Traumfabrik ohne Disneyland

Der "Gaeseong Industrial Complex" Südkoreanische Unternehmer kennen kaum noch Berührungsängste - trotz der Debatten um das Nuklearprogramm des Nordens

Unweit des 38. Breitengrades und der so genannten Entmilitarisierten Zone liegt die nordkoreanische Stadt Gaeseong. Während des Koreakrieges (1950-1953) mehrfach ins Fadenkreuz heftiger Artillerieattacken geraten, bezeugt sie heute mit dem Gaeseong Industrial Complex (GIC), wozu innerkoreanische Kooperation fähig sein kann. Im GIC sind Südkoreas Unternehmer und Banker mit einem Investitionsvolumen von etwa zwei Milliarden US-Dollar und technologischem Know-how präsent - der Norden mit Grund und Boden sowie vergleichsweise billigen Arbeitskräften. Sollte auch nur halbwegs eintreten, was Experten diesseits und jenseits des 38. Breitengrads prophezeien, dürfte der GIC zum Laboratorium einer auch innerhalb der Volksrepublik langfristig wirkenden ökonomischen Transformation werden.

Es begann mit dem historischen Gipfeltreffen zwischen den Präsidenten Kim Dae-Jung und Kim Jong-Il Mitte Juni 2000 in Pjöngjang, als eine Gemeinsame Nord-Süd-Erklärung unterzeichnet wurde, die dazu führte, eben diesen GIC aufzubauen. Im April 2004 vereinbarten das südkoreanische Unternehmen Hyundai Asan und das Asia-Pacific Peace Committee Nordkoreas, dass die Volksrepublik ein 66,1 Quadratkilometer großes Areal für 50 Jahre als Ökonomische Sonderzone verpachtet.

Waren 2004 zwei Firmen im GIC tätig, waren es im Frühjahr 2006 bereits 15 zumeist mittelständische südkoreanische Betriebe - bis Ende 2007 sollen nun in Gaeseong mindestens 300 Unternehmen Waren im Wert von etwa zwei Milliarden US-Dollar produzieren. Die Zahl der beschäftigten Nordkoreaner könnte - besagen die Prognosen in Pjöngjang - 2012 von derzeit 20.000 auf 730.000 gewachsen sein. Im Augenblick beziehen sie Monatslöhne zwischen umgerechnet 57 und 75 US-Dollar, was in etwa den Standards in den Sonderwirtschaftszonen Chinas und Vietnams vergleichbar ist.

Während Südkoreas Regierung die GIC-Arbeiter gern direkt bezahlt sähe, beharrt der nordkoreanische Partner auf einer temporären Lösung: Danach dürfen die Angestellten ihre Lohnabrechnungen lediglich überprüfen und unterschreiben, um danach nordkoreanische Won ausgezahlt zu bekommen. Doch soll es künftig im GIC zumindest Wechselstuben geben, woran die südkoreanische Seite die Erwartung knüpft, dass es zu direkten Lohnzahlungen in der frei konvertierbaren südkoreanischen Währung kommt. Im Februar 2006 fand im GIC überdies ein - für nordkoreanische Verhältnisse ungewöhnliches - Symposium über Investitionen statt, nach dem als ausgemacht galt, dass in Gaeseong auch westliche Modenschauen stattfinden können.

Am 15. März 2006 wurden im Osten und Westen des Landes zwei Bahn- und Straßenverbindungen mit Checkpoints auf der südkoreanischen Seite eröffnet, um zu ermöglichen, dass alsbald bis zu vier Millionen Menschen jährlich die Volksrepublik besuchen können. Im Jahr 2003 passierten gerade einmal 3.600 Personen die Demarkationslinie, zwei Jahre später waren es immerhin schon 66.000. Mehr noch als ein lebhafter Besucherverkehr scheint jedoch der innerkoreanische Handel Indikator für einen Wandel durch Annäherung zu sein. Wurde für 1998 noch ein Warenaustausch im Wert von 222 Millionen Dollar verbucht, lag die vergleichbare Zahl für 2005 bei zwischenzeitlich 1,05 Milliarden - Tendenz 2006 steigend. Mittlerweile avancierte Südkorea nach China zum zweitgrößten Handelspartner Nordkoreas. Als Ende Februar 2006 der Korean Overseas Information Service 120 in Seoul akkreditierte ausländische Journalisten zu einem Tagestrip in den GIC eingeladen hatte, war die Resonanz danach teils euphorisch, man griff auf den Slogan südkoreanischer Politiker zurück, der GIC sei "eine Traumfabrik des Friedens und gemeinsamen Wohlstands".

Ohne Zweifel erleichtert das Projekt heute mehr denn je die Fühlungnahme zwischen Nord und Süd - es wären vermutlich sogar florierende Beziehungen denkbar, würde der Streit um Nordkoreas Nuklearprogramm und seine Raketentests vollends beigelegt. Dann könnte ein - wenn schon nicht vereintes - so doch zumindest einiges Korea mit einem von Busan im Süden bis nach Sinûiju im Nordwesten (an der chinesischen Grenze) wiederhergestellten Eisenbahnnetz bewirken, das ein "Nordostasiatischer Gemeinsamer Markt" entsteht, der potente Partner wie China und Russland einbindet.

Ein ungelöstes Problem im GIC bleibt freilich, ob oder inwieweit Transporte strategischer Güter stattfinden können, und wer als Ursprungsland der dort hergestellten Produkte firmiert. Die USA betrachten GIC- Erzeugnisse als Made in North Corea, obwohl Seoul in dieser Hinsicht anderer Meinung ist und für die Öffnung des GIC auch und gerade für internationales Kapital plädiert. Was bleibt, sind zwei große Paradoxa, besser gesagt Anachronismen: Auf der koreanischen Halbinsel gilt seit Ende des Korea-Kriegs im Juli 1953 lediglich ein Waffenstillstand (den Südkorea nicht einmal unterzeichnete) und damit kein Friedensvertrag. Außerdem macht die Regierung in Seoul kaum Anstalten, das seit Ende1948 bestehende (wenngleich mehrfach revidierte) Nationale Sicherheitsgesetz zu kassieren, mit dem in der Vergangenheit Kritiker und Gegner der früheren Militärdiktaturen übel traktiert wurden. In diesem Gesetz wird Nordkorea nicht als Staat behandelt, sondern als "regierungsfeindliche Organisation" bezeichnet. Vorerst dürfte sich daran kaum etwas ändern - da ist es weitaus manierlicher, man pflegt einen industrial anstelle eines security complex.

Der Autor ist Vorstandsvorsitzender des Korea-Verbands e.V. (Berlin) und Ko-Herausgeber des im Kölner PapyRossa Verlag erschienenen Bandes Korea - Entfremdung und Annäherung.


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