Das Erinnern ist ein Ohrwurm

Mnemomuster Beate Passow bebildert eine chinesische Gedächtnislücke

Erinnerung braucht eine Form. Schnell haben sich die entscheidenden Weggabelungen menschlicher Geschichte im Knäuel des historischen Durcheinanders verheddert, lediglich die Kunst ist stets bemüht, Ordnung ins kulturelle Erbe zu bekommen. Schließlich waren schon die Musen Töchter der Göttin der Erinnerung. Und Blut ist eben dicker als Wasser. Dies gilt zumindest für Beate Passow. Die in München lebende Objektkünstlerin und Fotografin ist immer wieder als eine Künstlerin der ars memoria in Erscheinung getreten.

Ihre "Gesammelten Verluste", wie im letzten Jahr eine Ausstellung von Passow in Berlin überschrieben war, sind vom ohnmächtigen Versuch gekennzeichnet, der Erosion der Zeit entgegenzutreten. Besonders eindrucksvoll hat sie dies in ihrer 1996 entstandenen Fotoarbeit Numerologie unternommen. Es sind Dutzende Bilder von Zahlenkombinationen, die auf ausgestreckten Unterarmen tätowiert sind. Letzte auffindbare Spurenelemente der brutalen Perfektion des Nazi-Terrors, der auf dem Körper seiner Opfer die Buchhaltung der Vernichtung einschrieb.

Ihre neue Arbeit Lotuslillies mag im Gehalt weniger politisch sein. Doch auch hier wird entschwindende Geschichte memoriert. Und wie in der Numerologie-Serie geht es um den menschlichen Körper als kulturellen Gedächtnisträger. In Lotuslillies hat Beate Passow gut 50 chinesische Frauen dokumentiert. Alle gehören sie der letzten Generation an, die den sozialen Ritus der Fußabbindung über sich ergehen lassen mussten. Nur so bekamen sie die einst viel umschwärmten "Goldenen Lotuse" - kleine verkrüppelte Füße, die die Frauen zum schmerzvollen Trippelschritt zwangen und die Männer zu erotischen Phantasien beflügelten.

Seit der gut tausend Jahre zurückliegenden Tung-Dynastie ist dieser Brauch aus dem Reich der Mitte überliefert. Ab dem sechsten Lebensjahr wurden den jungen Mädchen die Zehen gebrochen, um anschließend die Füße in Bandagen zu binden. Lotus-Füße versprachen soziale Aufstiegschancen. Ein Mann, der eine Frau mit kleinen Füßen heiratete, konnte hierdurch seinen gehobenen Status dokumentieren. Denn ein Leben lang sollten die Schmerzen der Frauen derart groß bleiben, dass sie nicht fähig waren, körperlich zu arbeiten. Die Wunden wurden zur Deko des Wohlstands. Erst 1911 wurde diese Unsitte verboten. Vollkommen verschwunden ist sie erst mit der Revolution von Mao Tse-Tung.

Auf ihren Fotografien, die vor drei Jahren in der west-chinesischen Provinz Yunnan entstanden sind, enthält sich Beate Passow jeglichen moralischen Kommentars. Nicht der Austausch interkultureller Wertigkeit bestimmt das Arrangement ihrer Bilder, sondern die sachliche Dokumentation. In dieser Hinsicht ist die Ikonographie distanziert und diplomatisch. Passow zeigt ergraute Frauen in Hotellobbys, auf arrangierten Gruppenbildern und im häuslichen Umfeld. Auffällig sind die strengen Kompositionen. Sowohl in der Farbnuancierung als auch in der äußerlichen Struktur ist jedes Foto komplex durchdacht.

Dieser entschiedene Wille zur Form ist auch schon in Passows Numerologie-Arbeit auffällig. Wie bei allen Erinnerungstechniken seit der Antike, funktioniert auch bei Beate Passow das kulturelle Gedächtnis nur über eine streng formale Ordnung. Über klar gestaltete Räume, in denen sich das zu Erinnernde schematisch gruppiert. Ihre Fotografien bilden einprägsame Mnemomuster. Bildmelodien, die so aufdringlich sind, dass sie selbst noch gegen den täglichen Singsang ankommen. Denn die Erinnerung ist wie ein Ohrwurm: Erst die Wiederholung macht sie unvergänglich.

Beate Passow: Lotuslillies. Kehrer Verlag, Heidelberg 2003. 52 S., 20,- EUR

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