Das Gedächtnis der Dinge

Ausstellen nach Auschwitz Das Deutsche Historische Museum in Berlin zeigt die erste große Gesamtschau zum Holocaust in Deutschland

Halte nur die Dinge fest, die Worte werden folgen", so der Ratschlag des altrömischen Schriftstellers Cato. Eine Mnemotechnik, die sich bewährt hat. Die große Mehrheit aller musealen Konzepte greifen noch heute auf diese antike Weisheit zurück. Geht es aber um die Ausstellbarkeit des "Untergangs der Menschheit", wie Theodor W. Adorno das barbarischste Verbrechen der Geschichte genannt hat, dann stößt insbesondere diese Erinnerungstechnik zwangsläufig an ihre Grenzen. Der Völkermord an den Juden Europas passt in seiner Unvorstellbarkeit letztlich in kein Museum hinein. Das mag mit ein Grund dafür sein, dass es in Deutschland bislang keine große und zentrale Ausstellung gab, die sich mit dem Holocaust beschäftigte.

Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten oder Israel war die Erinnerungslandschaft im Land der Täter bislang dezentral. Zwar wurden vermehrt ab den sechziger Jahren die einstigen Tatorte zu Gedenk- und Erinnerungsstätten ausgebaut, eine Gesamtschau aber hat es nie gegeben. Wie das Verbrechen selbst, so war auch sein kulturelles Gedächtnis über das Land verstreut. Das Deutsche Historische Museum in Berlin will dies nun ändern. Anlässlich des 60. Jahrestages der Wannseekonferenz zeigt es mit der Ausstellung Holocaust - Der nationalsozialistische Völkermord und die Motive seiner Erinnerung die erste Gesamtschau zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik in Deutschland. Dabei will das Museum unter Leitung des Kurators Burkhard Asmuss nicht nur jene Geschichte nachzeichnen, die, so György Konrád zur Eröffnung der Berliner Ausstellung, aus "Jemande" "Niemande" gemacht hat, sondern darüber hinaus in einem zweiten Teil der Frage nachgehen, wie man sich nach 1945 in Deutschland zum nazistischen Massenmord verhalten hat.

"Bis heute operieren wir mit Wortschleiern", sagt Hans Ottomeyer, Generaldirektor des Museums. Hilfsbegriffe wie "Judenverfolgung", "Brandopfer" (Holocaust) oder "Katastrophe" (Shoah) zeigen nicht nur den wechselnden Umgang mit dem Thema in den Jahrzehnten nach dem Völkermord auf, sondern dokumentieren zugleich die verbale Ohnmacht im Angesicht von Gaskammern und Krematorien. In der Unbenennbarkeit des Geschehens ist die Erinnerung hieran stets verurteilt, Versuch zu bleiben.

Der Zugang, den das Deutsche Historische Museum im Berliner Kronprinzenpalais zum Thema findet, wird dominiert von Personalisierungen und der Darstellung von Einzelschicksalen. Vom jüdischen Selbstverständnis während des Ersten Weltkriegs und der Weimarer Republik über die ersten Repressionen nach der nationalsozialistischen Machtergreifung bis hin zu dem, was die Nebelphrasen des Nazijargons als "Endlösung" bezeichneten, wird mittels Dokumenten, Fotografien und persönlicher Gegenstände versucht, den Opfern ihre Gesichter zurückzugeben.

Da ist zum Beispiel der Karton mit den Habseligkeiten der 13-jährigen Lilly Bial. 1939 mit einem Kindertransport nach England entkommen, hatte das Wiener Mädchen darin alles zurückgelassen, was ihr angesichts des geretteten Lebens zweitrangig erscheinen musste: Eine kleine Box, aus der man sich die verlorene Zeit zusammensuchen könnte, die Unbeschwertheit, die es nicht mehr geben würde - nicht für Lilly Bial, und für ganz Europa nicht. Ein anderes Exponat zeigt eine verschmitzt lächelnde Musikclownpuppe. Vergessen auf einem Passagierschiff, welches einmal zum Symbol für die Irrfahrt Millionen Verfolgter werden sollte, lächelt die Puppe mit ihrem "Alles-wird-gut-Gesicht" - großäugig, wie es sich einst die Spielwarenindustrie für die Kinder eines scheinbar ganz normalen Landes entworfen hatte. Gefunden aber wurde diese Puppe auf der St. Louis - einem Flüchtlingsschiff der Europa-Amerika-Linie, das 1939 weltweit für Schlagzeilen sorgte. Von Hamburg aus in die U.S.A. ausgelaufen, sollte es jenseits des Atlantiks nirgends einen rettenden Hafen finden. Nach wochenlanger Odyssee kehrte das Schiff nach Europa zurück, wo es die schon sicher geglaubten Menschenleben zurück in die Arme der Schergen brachte.

Solche Mnemorate haben eine assoziative Sprengkraft. Wenn schon vom Leben nichts geblieben ist als tote Gegenstände, so beginnt man diese nach ihren Geschichten hin abzuklopfen. Was in der nüchternen Gebrauchssprache der Museumspädagogen als "Erzählung am Objekt" betitelt wird, das bekommt im Kontext des kulturellen Gedächtnisses einen unschätzbaren Wert. Die Schreibmaschine Erich Mühsams oder die wenigen erhalten gebliebenen Häftlingskleider aus dem Konzentrationslager Auschwitz stehen hier gegen die unvorstellbare Zahl von Millionen von Einzelschicksalen. Es sind kurze narrative Erzählstränge, kleine Biographeme, die zumeist schnell wieder abreißen und die dem Besucher die schmerzliche Einsicht vermitteln, die Paul Celan 1963 in seinem Gedichtband Die Niemandsrose formuliert hat: "Niemand", so heißt es dort lakonisch, "niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm".

Mit dem einsetzenden Ende der Zeitzeugenschaft wird eine derart lebendige Erinnerung an den Holocaust immer schwerer. Nur dort aber, wo es gelingt, die Logik der Mörder umzukehren, bleibt das, was nie wirklich historisierbar sein wird, präsent. Denn die Tötungsindustrie Auschwitz, war nur möglich im Zuge der Verdinglichung des Menschen. Das, was man sich gewöhnt hat, Holocaust zu nennen, war die Niederlage des Humanismus vor der Logik der abstrakten Zahl. Die Banalität des Bösen besteht in der Betrachtung des Menschen als "Stück", als Teilobjekt der anonymen Masse.

Diese Logik, sie hat nach 1945 nur allzu oft wieder Einzug gefunden, wenn es darum ging, Formen des Erinnerns an den Massenmord zu finden. Wer würde nicht die Bilder von den unzähligen Schuhen, den Brillen und den Koffern kennen, mit denen man versucht hat, das Unvorstellbare zu illustrieren. Auch im Deutschen Historischen Museum tauchen diese Fotografien wieder auf. Doch was als Mnemoräume des Gedächtnisses an Auschwitz gedacht war, das hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack. Für den österreichischen Schriftsteller und Historiker Doron Rabinovici etwa symbolisieren solche Bilder schlichtweg den "Schlussverkauf der ethischen Provokation". Nicht nur, dass sie nichts erklären, sie werfen die Opfer ein zweites Mal in ihre Dinglichkeit zurück. Wie in der Gesetzmäßigkeit der Mörder selbst, so geht auch hier der Mensch abermals unter in der abstrakten Zahl, in der dunklen Faszination der Akkordarbeit des Tötens.

Eine Ausstellung, die sich - so ihr Untertitel - den "Motiven der Erinnerung" an die Vernichtung annehmen will, täte gut daran, diese Medien und Mnemorate unserer Erinnerung kritisch auf ihre Funktionsweisen hin abzuklopfen. Dies aber geschieht in der Berliner Ausstellung zumeist nicht. Die Wehrmachtsausstellung vor Augen, übt man sich in Understatement und setzte alles daran, die Präsentation nicht zur Thesenausstellung werden zu lassen. Wenn es aber stimmt, dass unsere Erinnerungslandschaft aufgrund von Medienwechseln und Generationsablösungen in einem entscheidendem Wandel begriffen ist, dann wäre eine kritische Durchleuchtung unseres kulturellen Gedächtnisses durchaus angebracht.

Gerade die anwachsende Zahl an Biographien und persönlichen Erinnerungen von Holocaustüberlebenden, die in den letzten Jahren auf dem Buchmarkt erschienen ist, macht deutlich, mit welch lebensnotwendiger Energie sich die letzten Zeitzeugen gegen das Vergessen ihrer ganz persönlichen Geschichte stemmen. Weiterleben nach dem Untergang ist bis zuletzt nur dort möglich, wo man aus der Mathematik der abstrakten Zahlen und der Inflation des Todes heraustreten kann. Wenn schon Wissenschaft und Holocaustforschung oftmals nichts anderes übrig bleibt, als sich in ihrer Pflicht zur Empirie erneut den unterkühlen Statistiken zuzuwenden, so sollte wenigstens das kollektive Gedächtnis nicht durchzogen sein von der Grammatik der Selektion. Ein Berg von Schuhen, Koffern oder gar Toten aber dokumentiert vor diesem Hintergrund abermals die Abwertung des Individuums. "Wenn die Millionen in die Höhe klettern", so schreibt Elias Canetti in Masse und Macht, "dann wird ein ganzes Volk, das aus Millionen besteht, zu nichts". Dieses "nichts" aber gilt es umzukehren, damit die "Niemande" erneut zu "Jemande" werden.

Statt solcher Reflexion aber setzt man in Berlin auf eine fast atemberaubende Zeigelust. Jener Ausstellungsteil, der sich mit den Motiven der Erinnerung befasst, beschränkt sich lediglich darauf, einen Auschwitzdiskurs, nach dem anderen abzubilden - annähernd lückenlos und im historischen Schnelldurchlauf. Angefangen von den Kriegsverbrecherprozessen in Nürnberg, die von vielen Deutschen einst allenfalls als lästige Siegerjustiz zur Kenntnis genommen worden sind, bis hin zu der Debatte um das Berliner "Mahnmal für die ermordeten Juden Europas". So verkommt zwischen eng gestellten Vitrinen und Stellwänden die angekündigte Motivgeschichte des öfteren zum lediglich durchgehechelten Geschichtsparcours.

Vielleicht, so mag man der Ausstellung zu gute halten, vielleicht ist das ganze Unterfangen auch museal gar nicht zu bewältigen. Ein historisches Museum, das selbst nichts anderes ist als ein Gedächtnisraum, kann schwerlich das Gedächtnis selbst thematisieren, ohne dabei auf fast tragische Weise selbstreferentiell zu werden. Eine Idee weiter aber hätte man schon gehen können. Zwar mögen die ausgestellten Kopfhörer von den Nürnberger Prozessen oder das Originalmanuskript der Walser-Rede dem Erlebnis Zeitgeschichte den letzten haptischen Kick verleihen, ihre Aussagekraft aber ist gering. Wenn Wissenszuwachs allein darin besteht, zu erfahren, dass Martin Walser nicht nur verquer denken, sondern zudem auch noch unleserlich schreiben kann, dann muss man auf dieser Tour d´Historie am eigentlichen Problem vorbeigelaufen sein.

Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann hat die wirkliche Herausforderung vor einigen Jahren umschrieben: "Für die Generationen nach der Generation der Zeitgenossen ist heute die entscheidende Frage, wie man die Erinnerung in dieser Schwellensituation weitergibt. Die Erinnerung muss in eine Form gegossen werden, die sie zwischen den Generationen übertragbar macht." Siebenundfünfzig Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz wäre es also an der Zeit, kritisch Inventur zu halten. Die Formen der Erinnerung, ihre Medien und Mnemorate mögen vielfältig gewesen sein, allein ihre Angemessenheit gilt es nun zu überprüfen. Denn jenseits von "Scham", "Schlussstrich" oder "Moralkeule" sucht das kulturelle Gedächtnis noch immer nach seinen Formen, seinen geeignetsten Medien, die die unauflösbare Spannung des millionenfachen Schicksals Einzelner transportieren und aushalten können.

Holocaust - Der nationalsozialistische Völkermord und die Motive seiner Erinnerung. Noch bis zum 9. April 2002. Deutsches Historisches Museum, Unter den Linden 2, 10117 Berlin. Zur Ausstellung ist in der Edition Minerva ein Katalog erschienen. Er kostet 20 Euro.

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