Die Revolution entkernt ihre Häuser

Den Farbfilm vergessen Eine Sammlung topographischer Fotografien Ostdeutschlands betreibt historische Kanonbildung

Der Ossi ist ein Nörgelpeter. Jüngst ist dieses Vorurteil durch den Streik in der Metallindustrie wieder nach oben gespült worden. Über Ostalgiewelle und Zonenzote scheint er längst vergessen zu haben, wie marode es wirklich war - sein kürzeres Ende der Sonnenallee. In Dortmund, Nürnberg oder Oldenburg jedenfalls hat der Arbeitsausstand einen herben Nachgeschmack hinterlassen. Bewiesen ist damit zunächst nur eins: 13 Jahre nach der Wiedervereinigung ist die deutsche Frage noch immer auf Kante genäht.

Etwas aber ist dran, am innerdeutschen Gezeter. Je mehr der Mantel der Geschichte über die ex-sozialistischen Lande ins Flattern gerät, je mehr stellt sich die Frage nach einer ostdeutschen Erinnerungskultur. Die Debatten um den 17. Juni 1953 sind längst verhallt. Die Frage aber, was von der DDR im deutsch-deutschen Gedächtnis bleiben soll, steht noch immer zur Beantwortung. Während in Wolfgang Beckers Farewell auf Lenin, Spreegurken und Halberstädter Würstchen das kulturelle Gedächtnis längst sexed up erscheint, herrscht in Wahrheit nicht einmal Minimalkonsens darüber, was zur Posse freigegeben ist.

Inventur tut Not. Die umfangreiche Sammlung topographischer Fotografien der Leipziger Verbundnetz Gas Aktiengesellschaft hat sich daran schon seit längerem versucht. Für das Projekt "Archiv der Wirklichkeit" beauftragte das Unternehmen 1992 acht Fotografen, die über sechs Jahre hinweg den baulichen Wandel in der deutschen Zugewinngemeinschaft dokumentieren sollten. Namhafte Architekturfotografen wie Ulrich Wüst oder Michael Schroedter, sowie jüngere Absolventen der legendären HGB Leipzig knipsten in meist hartem Schwarzweiß die Aufsicht auf die Wendejahre.

Topographische Fotografie hat Konjunktur. Und da man den Ostdeutschen selten alleine lassen konnte mit seinen historischen Hinterlassenschaften, loggte sich bald die bekannte West-Mischpoke in die Sache ein. Thomas Struth und Johannes Bruns etwa. Kurz: all jene, die schon immer zur Stelle waren, wenn es daran ging, Lebenswelten in die Dokumentensammlung zu bringen.

Das Leipziger Archiv bereitet die Historie für das Heute auf. Am treffsichersten arbeiten das die Fotografen Rudolf Schäfer oder Sigrid Schütze-Rodemann heraus. Mit klassischen Bildvergleichen, die zeitlich oft weit auseinander liegende Endpunkte einer Entwicklung markieren, switchen sie zwischen einst und jetzt. Der Berliner U-Bahnhof Eberswalder Strasse im Jahr 1980 und 1999 etwa, eine Kreuzung an der Leipziger Friedrich-Ebert-Straße oder ein Jugendstilhaus in Halle/Saale.

Indem die Fotografen zweimal exakt den gleichen Standpunkt aufsuchen, betreiben sie einfachste optische Mengenlehre: Jede Differenz, die nicht der Perspektive geschuldet ist, muss der Änderung des räumlichen Materials zugeschlagen werden. Doch wie bei fast jedem Langzeitexperiment wird hier geschummelt. Rudolf Schäfer etwa arbeitet nicht nur mit unterschiedlichem Lichteinfall, sondern mit völlig verändertem Filmmaterial. Den Schwarzweißbildern der Vorwende, stellt er Farbfotografien aus dem Jahre 1999 gegenüber.

Wo die einstige DDR auf den ersten Blick nun so freundlich bunt erscheint, hat sich bei genauerem Hingucken fast nichts verändert. Hier und da andere Werbeschilder, neue Automarken, eine aus dem Straßenensemble entfernte öffentliche Bedürfnisanstalt. Wenn das schon die Wende war, kann es so schlimm nicht gewesen sein.

Doch Schäfers postkommunistische Farbenlehre ist nicht nur geeignet, das Neue fröhlich zu empfangen. Selbst wenn er bei den frühen Aufnahmen mit Kolorit gearbeitet hätte - viel bunter wäre ihm der alte Osten nicht geworden. Bereits in den siebziger Jahren stellte der Philosoph Vilém Flusser die weit gedachte Behauptung auf, dass die westlich kodifizierte Welt sich primär durch ihr Technicolor unterschiede. "Dabei kann es sich offensichtlich nicht nur um ein ästhetisches Phänomen, um einen neuen ›Kunststil‹ handeln. Diese Farbexplosion bedeutet etwas. Wir werden von bedeutungsvollen Farben berieselt, man programmiert uns mit Farben".

Die Diskrepanz steckt im Detail. Oft sind es nicht die aufgebesserten Industrieanlagen oder die neu entstehenden Naturlandschaften - etwa auf den Fotografien des Leipzigers Thomas Wolf - die das wesentliche Novum brachten. Es ist die Alphabetisierung durch ein totalsaniertes Zeichengewebe. Mit der Wende wurde im Osten die Oberfläche entdeckt. Wie in der alten Bundesrepublik wurde die urbane Hülle mit einem mal zu einem wichtigen Träger lapidarer Botschaften. Wände, Werbetafeln, Plastikbehälter - jegliches Landschaftsaccessoire ließ sich jetzt zum Bedeutungsträger umprogrammieren. Was in der Kommunikation zuvor nur dürftig ausgeschlachtet worden war, sollte nun das Basismedium für den urbanen Nexus werden.

So wurde die Unwirklichkeit der Städte, in der einstigen DDR durch Plattenbauten, industrielle Vernebelung sowie die schleichende Agonie der Bausubstanz verkörpert, nach 1989 nicht realer. Dort, wo der öffentliche Raum früher für ein bisschen sozialistische Tapete und zweidimensionale ideologische Abzählreime herhalten musste, fällt er nun sinngeladenem Couleur anheim.

Auf den Vorwende-Fotografien von Erasmus Schröter oder Max Baumann sind sie noch zu entdecken: Lineare Sprachcodes, mit denen sich die DDR-Bürger gegenseitig bei der Stange hielten. Ein Schaufenster mit Fahne und Spruchband etwa oder eine Straßentransparent, auf dem mit schlichten Lettern ebenso schlichte Botschaften hinterlassen wurden: "40. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus. Wir haben die historische Chance genutzt".

Václav Havel hat diese real-sozialistischen Alltagspanoramen schon früh als "gesellschaftliche Autototalität" verspottet. Denn der Code dieses einfachen Soz-Designs war nicht nur für jeden leicht zu knacken. Unzählige haben im Stadtraum mit collagiert. Spruchbänder in Ladengeschäften, auf Behördenfluren und an Häuserwänden haben nach Meinung Havels den maroden Laden am Laufen gehalten.

Mit den neuen Farbbotschaften verhält es sich da schon schwieriger. Denn was ist von einer Symbolik zu halten, die sich einem nicht erschließen will? Auf verschriftlichte Messages war man in der einstigen DDR trainiert. Eine Gesellschaft, die sich täglich am ideologisches Bewusstsein abarbeitete, vollzog selbst ihren eigenen Niedergang noch über lineare Texturen. Die Geschichte mag sich da einen letzten Spaß gemacht haben, als sie ausgerechnet die Schriftgelehrten und Literaten zu den Protagonisten der 89er-Revolution erklärte.

Mit eingängigen Textbausteinen aber war es bald vorbei. Die Nachwende bediente sich anderer Zeichen. Obskurem Industriedesign etwa, wie auf den großen Farbfotografien Anett Strurhs zu sehen, individuellem Reklamestyles und all der bunten Beredsamkeiten, die die Straßenzüge des historischen Materialismus endlich die nachgeschichtliche Biege machen ließen. In dieser Hinsicht verraten die Fotografien der Leipziger Verbundnetz Gas AG nicht nur viel über den Wandel in Ostdeutschland, sondern über die Ökonomisierung des öffentlichen Raumes per se.

Das Archiv der Wirklichkeit ähnelt einem gut gegliedertem Aktenschrank. Mit größtmöglicher auktorialer Neutralität sichern die Fotografen das Überleben der Geschichte gegen die Erosion der Zeit. Mal sind es die großen Fabrikarchitekturen, mal nur abhanden gekommene Metallmülleimer oder ein urbanes Schnittmuster aus Straßenlaternen und Bretterzäunen. In Nüchternheit und dokumentarischem Eifer setzt die Leipziger Sammlung auf absolute Neutralität. Jedes Foto ist eine Beglaubigung vergangener Präsenz. Eine klare Durchsage für alle, die nicht dabei gewesen sind und für die, die längst vergessen haben: "So und nicht anders ist es gewesen".

Bei all den weit klaffenden Gedächtnislücken haben wir also noch mal Dussel gehabt. Da wo die historische Wahrheit flüchtig wird, macht die Sachfotografie immer noch auf objektiv. Solange die Leipziger Verbundnetz Gas die DDR-Städte über die Zeit rettet, besteht kein Grund zur Beunruhigung. Doch was eigentlich ist mit all den welken Landschaften, mit den brüchigen Hausfassaden und den holprigen Straßen gesagt? Schon Bertolt Brecht hatte in einem pointierten Schlag gegen die Neue Sachlichkeit die berühmte These ausgegeben, dass eine Dokumentarfotografie von den Krupp-Werken kaum Informationen über Krupp als Firma vermittle.

Mit Stadtlandschaften der DDR verhält es sich ähnlich. Und doch verraten die Bilder Wesentliches. Wenn schon nicht über die einstige DDR, dann immerhin über die Verbundnetz Gas. Denn wie stets bei großen Gedächtnisleistungen, geht es hier nicht um nostalgisches Gefühlsgedusel. Wer über die Vergangenheit verfügen will, verschafft sich das Monopol auf die Zukunft. Im Archiv legt er ab, was einmal erinnert werden wird. Das, was es nicht in den Kanon schafft, fällt für immer hinten rüber. Ginge es also nach den Archivaren des Leipziger Energiekonzerns, dann wird das Leben bald nicht mehr gewesen sein als zerdetschte Oberfläche.

Eine Auswahl der Fotografien ist noch bis zum 24. August im Deutschen Architektur Museum Frankfurt zu sehen. Ein zweibändiger Katalog dokumentiert die Sammlung. Jeder Band kostet 28,90 EUR. 1. Bd. Vor Ort Ost. Hatje Cantz, Stuttgart 1997. 2. Bd. Stadt Land Ost. Hatje Cantz, Stuttgart, 2001.

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