Über Jahrhunderte haben sich Philosophen an einer verzwickten Frage versucht: Was macht eigentlich die Welt, wenn wir kurz mal wegschauen? Für den englischen Subjektivisten George Berkeley ist die Antwort einfach: Justament schaltet sie sich ab. Eine vom Denken unabhängige Welt existiert für ihn nicht. Schnickschnack sei das, so nicht nur die Entgegnung Arthur Schopenhauers. Seiner Meinung nach gehörten Solipsisten wie Berkeley ins Tollhaus. Ludwig Wittgenstein wiederum, um noch eine dritte Schule anzuführen, vertrat die Auffassung, dass es da draußen schon etwas gäbe; unsere Wahrnehmung aber hierzu keinen Zugang besäße.
Die sogenannte Becher-Schule wartet auf solche Fragen mit überschaubareren Lösungsskizzen auf. Ob mit menschlicher Gegenwart oder ohne - Dinge haben einfach zu sein. Nun handelt es sich bei den Bechers nicht um eine Strömung, die derartige Fragestellungen mit dem Obduktionsbesteck der Philosophie erledigen würde. Es sind die einstigen Edelklassen im Fachbereich Fotografie an der Düsseldorfer Kunstakademie. Fotografie kann ohnehin nur zeigen, was ist. Und ohne Welt käme sie nicht über den Tag. In Steifnackigkeit vor dem philosophischen Lösungsbüchern sichern die Bechers deshalb seit Jahren die Typographien und Seinsweisen der Außenwelt. Naiv, wer da an ihrer Existenz noch Zweifel hat.
Bernd Bechers Musterschülerin Candida Höfer hat diese Sichtweise von allen Pennälern immer mit den überzeugendsten Steilpässen nach vorne gespielt. Denn während Andreas Gursky oder Thomas Ruff in den letzten Jahren vermehrt menschliches Personal auf ihren Bildern auftauchen lassen, geben sich Höfers Fotografien zunehmend human entleert. Die in Köln lebende Fotografin interessiert sich nicht so sehr für den Menschen selber, sondern für seine kulturellen Ausscheidungen. Ihre Vorliebe gilt dem öffentlichem Innenraum. Museen, Bibliotheken, Hörsäle. Kaum ein urbaner Wissensspeicher, der von ihrer Kamera nicht schon inspiziert worden wäre.
Zusammen mit den Bildern Martin Kippenbergers hat Kurator Julian Heynen ihr Werk in diesem Jahr für den deutschen Biennale-Pavillion aufgestellt. Damit dürfte auch Höfer nun endgültig in jenes Line-up vorgedrungen sein, das die großen Museen seit Jahren mit deutscher Fotografie bespielt. Nach Ausbildung an der Kölner Werkschule, Filmstudium bei Ole John und der erwähnten Düsseldorfer Fotoklasse hat die 1944 in Eberswalde geborene Fotografin es unwiderlegbar geschafft. Ihr sperrig unterkühlter Blick ist zum Futteral deutscher Kultur im Ausland geworden. Von Neuer Sachlichkeit bis Neuer deutscher Härte schlitterte die ohnehin schon immer nahe an der Frostgrenze herum.
Julian Heynen, einst Ausstellungsleiter an den Krefelder Kunstmuseen und zur Zeit künstlerischer Leiter des Düsseldorfer K 21, hat schon manchen Höfer-Mitschüler aus den legendären Akademieklassen der späten Siebziger in die Spitzenränge des Kunstmarkts gepusht. Gursky, Struth und Ruff - das angesagte rheinische Dreigestirn hat schon seit Jahren seine Einzelpräsentationen bei Heynen weg. Ende 2003 wird noch einmal das Werk ihrer Mentoren selbst in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen gewürdigt werden. Und nun also Candida Höfer.
28 Fotografien hat Heynen für den deutschen Pavillion ausgewählt. Durchgehendes Markenzeichen: Bei allen 28 handelt es sich um klassische Höfer-Fotografien. Mal zeigen sie einen Empfangssaal im venezianischen Palazzo Pisani Moretta, mal die Eingangshalle das Festspielhauses Recklinghausen. Überall auf ihren Bildern gibt es Stühle, Fenster, Podeste, Vitrinen; nirgendwo aber eine Menschenseele.
Fast nirgendwo, sollte man einräumen. Denn ihre in den letzten Jahren überwiegend im überdimensionalen 152 mal 204 Format gehaltenen Fotografien sind Suchbilder. Während der Blick des Betrachters träge die Oberflächen abscannt, gibt es immer wieder neue Trivialitäten und Kleinigkeiten zu entdecken. Und da: Auf dem Bild aus dem Pariser Musée Carnavalet hat sich tatsächlich eine menschliche Silhouette eingeschlichen. Ein schmaler Wandspiegel wirft das Bild der stets zerbrechlich und feingliedrig anmutenden Fotografin auf den Betrachter zurück. So unbeobachtet, wie Höfers Räume gerne tun, sind sie also bei weitem nicht.
Candida Höfers Fotografien spielen vielmehr mit der Illusion von Abwesenheit. Jede Schöpfung erzählt auch etwas über ihren Schöpfer. Alle Formen und Figurationen, die Höfer vorfindet, sind Beschreibungen eines gemeinsamen sozialen Umfeldes. Und so bedeutet Entschlüsselung des räumlichen Materials immer auch Dechiffrierung gesellschaftlicher Entwürfe und Vorstellungen.
Je monumentaler und kulturträchtiger sich die Räume dabei geben, je zeitloser auch der Eindruck, den sie hinterlassen. Schon die Fotografien von Bernd und Hilla Becher sind immer wieder mit entleerten Skulpturen verglichen worden. Topographisch, enzyklopädisch und derart distanziert, dass keine Mode ihnen was anhaben könnte. Wie antike Plastiken scheinen ihre Bildinhalte aus der Zeit gepurzelt zu sein. Dies aber ist nur die eine Wahrheit. Genauer besehen verhält es sich mit Candida Höfers Bildern wie mit den meisten reizvollen Dingen, die im Laufe von 50 mal Biennale di Venezia am Lido gezeigt wurden: Sind die Werke erst in den Nationenpavillons angelangt, sind sie bereits derart abgelagert, dass es ihnen größtenteils an Saft fehlt.
Candida Höfer, Tochter des Fernsehjournalisten Werner Höfer, fand ihren Weg zur Fotografie, als das Medium, wie so oft, in einer tiefen Existenzkrise steckte. Gut hundert Jahre lang war Fotografie dafür verantwortlich gewesen, Dokumente über die Welt zur Verfügung zu stellen. Nun aber bediente sich das Außergewöhnliche, Ungeheuerliche und Flüchtige anderer Transportmittel. Auch wenn Vater Werner seinen Internationalen Frühschoppen noch als gemütlich-überschaubare Retro-Kiste inszenierte - als Informationsmedium hatte das Fernsehen der Fotografie längst den Rang abgelaufen. Spätestens als im Dezember 1972 die letzte Nummer der legendären Illustrierten Life erschienen war, musste sich die Fotografie auf eine Relaunch-Phase einstellen.
Es waren die sogenannten "New Topographics", die Anfang der Siebziger die Wende brachten. Angelsächsische Fotografen wie Lewis Baltz, Nicholas Nixon oder Stephen Shore lehrten der Fotografie einen neuen Umgang mit den Zeitressourcen. Nicht mehr das Hinterherhecheln hinter der letzten Agenturmeldung war nun angesagt, nicht der "entscheidende Augenblick", wie ihn Jahre zuvor noch Henri Cartier-Bresson propagiert hatte. Vielmehr galt es, den Zeitfluss drastisch zu verlangsamen. Die Abkehr vom Schnappschuss hin zum sogenannten "trägen Blick" war nicht nur für ein neues Geschichtsbild verantwortlich. Sie öffnete der Fotografie vor allem die Tore zu den Kunstpalästen. Dort gibt man sich nicht zufrieden mit den "magic moments". Wahre Kunst will Ewigkeit.
In Deutschland war es vor allem Bernd Becher, der seit den Sechzigern die Fotografie mit ähnlichen Mitteln wieder auf die Pfade der Hochkultur zurückbrachte. Als Candida Höfer sich 1976 für seine erste Fotoklasse bewarb, wird sie geahnt haben, wohin die Reise für sie gehen sollte. Beworben hat sie sich hier jedoch nicht mit Fotografien, auf denen die Weite riesiger Konzertsäle und die optische Verlorenheit in den leeren Rängen der großen Opernhäuser festgehalten waren. Ihr Sujet fand sie damals noch in den engen Gassen und Wohnungen der Kölner Südstadt. Was sie dort umtrieb, war das Leben türkischer Gastarbeiter. Und so fotografierte sie zunächst Läden, Gaststätten und Straßenszenen, später auch die Wohnräume türkischer Familien.
Schon damals zeigte sie einen Hang zu Empirie und Genauigkeit. Sie beließ es nicht bei den Aufnahmen der Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik. Bald schon reiste sie in die Türkei, um dort Vergleiche anzustellen. Ihr Fazit hielt sie in zwei Fotobüchern fest. 1977 erschien Alltag in der Türkei, drei Jahre später Türken in Deutschland. Auch wenn dieses Frühwerk noch geprägt ist vom Stil der sozialen Dokumentarfotografie und von der Methode teilnehmender Beobachtung, so kristallisiert sich schon vieles von dem heraus, was einmal so typisch für eine Höfer-Fotografie werden würde.
Doch die Siebziger waren nicht nur die Jahre der großen sozialen Reportagen. Als Höfer die Düsseldorfer Kunsthochschule absolvierte, ging in der Bundesrepublik das Schlagwort von "neuer Innerlichkeit" um. Die jüngeren Geschwister der 68er wandten sich gegen die Deutungsdressur linker Utopien. Es war die Zeit, in der die großen Würfe in Kleinkunst verniedlicht wurden. Nicht die Maulhelden, sondern die Sensiblen und Verstreichelten beherrschten die Diskursbühnen. Regression war en vogue. So kommt es vielleicht nicht von ungefähr, dass Candida Höfer den Freiluftstil der Bechers erstmalig in geschlossenen Räumen vorführte. Nicht mehr die Außenwelt der Erscheinungen war für sie interessant, sondern deren Innenausstattung.
Die Fotografin Herlinde Koelbl setzte den damals aufkommenden Wunsch nach Nähe und Nestwärme in ihren berühmten Serien über deutsche Schlaf- und Wohnzimmer um. Für Candida Höfer wäre so etwas zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr denkbar gewesen. Die gute Stube war für eine Studentin der Düsseldorfer Fotoklasse bereits ein Setting von geringer Größe. Unter einem Konzerthaus oder einem Theater machte man es in jenen Tagen an der Kunstakademie nicht.
In ihrer Ausbildung hatte Höfer gelernt, die kleine Sozialzelle zum großen Gesellschaftsgefüge aufzublasen. Diese monumentalen Bilder wären ohne ihre frühe Serien wie Türken in Deutschland jedoch kaum zu denken. Denn von Beginn an ist für Candida Höfer ein Raum immer mehr als die Summe von vier Wänden gewesen. Im Kleinen erzählt er etwas über den Zustand von Familien, im Großen über das Selbstverständnis von Gesellschaften und Kulturen.
Höfers Stil, der aus dem profansten Beistelltischchen noch eine Figuration archetypischer Dimension herauszuschälen versteht, ist letztlich also eine ganz diesseitige Sache. Wer Bernd und Hilla Becher samt ihren Eleven immer wieder als Neuerer und Vollender der künstlerischen Fotografie hinstellt, vergisst gerne ihre Rückversicherung auf der Zeitachse. Die ganze Klasse fußte schon immer auf den Schultern von Riesen.
Wenn es einen Urvater der topographischen Bewegung gibt, so muss wohl zuvorderst der Franzose Eugène Atget genannt werden. Als Ideal des Avantgardisten in Vergessenheit und Armut gestorben, ist es Atget gewohnt, immer wieder hinten rüber zu fallen. Doch der Fotograf, der über 30 Jahre lang das meist menschenleere Paris abgebildet hat, war einer der Ersten, der sich auf die unbeseelte Schönheit von Materie verstand.
Für Walter Benjamin war er deshalb derjenige, der die Befreiung der Fotografie von der Aura eingeleitet hat. Raum und Zeit werden auf seinen Stadtaufnahmen zu vernachlässigenden Größen. Am Ende hat das Bild mit seinem Abbild nicht mehr viel gemein. "Die Stadt auf diesen Bildern ist ausgeräumt wie eine Wohnung, die noch keine neuen Mieter gefunden hat", schreibt Benjamin wenige Jahre nach dem Tod Atgets. "Sie macht dem politisch geschulten Blick das Feld frei, dem alle Intimitäten zugunsten der Erhellung des Details fallen."
Man hätte nur das Wort "Stadt" durch "Raum" ersetzen müssen, schon hätte man den schönsten Text für das Pressebriefing im deutschen Pavillon in Händen gehabt. Unter all den namhaften deutschen Sachfotografen, ist Candida Höfer vielleicht diejenige, die dem Ansatz Atgets am nächsten kommt. Nicht nur die Abwesenheit jeglichen Lebens verbindet ihre Werke. Vor allem ist es der gelockerte Umgang mit der Bildgrammatik. Während es etwa Andreas Gursky mittels Perspektive und Auflösung um die Erzeugung "purer" Bilder und absoluter Schärfe geht, ist Höfers Ansatz subjektiver.
Besonders in den ersten Jahren, als sie noch mit Kleinbildkamera und ohne Stativ zu arbeiten pflegte, schuf sie sich genügend Freiräume, um auf die vorgefundenen Orte zu reagieren. Höfers Raumaufnahmen sind stets auf menschlicher Augenhöhe gehalten. Dies aber ist schon die einzig normierte Festschreibung ihres fotografischen Standpunktes. Weder müssen ihre Objekte zentriert sein, noch hält sie sich ausschließlich an die Parallelperspektive. Der Kanon gleichförmiger Ansichten, der für Höfers Lehrer noch im Vordergrund gestanden hatte, wird auf ihren eigenen Raumabwicklungen durchgreifend aufgelockert. Auch dies macht sie eher verwandt mit der eigenartigen Poetik Atgets, als mit den straffen Formalien der Neuen Sachlichkeit.
Auch wenn es immer wieder so aussieht: Höfers Bilder zeigen somit keine unverstellten Welten. Wer genau hinschaut, erblickt Wahrnehmungskonstrukte. In ihren vordergründig leeren Räumen finden sich immer wieder Ich-Ablagerungen. Vielleicht sind ihre Bilder am ehesten mit Dialoganordnungen zu vergleichen. Langzeitexperimente, über die eine stille und in sich gekehrte Fotografin ihre Zwiesprache mit der Außenwelt belauscht. Wie Diskursbillard, in dem jeder Zeichensatz diffizil über Bande gespielt wird.
Damals, Anfang der Achtziger, war so eine Distanziertheit überaus feinfühlig. Düsseldorfer Schule bot etwa die ideale Optik für den überspannten Art-Rock-Sound à la Pink Floyd. Perfekt, aufgebläht und doch gemütskrank. Voll sensibel, wer sich ins Interieur zurückzog. Wie in Parkers Verfilmung von The Wall nannte man das Abkapselung auf hohem künstlerischem Niveau. 2003 kommt das nicht mehr ganz so rüber. Höfer ausstellen, ist heute eher vergleichbar mit Alte-Platten-Auflegen: Das rockt zwar noch immer - dieses Knistern aber stört gewaltig.
Die 50. Internationale Kunstausstellung der Biennale di Venezia läuft noch bis zum
2. November. In Deutschland sind Höfers Bilder zur Zeit in der Ausstellung Wonderlands. Perspektiven aktueller Photographie zu sehen. Museum Küppersmühle. Duisburg. Noch bis zum 13. Juli.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.