Von wegen zu dick!

Ernährung Übergewicht macht krank, heißt es. Aber zu viele Kilos auf der Waage bedeuten nicht immer höhere Gesundheitsrisiken
Auch für jemanden, der nach üblicher Definition als "adipös" gilt, ist aus medizinischer Sicht Abnehmen nicht immer angesagt
Auch für jemanden, der nach üblicher Definition als "adipös" gilt, ist aus medizinischer Sicht Abnehmen nicht immer angesagt

Foto: ChinaFotoPress/AFP/Getty Images

"Mehr als jeder zweite Deutsche ist zu dick“, so lautete vor wenigen Wochen die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion zur Beleibtheit der Deutschen. Die Meldung sorgte für Schlagzeilen: Schnell war es wieder heraufbeschworen, das Bild der weltweiten Dicken-Epidemie, die nun auch Deutschland zu überrollen droht. Schließlich warnen Medien und Politik seit Jahren davor, dass Fettsucht und ihre Folgekrankheiten die Gesundheit gefährden. Das Ganze geht mit Appellen einher – wer dick ist, sei selbst schuld, müsse weg vom Fernseher und ran an die Nordic-Walking-Stöcke. Medizinisch betrachtet ist Abnehmen aber nicht nur schwierig, sondern oft unnötig. Neuere Studien zeigen nämlich, dass sich viele Dicke trotz Übergewicht bester Gesundheit erfreuen.

BMI trügt

Um die gesundheitlichen Folgen von Übergewicht einordnen zu können, ist zunächst einmal wichtig, wie „ zu dick sein“ überhaupt definiert ist. Offizielle Stellen wie die Weltgesundheitsorganisation oder das Robert-Koch-Institut teilen nach dem Body-Mass-Index (BMI) ein. Die Formel für den BMI eines Menschen lautet: Gewicht in Kilogramm durch die Körpergröße in Metern zum Quadrat. Als übergewichtig gilt, wer einen BMI-Wert von mindestens 25 hat, als adipös, wer auf einen BMI von mindestens 30 kommt. Problematisch am BMI-Wert ist: Er ist ein reines Rechenmaß. Auch wer sehr muskulös ist, ist nach der BMI-Definition zu dick. Den Körperfettanteil oder die Figur eines Menschen berücksichtigt er nicht, genauso wenig wie dessen Gesundheit.

Medizinisch betrachtet sei der Gewichtsverlust selbst bei einem BMI von 32 nicht zwingend, sagt Mathias Faßhauer. Er ist Professor am Integrierten Forschungs- und Behandlungszentrum (IFB) Adipositas-Erkrankungen der Universitätsklinik Leipzig. Ein mittleres Übergewicht, betont der Spezialist, habe kaum Einfluss auf die Lebenserwartung. Gute und schlechte Effekte gleichen sich nämlich aus. Zwar nehmen Folgekrankheiten wie Typ-2-Diabetes bei höherem Körpergewicht zu: Betroffene sind resistent gegen das Hormon Insulin, das den Blutzuckerspiegel reguliert. Dafür leiden übergewichtige Frauen zum Beispiel seltener an Osteoporose, einer Knochenkrankheit.

Kein höheres Diabetes-Risiko

Typ-2-Diabetes ist ein geläufiges Thema, wenn es um das „Gesundheitsrisiko Dicksein“ geht. Andreas Fritsche ist Diabetologe und leitet den Bereich Ernährungsmedizin und Prävention im Universitätsklinikum Tübingen. Entgegen verbreiteter Meinung, meint Fritsche, kann Übergewicht nicht als alleinige Ursache von Typ-2-Diabetes gelten: „Bewegungsmangel und hohe Kalorienzunahme sind zwar ein Risikofaktor. Es gibt aber hundert weitere solcher Faktoren. Und wir kennen viele Übergewichtige, die kein Diabetes haben.“

2003 startete das Universitätsklinikum Tübingen eine Langzeitstudie dazu, wie „Lebensstil-Interventionsprogramme“ Diabetes vorbeugen können. Wie sich zeigte, war aber von den Teilnehmern mit Übergewicht ein Drittel so gesund, dass es eigentlich gar keine Prävention betreiben müsste, berichtet Fritsche. Sie hatten eine ähnlich gute Insulinempfindlichkeit wie die Normalgewichtigen. Auch ihr Risiko für Herz-Kreislauf-Krankheiten war nicht erhöht. Die Forscher gehen heute davon aus, dass diese sogenannten „glücklichen Dicken“ einen entsprechend großen Teil der Bevölkerung repräsentieren.

Äpfel und Birnen

Ob ein Dicker für Stoffwechselstörungen wie Diabetes anfällig ist, hängt davon ab, wie sich das Fett an seinem Körper verteilt. Gesünder ist in der Regel der Figurtyp Birne, charakterisiert durch Fülle in der unteren Körperhälfte. So sind ein ausladendes Gesäß und dicke Oberschenkel eher unproblematisch, erklärt Diabetologe Fritsche. Denn bei den Betroffenen lagert sich Fett vor allem unter der Haut an – wo es weniger schädlich für den Organismus ist. Ungesünder leben „Apfeltypen“, bei denen sich das Fett stärker um die Körpermitte ansammelt und damit auch im Innenbauch und um die Organe. „Das Fettgewebe wirkt im Körper wie eine riesige Hormondrüse“, so der Forscher. Es produziert Signalstoffe, die Diabetes begünstigen können.

Apfeltypen mit Übergewicht haben also tatsächlich ein erhöhtes Risiko, eine Stoffwechselkrankheit zu entwickeln. Aber Vorbeugung und Abnehmen sind für einige Menschen eben deutlich leichter als für andere. Auch dies demonstrierte das Tübinger „Lebensstil-Interventionsprogramm“. Unter Anleitung von Fritsche und seinen Kollegen stellten 400 normal- und übergewichtige Studienteilnehmer ihre Ernährung gezielt um und bewegten sich mehr, um ihr Diabetes-Risiko zu senken. Das Ergebnis: 70 Prozent waren hinterher gesünder, hatten bessere Blutwerte und verloren an Gewicht. Bei den restlichen 30 Prozent tat sich nichts, oder nur sehr wenig. Als „Non-responder“ bezeichnet Fritsche diese Menschen. „Es lag nicht daran, dass sie faul waren oder keine Lust hatten. Alle waren gut motiviert und machten das gleiche.“ Es war tatsächlich ihr Organismus, der es den Non-respondern schwerer machte. Beim Abbau von Übergewicht spielen Gene eine wichtige Rolle. Zwar gibt es nicht das eine Gen, das dick, oder ein anderes, das dünn macht. Aber die Gene können es leichter oder schwerer machen, das Gewicht zu verändern. Ein Beispiel: Menschen nehmen in der Regel ab, wenn sie viele Ballaststoffe essen. Für Menschen mit einem bestimmten Gen gilt das jedoch nicht. Diese könnten Unmengen an Ballaststoffen essen, werden davon aber trotzdem nicht schlank.

Kinder im Fokus

Experten richten das Augenmerk heute vor allem auf die dicken Kinder in Deutschland. Denn als Alternative zum späteren mühsamen Kampf gegen die Kilos lässt sich bei Kindern noch vorbeugen. Und anders als bei den Erwachsenen hat sich hier der Anteil der Schwerstgewichtigen in den letzten 20 Jahren verdreifacht.

Gut neun Prozent der Jugendlichen sind adipös, sagt Bärbel-Maria Kurth, die Professorin leitet die Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitberichtserstattung am Robert-Koch-Institut. In der unteren sozialen Schicht seien es sogar 15 Prozent. Kurth findet, dass es in Schule und Kita gesunde Mahlzeiten für alle geben sollte. „Man muss Schülern auch mehr Angebote für Bewegung machen – aber ohne Druck auf die Kinder auszuüben. Denn diese Kinder fühlten sich ohnehin schon unglücklich und diskriminiert.“

Davon abgesehen: Bereits die Hälfte aller normalgewichtigen Mädchen ab zwölf fühle sich zu Unrecht viel zu dick. Gerade diesen Mädchen, hat Kurth in einer Studie zur Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen festgestellt, geht es oft viel schlechter als den adipösen Kindern.

Irene Habich schrieb im Freitag zuletzt über das Schwarzfahren

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Geschrieben von

Irene Habich | Ralf Grötker

Wissenschaftsautor.Zwischenzeitlich Redakteur der Wissens-Seiten beim FREITAG

Ralf Grötker

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