Schüsse vor den Bug

Korea Die "Cheonan-Affäre" entfaltet eine Dynamik der ­Eskalation, die sich kaum eindämmen lässt. Nord und Süd stehen sich wieder in den bekannten Schlachtordnungen gegenüber

Es ist möglich, dass eine nordkoreanische Seemine in unser Gebiet getrieben ist”, meinte Südkoreas Verteidigungsminister Kim Tae-Young am 28. März, zwei Tage nach dem Sinken der südkoreanischen Korvette Cheonan im Gelben Meer. In einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur AP fügte der Minister hinzu, dass dies wohl nicht beabsichtigt war. Nordkorea habe während des Koreakrieges (1950 - 1953) etwa 4.000 solcher Minen versenkt, von denen bis heute nicht alle gehoben seien. Gleichzeitig erklärte ein Sprecher im Blauen Haus, dem Amtssitz des südkoreanischen Präsidenten, in der Zeitung The Korea Herald, von den vier möglichen Gründen für den Untergang der Cheonan – interne Explosion, Kollision mit einem Riff, Explosion einer Seemine oder Torpedo-Attacke – sei eine Seemine der wahrscheinlichste Grund. Gegenüber der Korea Times vom 7. April pflichtete dieser Version Won See-Hoon höchstpersönlich bei, immerhin Direktor des südkoreanischen Nationalen Sicherheitsdienstes. Dann dauerte es fast zwei Monate, bis eine Untersuchungskommission südkoreanischer, amerikanischer, japanischer, australischer und britischer Experten am 20. Mai zu dem Ergebnis kam, dass „offensichtlich“ ein nordkoreanischer Angriff für das Unglück am 26. März verantwortlich sei.

Was danach in rascher Sequenz folgte, waren empörte Aufschreie in Seoul, Tokio und Washington (und in putativem Gehorsam auch in mehreren EU-Staaten), hartnäckiges Schweigen in Peking und scharfe Dementis aus Pjöngjang. Was also? Trifft der Untersuchungsbericht zum „Cheonan-Vorfall“ zu, wären Südkorea, die USA und Japan in der komfortablen Lage, daraus kräftig politisch Kapital zu schlagen. Sollte sich der Report – und sei es nur in Teilen – irgendwann als falsch oder „fabriziert“ erweisen, wäre das zweifellos ein Triumph für die Führungsriege um den Geliebten Führer Kim Jong-Il (68).

Auch Hyundai wäre bestraft

Vorerst jedoch scheint Südkoreas Präsident Lee Myung-Bak entschlossen, den Norden durch ein Bündel von Maßnahmen abzustrafen. Der Handel mit der Volksrepublik (sein Volumen liegt bei etwa 250 Millionen Dollar im Jahr) soll weitgehend eingefroren werden. Ausgenommen bleibt bislang noch der auf nordkoreanischem Territorium gelegene Gaeseong-Industriekomplex. Einst als Kronjuwel einer gelungenen innerkoreanischen Kooperation gepriesen, arbeiten in ihm augenblicklich etwa 1.000 Südkoreaner und über 40.000 Arbeitsnomaden aus dem Norden. Es ist vor allem Südkoreas Hyundai-Konzern, der als Wegbereiter dieses ambitionierten Nord-Süd-Projekts größten finanziellen Schaden hinzunehmen hätte, würde der Komplex geschlossen. Außerdem sollen nordkoreanischen Handelsschiffen künftig Abkürzungen durch Südkoreas Hoheitsgewässer verboten sein. Lee forderte von Pjöngjang überdies eine öffentliche Entschuldigung für den „Cheonan-Vorfall“ und wiederholt seine Absicht, diesen vor den UN-Sicherheitsrat zu bringen.

Ähnlich der Tonfall von US-Außenministerin Clinton, die unmittelbar nach dem Cheonan-Untersuchungsbericht zu einer Ostasienreise aufbrach, die sie über Tokio und Peking nach Seoul führte. Während sie auf ihrer ersten Station Premierminister Hatoyama Yukio zusicherte, das amerikanisch-japanische Verhältnis zu festigen (darunter fällt die heftig umstrittene Präsenz von GIs und Militärbasen auf der Insel Okinawa), mahnte sie gegenüber ihren chinesischen Gastgebern eine gemeinsame Verantwortung bei der Lösung der „hoch prekären Lage“ auf der koreanischen Halbinsel an, um in Seoul Präsident Lee volle Rückendeckung bei der Überwindung der aktuellen Krise zuzusichern. Es sei geplant, alsbald weitere gemeinsame Seemanöver abzuhalten.

Peking übt sich in Zurückhaltung. Am letzten Mai-Wochenende konferieren Ministerpräsident Wen Jiabao, Präsident Lee und Japans Premier Hatoyama auf der südkoreanischen Insel Jeju. Dort gipfelt Wens Botschaft in dem Kernsatz: „Wir müssen Frieden und Stabilität in Nordostasien durch alle nur denkbaren Anstrengungen fördern. Bei schwierigen Problemen sollten wir einander rücksichtsvoll begegnen, vernünftig mit sensiblen Dingen umgehen und das politische Vertrauen untereinander stärken.“ China ist und bleibt der mit Abstand wichtigste Handelspartner sowie politische Alliierte Nordkoreas und hieß dessen Kim Jong-Il erst Anfang Mai zu einem Staatsbesuch willkommen.

Pjöngjang will sich nicht einschüchtern lassen, es hagelte unmittelbar nach der Veröffentlichung des Cheonan-Reports harsche Reaktionen. In einer ihrer seltenen direkten Stellungnahmen warf die Nationale Verteidigungskommission Seoul vor, der Bericht entbehre jeglicher Grundlage, es handele sich um ein „abgekartetes Spiel“. Der Vizevorsitzende der Kommission und somit die Nummer zwei in der nordkoreanischen Nomenklatur, der knapp 80-jährige General O Kuk-Ryol, attackierte die USA und Südkorea, sein Land „durch massiven Druck erwürgen zu wollen“. Sollte Südkorea die abgekündigten Strafmaßnahmen ergreifen, drohe ein „totaler Krieg“, was immer das heißen mag.

Wie beim Tonkin-Zwischenfall

Hinter dieser Eskalation vermuten südkoreanische Nordkorea-Watchers das Kalkül Pjöngjangs, aufgrund der prekären außenpolitischen und Sicherheitslage die Binnensolidarität zu festigen, was es Kim Jong-Il schließlich erlauben würde, seinen Sohn und mutmaßlich designierten Nachfolger, den 28-jährigen Kim Jong-Un, hoffähig zu machen. Um ein solches Szenario zu vereiteln und die Volksrepublik zu destabilisieren, spekulieren wiederum amerikanische Nordkorea-Experten, gäbe es die „Cheonan-Affäre“. Sie erinnere doch stark an den „Tonkin-Zwischenfall“ vor der Küste Nordvietnams im August 1964. Seinerzeit lieferten vermeintliche Attacken auf die Zerstörer USS Maddox und USS Turner Joy einen Vorwand, mit dem Luftkrieg gegen Hanoi und Haipong zu beginnen.

Rainer Werning ist Politikwissenschaftler und Publizist. Er steht dem Koreaverband e.V. in Köln vor und hat in dieser Ausgabe außerdem die Zeitgeschichte auf S. 12 verfasst

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