Faktencheck: Hilft Sitzenbleiben?

Bildungspolitik Soll das Sitzenbleiben abgeschafft werden? Ein Streifzug durch Untersuchungen aus der Bildungsforschung, die helfen könnten, die Frage zu beantworten

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Faktencheck: Hilft Sitzenbleiben?

Text und Recherche: Christian Füller

Argumentkarte: Ralf Grötker

Deutschlands Schulen lassen im Vergleich zu anderen Ländern ungewöhnlich oft Schulkinder sitzen. Sie müssen dann ein Jahr komplett wiederholen. Die Absicht der rot-grünen Landesregierung in Niedersachsen, das Sitzenbleiben abzuschaffen beziehungsweise überflüssig zu machen, löste in den letzten Wochen eine heftige Debatte aus. Medien und Menschen streiten über die Frage, ob das Durchfallen eine sinnvoll pädagogische Maßnahme ist. Welche Evidenzen gibt es, auf deren Grundlage der Streit entschieden werden könnte?

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Eigentlich sollte die momentane Aufgeregtheit der öffentlichen Diskussion überraschen: Die Frage des Sitzenbleibens wurde schon seit der ersten Pisa-Studie im Jahr 2000 eingehend untersucht. Zudem haben bereits mehrere Bundesländer wie Schleswig-Holstein, Baden-Württemberg, Hamburg, Berlin und Rheinland-Pfalz Schulreformen durchgeführt, die das Sitzenbleiben ganz oder teilweise unterbinden. In der Fachwelt gilt die Nichtversetzung überwiegend als überholt. Sie ist Ausdruck eines Schulsystems, das für das 21. Jahrhundert nicht mehr haltbar ist. Dennoch gibt es Lobbygruppen und Forscher, welche die Nichtversetzung in die nächste Klasse als positiven Ansporn ansehen. Auch in der Bevölkerung ist eine deutliche Mehrheit für das Sitzenbleiben.

Das Sitzenbleiben kam vor allem nach der ersten Pisastudie in Verruf, die 2001 erschien. In dieser Studie hatten die deutschen 15-jährigen nicht nur von der Leistung her schlecht abgeschnitten, sie waren sozusagen auch in der Höhe der erreichten Klassenstufen weit hinter den Schülern anderer Staaten zurück geblieben. Während die Schüler anderer Länder meist schon in der 10. Jahrgangsstufe waren, hingen die deutschen Schüler ungewöhnlich deutlich hinterher. In der 10. Klasse befanden sich von den deutschen Pisateilnehmern nur 24 Prozent, in der 9. Klasse rund 60 Prozent. Und sogar unterhalb der neunten Klasse fanden sich noch 16 Prozent der deutschen 15-jährigen.

„Der Hauptgrund für den hohen Anteil an Schülerinnen und Schüler, die eine niedrigere als die ihrem Altersjahrgang entsprechende Klassenstufe besuchen ist eine vergleichsweise restriktive Versetzungspraxis“,

schrieb Gundel Schümer im Jahr 2001 im ersten Pisaband (Baumert et al 2001: 414). Kurz gesagt: In anderen Ländern waren 9 von 10 Schülern in der 10. oder gar 11. Klasse, in manchen die Hälfte – in Deutschland nur ein Viertel.

Daraufhin wurden eingehende Analysen vorgenommen, ob es eventuell sogar einen Zusammenhang zwischen dem Sitzenlassen und den insgesamt mittelmäßigen Leistungen der deutschen Schulen gebe. Ausgangspunkt waren drei drei Pisa-Testrunden, die in den Jahren 2000, 2003 und 2006 durchgeführt wurden. Die Tests erfolgten jeweils in den drei Domänen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften. Alle sechzehn Bundesländer wurden einbezogen. Auf diese Weise wurden insgesamt 144 Tests realisiert. Das Ergebnis: Nur in drei dieser 144 Tests lag die Anzahl jener Schüler, welche die Messlatte der durch PISA definierten Anforderungen erfüllten, über der Anzahl von Schülern, welche den Vorgaben nicht nachkamen.

Sitzenbleiben ist Mit-Ursache für schlechte Leistungen

Eine der Tiefenanalysen des Schulsystems vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung zeigte, dass vor allem zwei Ursachen für das niedrige Leistungsniveau an deutschen Schulen verantwortlich sind: das gegliederte Schulsystem (inklusive der "Abschulung" von leistungsschwachen Schülern zum Beispiel vom Gymnasium in die Realschule) und das Sitzenbleiben. Die reine Sitzenbleiberquote lag in Deutschland durchschnittlich bei 24 Prozent, im Westen des Landes bei über 30 Prozent (mit Spitzenwerten in Bremen und Schleswig-Holstein), im Osten bei knapp 15 Prozent.

Der Mechanismus, welcher dafür verantwortlich ist, dass das Sitzenbleiben zu einer Verschlechterung des Leistungsniveaus führt, besteht vor allem darin, dass die Wiederholung einer Klasse von den Schülerinnen und Schülern als ein massiver Misserfolg erlebt wird. Dieser Misserfolg wird durch die Wiederholung selbst nicht kompensiert. Analysen von Tillmann und Meier zeigten, dass die Leistungen der Sitzenbleiber schwächer sind als die der normal versetzten Schüler (2001: 475) Die Autoren führen dies darauf zurück, dass zwei leistungsbehindernden Faktoren zusammenkommen:

„Zum einen sind Wiederholer im Durchschnitt mit weniger guten kognitiven Voraussetzungen ausgestattet (...); zum zweiten wird ihnen aber auch die Befassung mit den anspruchsvolleren fachlichen Inhalten der nächsten Klassenstufe verwehrt. Und dies gilt für alle Fächer.“ (475)

Die Autoren ziehen damit die pädagogische Wirksamkeit des Sitzenbleibens grundsätzlich in Zweifel.

Jungs und Migranten betroffen

Das Sitzenbleiben ist nicht für jede soziale Gruppe gleichbedeutend. Es betrifft viel stärker Jungen als Mädchen und es wirft vor allem SchülerInnen mit Migrationshintergrund aus der Bahn. Krohne und Meier (2004) haben die Versetzungspraxis auf Jungen und Migranten besonders untersucht. Die Studie legt nahe, dass ein pädagogisches Instrument, das derart ungleich in Schullaufbahnen interveniert, mit der Verfassung nicht vereinbar ist. „In allen Schulformen ist der Sitzenbleiberanteil der Jungen deutlich höher als der ihrer Mitschülerinnen“ (2004: 121) In der Schule mit mehreren Bildungsgängen und der Realschule bleiben sieben Prozentpunkte mehr Jungen als Mädchen sitzen. (z.B. 23,7 zu 16,4 Prozent; 30 zu 23,2 Prozent). Bemerkenswert ist dabei, dass die Ursachen für das Sitzenbleiben nicht in der mangelnden intellektuellen Leistungsfähigkeit der Jungen gesehen werden, sondern Eigenschaften wie Ausdauer, Genauigkeit oder Sorgfalt den Ausschlag geben. Es gibt also eine soziale Diskriminierung von Jungen in der Schule. Ältere Untersuchungen von Ingenkamp kamen zu dem gleichen Ergebnis (Ingenkamp 1972: 98).

Bei Migranten liegt der Fall noch deutlicher. „Es offenbart sich eine im Vergleich zu deutschen Kindern alarmierend hohe Sitzenbleiberquote der Migrantenkinder in der Grundschule“ (Krohne & Meier 2004: 135) Die Rate der Nichtversetzungen differiert um 11 bis 35 Prozentpunkte – je nach Schulform, am schlimmsten ist es in den Schulen mit mehreren Bildungsgängen. Vor allem die Mädchen mit Migrationshintergrund leiden massiv unter den Nichtversetzungen.

Sitzenbleiben ist teuer

Die pädagogischen Benachteiligungen durch das Sitzenbleiben sind bereits länger untersucht. In den letzten Jahren kam hinzu, dass auch die volkswirtschaftlichen Kosten ins Blickfeld gerieten. Die jüngste Untersuchung von Klemm zeigte 2009, „dass in Deutschland Jahr für Jahr mehr als 0,9 Milliarden Euro (931 Millionen Euro) für Klassenwiederholungen ausgegeben werden.“ (2009:5) Frühere Berechnungen im Auftrag der GEW kamen sogar auf 1,2 Mrd. Euro. Pro nicht versetztem Schüler fallen etwa 4.700 Euro jährlich an (GEW 2005).

Die Stimmen der Befürworter

Die Bevölkerung teilt die Ansichten der Sitzenbleiben-Kritiker aus den Reihen der Bildungsforscher nicht. In einer Forsa-Umfrage waren es 2002 satte 80 Prozent der Menschen, die sich für das Wiederholen einer Klassenstufe aussprachen. Im Jahr 2006 befragte das Meinungsforschungsinstitut erneut die Bevölkerung – diesmal waren es immer noch 66 Prozent, die das Sitzenbleiben gut fanden. In der jüngsten Studie der Berliner Forsa-Meinungsforscher (2013) fänden es 73 Prozent der Befragten falsch, wenn Bundesländer das Sitzenbleiben abschafften. Interessant ist, dass bei den Schülern selbst das Sitzenbleiben einen noch besseren Ruf hat als bei Erwachsenen: 85 Prozent der Schüler und Studenten sind für die Klassenwiederholung. Die Begründung: Die Abschaffung des Sitzenbleibens würde sich negativ auf die Leistungsbereitschaft der Lernenden auswirken. Selbst die Mehrheit der Grünenwähler (56 Prozent) sieht eine leistungsmotivierende Wirkung. Bei der FDP sind es fast 90 Prozent, die auf den Stachel Sitzenbleiben nicht verzichten wollen.

Die Ansicht „Sitzenbleiben spornt an“ findet sich auch in der Forschungsliteratur. Sie wird auf zweierlei Art beschrieben:

Erstens wird das Sitzenbleiben für Schüler als Schuß vor den Bug verstanden. Schüler erhöhten ihre Anstrengungen, fassten wieder Tritt „und können auf diese Weise ihr Lern- und Leistungsproblem überwinden“ (Hong & Raudenbush 2005: 206). Der Ökonom Michael Fertig bestätigte diese Annahme durch eine rechnerische Analyse der späteren Erfolge von Sitzenbleibern. Unter dem Titel „Sitzenbleiben nützt den Schülern" wurde seine Studie veröffentlicht. Darin fand der Forscher des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung heraus, dass Sitzenbleiben Spätentwicklern nütze. Sie bekamen laut seiner Studie von 2004 später bessere Jobs und verdienten mehr Geld. Allerdings hatte Fertig nur eine Mini-Stichprobe von 20 Personen aus einem Sample von 300 Probanden untersucht.

Zweitens, so die Meinung einiger Bildungsforschert, wirke sich das Heraussortieren der langsameren Schüler überdies positiv auf den Rest der Klasse aus, weil die Homogenität steigt - „damit wird der Lernerfolg für die Übriggebliebenen besser“ (Hong & Raudenbush 2005: 206)

Sitzenbleiben-Kritik seit dem 18. Jahrhundert

Interessant ist als Hintergrund vielleicht auch dieses: Der Streit ums Sitzenbleiben ist so alt wie seine Einführung, als es Ende des 18. Jahrhunderts noch jahrgangsübergreifenden Unterricht gab. Die Schüler rückten im Laufe der Zeit von den hinteren Sitzreihen einer Klasse langsam vor, bis sie Primus waren, also in der ersten Reihe saßen. „Wer die erwartete Leistung nicht bringen konnte, musste 'sitzen bleiben'“, beschreibt der Bildungshistoriker Elmar Tenorth den Vorgang. Allerdings regte sich früh Kritik an der Praxis. Der Reformpädagoge Peter Petersen nannte das Sitzenbleiben den „Bankrott des Jahrgangs-Klassensystems.“ Er verzichtete auf das Sitzenbleiben in seinem alternativen Jena-Plan und ersetzte die Noten durch Lernberichte.

Petersens Kritik aus dem frühen 20. Jahrhundert wurde später durch die empirische Schulforschung untermauert. Kemmler fand 1976 heraus, dass ein Drittel der zurückgestuften Kinder nach nur drei Jahren auch in ihrer neuen Klasse wieder zu den schlechtesten Schülern zählten (Kemmler 1976: 122ff nach Tillmann & Meier 2001: 470). Ingenkamp sah bereits 1969 den gleichen Effekt bei Sitzenbleibern, nämlich „dass die Repetenten durchschnittlich nicht den Leistungsstand der Versetzten finden“ (1969: 157). Glumpler kommt 1994 sogar zu dem Schluss, dass die deutsche Erziehungswissenschaft insgesamt die pädagogischen Wirkungen der Klassenwiederholungen überwiegend negativ einschätze.

Nationaler Bildungsbericht rügt Sitzenbleiben

Erst seit Pisa ist es möglich, in Zahlen und Jahren zu zeigen, wie viel Potenzial die deutsche Schule verschenkt. Bund und Länder haben, auf der Grundlage der neueren Studien, in ihrem erstmals 2006 erschienen Bericht „Bildung in Deutschland“ zum Thema Sitzenbleiben eindeutige Befunde vorgelegt. Ein erheblicher Teil der Schülerinnen „beendet aufgrund von Späteinschulung und/oder Wiederholung die Schullaufbahn mit erheblicher Verzögerung“, heißt es dort. Die WiederholerInnen hätten „signifikante Leistungsnachteile gegenüber Schülerinnen und Schülern, die sich nach einem regulären Durchlauf in derselben Jahrgangsstufe befinden“ (Bildungsbericht 2006:55). Die Schlussfolgerung:

„Ingesamt zeigt sich, dass trotz der Vielfalt an Übergängen und Wechselmöglichkeiten im allgemein bildenden Schulwesen soziale Ungleicheiten nicht annähernd ausgeglichen werden können, was nicht zuletzt auch daran liegt, dass die Duchlässigkeit in der Praxis eher gering sowie überwiegend 'abwärts' gerichtet ist“ (Bildungsbericht 2006: 53).

Leider jedoch zeigt die Diskussion über das Sitzenbleiben typische ideologische Erscheinungen. Obwohl Forschung und Fachwelt deutlich negativ auf das Durchfallen reagieren, hält sich das Lob für die vermeintliche Ehrenrunde in der Bevölkerung hartnäckig. Externe Beobachter wie der Erfinder und Chef der Pisa-Studien, Andreas Schleicher von der OECD, konstatieren daher: Deutschland hat ein Modernisierungsproblem in seinem Bildungssystem.

Links & Literatur: siehe Extra-Seite

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Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Christian Füller | Ralf Grötker

Wissenschaftsautor.Zwischenzeitlich Redakteur der Wissens-Seiten beim FREITAG

Ralf Grötker

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