Ein Schutzwall aus Leichen

Korea Das Massaker von No Gun Ri während des Bürgerkrieges von 1950 bis 1953 wurde jahrzehntelang der Armee aus dem Norden angelastet - zu Unrecht

Im Juli 1950, während der ersten Kriegstage, evakuieren die Amerikaner oft ganze Dörfer im Süden Koreas. So auch die Bewohner der Gemeinde No Gun Ri, südlich der Stadt Taejon. Der Ort galt im Zweiten Weltkrieg als eine Bastion des antijapanischen Widerstandes, so dass es nicht weiter überraschte, als im August 1945, unmittelbar nach der Kapitulation Japans, in No Gun Ri ein Yongdong-Volkskomitee entstanden ist, das in der bäuerlichen Bevölkerung viel Rückhalt genießt - und ein Grund für das rigide Vorgehen der US-Armee fünf Jahre später sein wird.

Mit bloßen Händen

Der amerikanische Historiker und Korea-Experte Bruce Cumings verweist auf ein an Generalmajor Clark Ruffner adressiertes geheimes Nachrichtenmemo der US-Armee schon aus den ersten Wochen des Korea-Krieges, in dem "Exekutionskommandos" verlangt werden, um Leute "auszuschalten", die verdächtigt werden, der südkoreanischen Guerilla und damit den Kommunisten nahe zu stehen. Haargenau das gleiche Raster, wie es knapp 20 Jahre später mit den so genannten "Strategischen Dörfern" und dem Phönix-Programm der CIA in Südvietnam anzutreffen ist. Auch dort werden ganze Gemeinden umgesiedelt, weil sie als Hinterland des Vietcong - sprich: der Nationalen Befreiungsfront (FLN) - gelten.

Am 26. Juli 1950 graben sich die Soldaten des 7. US-Kavallerieregiments bei No Gun Ri auf einem mehrere hundert Meter langen Frontabschnitt ein. Am Morgen hat das Kommando der 8. Armee an alle Truppen im Kampfgebiet Order gegeben: "Flüchtlinge haben die Front nicht zu überqueren. Es wird auf jeden geschossen, der versucht, die Linien zu überschreiten. Im Fall von Frauen und Kindern ist Besonnenheit zu bewahren." Als sich noch am gleichen Tag ein Treck von etwa 500 Bewohnern umliegender Dörfer, die vor anrückenden nordkoreanischen Einheiten fliehen, der amerikanischen Frontlinie nähert, werden die Flüchtlinge umgehend von der Straße vertrieben - die Trasse soll für Militärfahrzeuge freigehalten werden. Die Flüchtlinge rasten an einem Bahndamm, plötzlich werfen US-Kampfflugzeuge anstelle von Warnzetteln Bomben ab und feuern MG-Salven auf die Wartenden. Etwa hundert Menschen sind sofort tot. Die Überlebenden - vorwiegend alte Männer, Frauen und Kinder - flüchten sich unter eine nahe gelegene Eisenbahnbrücke. Sicher sind sie dort nicht; unablässig wird auf sie gefeuert. In ihrer Verzweiflung stapeln die Menschen Leichen übereinander, um einen Schutzwall zu haben, während andere mit bloßen Händen versuchen, Löcher in den Boden graben.

Mehr als ein halbes Jahrhundert lang bleiben diese grauenhaften Geschehnisse vergessen und verdrängt, wenngleich bereits 1982 erste Geheimdokumente über die US-Kriegführung in Korea deklassifiziert werden, mithin öffentlich zugänglich sind. Aber weder in Südkorea noch in den Vereinigten Staaten interessiert sich jemand dafür. Für Südkorea, einen der antikommunistischen Frontstaaten des Kalten Krieges, bleibt No Gun Ri tabuisiert. Die Erinnerung an derartige Gräuel gilt als Teufelswerk nordkoreanischer Geschichtsschreibung und Propaganda. Und in Washington herrscht, nur wenige Jahre, nachdem das Massaker im südvietnamesischen My Lai (März 1968) die Nation aufgewühlt hat, keinerlei Neigung, sich auch noch mit den Toten von Nu Gun Ri zu belasten und ein dort am 26. Juli 1950 verübtes Kriegsverbrechen einzugestehen.

Depesche des Botschafters

Mitte der neunziger Jahre wenden sich 30 Überlebende und Hinterbliebene des Infernos von No Gun Ri mit einer Petition an das "Kompensationskomitee" der Regierung in Seoul, die zunächst energisch bestreitet, dass es diesen Vorfall überhaupt gegeben hat, doch können sich die Opfer in den südkoreanischen Medien Gehör verschaffen. Als schließlich am 30. September 1999 die US-Agentur Associated Press eigene Recherchen über No Gun Ri veröffentlicht und dabei etliche US-Kriegsveteranen zu Wort kommen lässt, ist die Mauer des Schweigens schwer erschüttert.

Nun ist das Pentagon gefordert, die Ereignisse von No Gun Ri lassen sich nicht länger ignorieren. Nach 15-monatiger Untersuchung kommt der Generalinspekteur der US-Armee in einem im Januar 2001 publizierten Report zu einem Fazit, das die koreanischen Überlebenden wie die meisten amerikanischen Zeitzeugen als "Schönfärberei" bezeichnen. Wörtlich heißt es: "Was den Zivilisten in der Nähe von No Gun Ri im späten Juli 1950 widerfuhr, war eine tragische und zutiefst bedauernswerte Begleiterscheinung eines Krieges, der unvorbereiteten amerikanischen und südkoreanischen Streitkräften aufgezwungen worden war."

Unter dem Eindruck des Berichts bedauert zwar Präsident Clinton kurz vor seiner Demission im Januar 2001 den Tod unbewaffneter Zivilisten in No Gun Ri. Förmlich entschuldigen möchte er sich freilich nicht. Die Army habe zweifelsfrei festgestellt, die GIs hätten in Korea nicht vorsätzlich getötet - diesem Urteil folge das Weiße Haus.

Bald jedoch wird die offizielle Version der Streitkräfte durch ein Dokument widerlegt, das der Historiker Sahr Conway-Lanz im US-Nationalarchiv entdeckt hat. Es handelt sich um ein Schreiben des damaligen US-Botschafters in Südkorea, John J. Muccio, vom 26. Juli 1950. Darin wird das U.S. State Department über eine "notwendige" Entscheidung der 8. US-Armee unterrichtet, die in den USA zu negativen Reaktionen führen könnte. Adressat des Briefes von Muccio ist Dean Rusk, damals als Unterstaatssekretär für Ostasien zuständig - später, während des Vietnamkrieges, selbst Chef des State Departments. Muccio spricht in seiner Depesche von einem "sehr ernsten Problem", denn die durch Flüchtlingsströme verstopften Straßen behinderten die eigenen Militärfahrzeuge. Außerdem befürchte man, dass sich unter den Flüchtlingen nordkoreanische Agenten befänden. Sodann verweist Muccio auf ein Tags zuvor, am 25. Juli, stattgefundenes Treffen zwischen ihm, dem Kommandeur der 8. US-Armee, deren Sicherheitsdienst, Mitarbeitern des südkoreanischen Innenministeriums sowie dem Direktor der Nationalpolizei. Kernpunkt sei die Order gewesen: "Nähern sich Flüchtlinge nördlich der US-Linien, werden Warnschüsse abgefeuert. Rücken sie dennoch weiter vor, werden sie erschossen." - Muccios Brief an Rusk wurde weder im zitierten Report der US-Armee von 2001 berücksichtigt, noch ging er je den südkoreanischen Behörden zu, die ihrerseits die Geschehnisse von No Gun Ri untersuchten.

Operation Rattentöter

Yi Mahn-Yol, Vorsitzender des Nationalen Instituts der Geschichte Koreas, geht davon aus, dass von Anfang an das vorhandene Kommandosystem 1950 "in alles einbezogen war und es sich keineswegs um einen beklagenswerten Unfall handelte". Auch deshalb nicht, weil die Hölle von No Gun Ri kein Einzelfall blieb.

Im August 1950 gibt Generalmajor Hobart R. Gay den Befehl, eine Brücke über den Naktong zu sprengen. In seinem Bericht ist davon die Rede, dass es dabei keine Toten gegeben habe. Als Pioniere eine zweite Brücke über denselben Fluss in die Luft sprengen, so der Zeitzeuge und ehemalige Feldwebel Carroll F. Kinsman aus Gautier (Mississippi), seien viele Menschen ums Leben gekommen - "die gesamte Brücke war voller Flüchtlinge". In den Militärannalen heißt es dazu lakonisch: "Ausgezeichnete Ergebnisse". Ebenfalls im August 1950 finden 80 Zivilisten den Tod, die in einem Schrein des Dorfes Kokaan-Ri nahe der südkoreanischen Stadt Masan Schutz suchen.

Als Südkoreas Präsident Syngman Rhee von US-Truppen wieder in seinen Amtssitz in Seoul, das zeitweilig unter nordkoreanischer Kontrolle steht, eskortiert wird, nehmen dessen Leute furchtbare Rache an allen, die sie verdächtigen, mit dem Gegner kooperiert zu haben. Tausende fallen den Razzien von Todesschwadronen zum Opfer.

Das wiederum führt zu verstärkten Aktivitäten der südkoreanischen Guerilla, die Anfang 1951 ihren Höhepunkt erreichen werden. Das US-Oberkommando schätzt die Zahl der Aufständischen auf 30.000 bis 35.000 Personen. Um sie auszuschalten, läuft die Operation Rattentöter an, deren Führung einem der fanatischsten Antikommunisten Südkoreas, dem General Paik Sun-Yup, übertragen wird. General Matthew B. Ridgway, der zwischenzeitlich den von US-Präsident Harry S. Truman entlassenen Oberkommandierenden Douglas MacArthur abgelöst hat, verkündet im Januar 1952 einen durchschlagenden Erfolg dieses Unternehmens: "Nahezu 20.000 Freischärler - Banditen und organisierte Guerilleros - wurden getötet oder gefangen genommen. Damit ist diese Irritation ein für allemal beendet". Doch noch ein ganzes Jahr lang soll sich die Guerilla im Südwesten Koreas, in den Chiri-Bergen, halten.

Für das US-Magazin Life verfasst die Fotografin Margaret Bourke-White im Dezember 1952 ein Feature mit dem Titel The savage, secret war in Korea ("Der grausame, geheime Krieg in Korea"), denn weiterhin sorgen die Guerillaeinheiten hinter der Front für einen Krieg im Kriege. Bourke-White interviewt mehrere Aufständische, unter ihnen couragierte Frauen, sie schreibt: "Einige der Insurgenten wechselten die Fronten und schlossen sich den Roten an. Andere Aufständische kamen direkt aus dem Norden und hatten die Frontlinien der Alliierten überwunden. Insgesamt handelte es sich um eine Truppe, die niemals über zwei Jahre lang den um sie herum tobenden Krieg und die harschen Bedingungen in gebirgigem Terrain überlebt hätte, wäre sie nicht von der Bevölkerung versorgt und unterstützt worden."

Das ist wohl eine Erklärung für die Geschehnisse von No Gun Ri, bei denen nicht zuletzt Rache an der Zivilbevölkerung im Spiel war, angefacht durch den manischen Antikommunismus der US-Truppen und ihres südkoreanischen Alliierten Syngman Rhee, aber auch durch rassistische Mentalitäten unter nicht wenigen GIs. So kam es zum Bruch mit ethischen Normen, wie das in Kriegen üblich ist, in den Jahren des Koreakrieges allerdings vielfach in Barbarei ausartete.

Quellen: Robert L. Bateman: No Gun Ri: A Military History of the Korean War Incident. Mechanicsburg 2002; Sahr Conway-Lanz: Collateral Damage: Americans, Noncombatant Immunity and Atrocity after World War II. New York/Abingdon 2006; Department of the Army Inspector General: No Gun Ri Review. Washington, D.C. 2001.


Rainer Werning ...

... ist Politikwissenschaftler und Publizist. Seit Herbst 2003 steht er dem Koreaverband e.V. im Essener Asienhaus vor. Im vergangenen Jahr wurde von ihm das im PapyRossa Verlag (Köln) erschienene Buch Korea - Entfremdung und Annäherung mit herausgegeben. Als Werning Anfang der siebziger Jahre zum ersten Mal in Korea unterwegs war, interessierte ihn vor allem der Vergleich zwischen dem damals geteilten Deutschland und der ebenso geteilten Halbinsel in Ostasien. Im Vorfeld der Olympischen Spiele 1988 in Seoul stellte ihn die Arbeitsgemeinschaft Korea Olympia-Kampagne unter dem Dach von terre-des-hommes als Leiter an. Die Auslandserfahrung bewirkte, dass sein Glaube an Autoritäten endgültig "zerbröselte", wie Werning sagt. Er habe erfahren und sei fasziniert davon, dass sich "der Buddhismus nicht als Religion begreift, sondern als Einsicht in Lebensarten".

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