Mit Bajonetten erstochen

Code Cherokee Vor 30 Jahren beendete das südkoreanische Militär mit aller Gewalt einen kurzen Frühling der Demokratie in der Stadt Kwangju. Und die Amerikaner sahen zu

Tage lang waren Schüsse zu hören, wie man dies sonst nur aus Kriegsfilmen kannte. Inzwischen erreichte ich die Kumnam-Magistrale, die früher Besucher mit ihren vielen Blumenkästen und ihrem Duft willkommen hieß. Die Freundlichkeit der Bewohner, die gefälligen Anlagen – all das war Erinnerung. Die Stadt schien sich in eine Ruine zu verwandeln und hinter schwarzen Wolken zu verschwinden“. So der Augenzeugenbericht eines Überlebenden des Kwangju-Massakers, eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte Südkoreas.

Im südwestlichen Kwangju, Hauptstadt der Provinz Süd-Cholla, hatten die Bürger der damals etwa 800.000 Einwohner zählenden Kommune 1980 Ungeheuerliches gewagt – sie erhoben sich in einem Volksaufstand gegen die herrschenden Militärs und riefen die Freie Stadt Kwangju aus. Die Obristen sahen die nationale Sicherheit gefährdet, befanden auf kommunistische Unterwanderung durch den Norden und schickten kurzerhand Soldaten gegen die Aufsässigen. Bis Ende 1980 dauerte der martialische Großeinsatz. Die Bilanz: Laut offiziellen Angaben starben etwa 200 Menschen, nichtstaatliche Stellen sprechen seither von über 2.000 Toten.

Vom Geheimdienst erschossen

Seit den sechziger Jahren hatte Südkorea einen rasanten, staatlich gelenkten industriellen Aufschwung erlebt – es gab zweistellige Wachstumsraten und mehr als nur einen Hauch von Prosperität. Zwar entstand in den städtischen Zentren langsam eine dünne Mittelschicht, doch galt weiter das Kriegsrecht, nichts hatte sich daran seit Ende des Korea-Krieges 1953 geändert. Den neuen Reichtum teilten sich die Galionsfiguren der Chaebol, der mächtigen Finanz- und Wirtschaftskonglomerate, und der politisch-militärischen Führungsclique um General Park Chung-Hee. 1979 kam es nach Jahren staatlich verordneter Ruhe landesweit zu Protesten und Streiks. Dem Ruf nach Demokratisierung und einer Wiedervereinigung mit dem Norden schlossen sich nunmehr auch bürgerlich-gemäßigte Kräfte an. Im Weißen Haus regierte zu jener Zeit mit James Earl Carter (im Amt: 1977 - 1981) ein US-Präsident, der weltweiten Respekt vor elementaren Menschenrechten zur Maxime seiner Politik erklärt hatte und damit andere disziplinierte.

Plötzlich wurde Staatschef Park für Südkoreas neue Wirtschaftselite zur Hypothek, er verlor das Charisma des Generalissismus und der Vermögen, als integrative Leitfigur zu wirken.

Am 26. Oktober 1979 wurde Präsident Park von seinem eigenen Geheimdienstchef Kim Jae-Kyu erschossen. Die interne Erosion des Regimes wusste eine Gruppe um Generalleutnant Chun Doo-Hwan für eigene Interessen zu instrumentalisieren. Am 12. Dezember 1979 putschte Chun mit seinen Getreuen gegen die damalige Armeeführung, die ihm zu unentschlossen erschien. Der neue „starke Mann“ übernahm im April 1980 selbst die Führung des mächtigen Geheimdienstes KCIA und rief sich zum neuen Präsidenten aus.

In den Monaten der Verwirrung seit der Ermordung Park Chung-Hees hatte es immer wieder Demonstrationen gegeben. Vorrangig Studenten, aber auch miserabel bezahlte Industriearbeiter, in der Illegalität arbeitende Gewerkschafter und Kirchengemeinden bestanden auf demokratischen Verhältnissen. Die Presse schrieb wie nie seit 1953 – politische Gefangene kamen frei. Die Opposition riskierte es, dem Parlament einen Antrag vorzulegen, um das Kriegsrecht aufzuheben. Die Abstimmung darüber sollte am 20. Mai 1980 erfolgen. Wozu es nie kam. Die Militärs verhinderten ein solches Votum, indem sie zwei Tage zuvor ein verschärftes Kriegsrecht verhängten. Das Parlament, Parteibüros und Universitäten mussten schließen, jede politische Betätigung war verboten. Hunderte von Oppositionellen kamen ins Gefängnis, unter ihnen befand sich auch der damals bekannteste Oppositionspolitiker und spätere Präsident Kim Dae-Jung (im Amt: 1998–2003), ein Spross der Provinz Süd-Cholla und bereits unter Park inhaftiert.

Dagegen regte sich erbitterter Widerstand. Etwa 200.000 Einwohner Kwangjus gingen auf die Straße, woraufhin die Generalität Fallschirmjäger entsandte und Straßenschlachten provozierte. Studentinnen wurden auf offener Straße nackt ausgezogen und von Soldaten mit Bajonetten erstochen, anderen die Brüste abgeschnitten, Verletzte in Hospitälern vom Operationstisch gerissen und aus dem Fenster gestürzt. Solche Gräueltaten brachten Kwangjus Bürger schließlich dazu, Waffen- und Munitionsdepots zu stürmen und die Freie Stadt Kwangju auszurufen. Aus friedlichen Demonstrationen wurde ein bewaffneter Aufstand, die Truppen flohen aus der rebellischen Metropole.

Posttraumatische Erinnerungen

Danach erlebte Kwangju, wo mittlerweile im Regierungsgebäude eine provisorische Verwaltung Quartier bezogen hatte, sechs Tage trügerischer Freiheit. Während das Regime einen Dialog beschwor, ließ es den Belagerungsring um die Stadt immer enger zusammen ziehen. In der Nacht zum 27. Mai stürmten aus der Grenzregion zu Nordkorea abgezogene Elitesoldaten das Zentrum, durchkämmten jedes Haus und verhafteten Hunderte – auch Kinder. Kwangju erlebte den schwärzesten Tag seiner Geschichte.

Sowohl General John A. Wickham, Oberbefehlshaber des UN-Command des U.S.South Korean Combined Forces Command und Oberkommandierender der 8. US-Armee, wie auch der damalige US-Botschafter in Seoul, William H. Gleysteen, waren darüber informiert, dass südkoreanische Eliteeinheiten nach Seoul und Kwangju verlegt werden sollten, spielten diese aber als innerkoreanische Angelegenheit herunter.

Der amerikanische Journalist Tim Shorrock hatte Mitte der neunziger Jahre die Möglichkeit, mehrere hundert Seiten Akten einzusehen, aus denen sich entnehmen ließ, wie Washington und Seoul vor und nach dem Kwangju-Massaker kommuniziert hatten. Unter dem Code Cherokee war neben dem Präsidenten nur ein kleiner Zirkel von Geheimdienstlern und Mitarbeitern aus dem Weißen Haus, dem State Department und Pentagon einbezogen. Shorrocks Fazit: Die verantwortlichen US-Stellen in beiden Hauptstädten duldeten, was die südkoreanische Soldateska tat.

Trotz ihres Plädoyers für Menschenrechte hofierte die Carter-Administration das neue Regime in Seoul, weil sie einen weiteren Konflikt scheute. In Teheran war nach dem Sturz des Schahs die US-Botschaft Monate lang belagert, zugleich verschärfte sich die Konfrontation mit der Sowjetunion wegen ihres Einmarsches in Afghanistan.

Carters Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski und Richard C. Holbrooke, damals im State Department zuständig für asiatische und pazifische Angelegenheiten, prägten die realpolitische Formel: Zunächst voll und ganz auf den autoritären General Chun setzen, um ihn später zu mäßigen. Jedenfalls genoss Chun Doo-Hwan im Februar 1981 das Privileg, als erster ausländischer Staatschef vom neu gewählten US-Präsidenten Ronald Reagan empfangen zu werden.

Das bis dahin tremoloartig beschworene Bedrohungsszenario, Nordkorea sei vom Wahn besessen, den Süden zu „infiltrieren und zu schlucken“, entpuppte sich als Zwecklüge. Es waren südkoreanische Soldaten, die auf südkoreanische Zivilisten geschossen hatten. Schaden nahm auch der Schutzmacht-Mythos der USA. Wie sich zeigte, hatten die in Südkorea stationierten GIs zuallererst die strategischen Interessen einer Großmacht zu wahren – die Bevölkerung zu schützen, galt als zweitrangig. Vernarbt sind die Wunden der Ereignisse bis heute nicht.

Viele Südkoreaner leiden unter posttraumatischen Erinnerungen an das Inferno von Kwangju, dessen Name mit einer vitalen Bewegung für Demokratie auf der auch 65 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch immer geteilten koreanischen Halbinsel verbunden ist. Immerhin musste 1993 die letzte Militärdiktatur in Seoul abdanken.


Zum Weiterlesen: Kwangju Diary, Beyond Death, Beyond the Darkness of the Age. Lee Jai-Eui University of California Press, Los Angeles, 1999Darin enthalten sind auch Beiträge von Tim Shorrock.Korea on the Brink, A Memoir of Political Intrigue and Military Crisis John A. Wickham D.C., Brasseys, Inc., Washington, 2000 Rainer Werning ist Asien-Experte und schreibt seit Jahren für den Freitag. Er hat außerdem den Beitrag über die Cheonan-Affäre auf S. 10 verfasst

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