

In Oruro zelebrieren sie auf der Plaza ein Ritual, damit Pachamama ihrem Wasserprojekt wohlgesonnen ist. Und in Coroico war am Tag der Toten, der gerade begangenen wurde, das ganze Dorf auf dem Friedhof, um mit den Verstorbenen vereint zu sein. Es wurde auf den Gräbern gegessen, und die Kinder turnten auf den Monumenten für die Verstorbenen.

Touristen trifft man in dieser Gegend selten oder nie. Bestenfalls am Salar de Uyuni, dem größten Salzsee der Welt, wo sie über das weiße Meer fahren. So blieb ich oft allein bei meiner Tour, und es störte mich wenig. Gefährlich war es nie. Wenn man durch Bolivien fährt, bekommt man in der kargen Landschaft, in dieser grau- oder rotbraunen Einöde, das Gefühl, auf einem Stern zu sein. Pachamama erschien mir wie ein lebendiger Organismus, auf dem der Mensch ein Gast ist. Vielleicht ist ein solches Land das richtige, von dem ein Cambio, eine Wende, ausgehen könnte.

Rainer Simon ist Filmregisseur und Schriftsteller. Sein DEFA-Film "Die Frau und der Fremde" wurde 1985 auf der Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet

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