Kaum dass nach dem Terror des 11. September die Medien wieder auf Kontemplation umgeschaltet hatten, äußerte der französische Philosoph Jean Baudrillard den Verdacht, dass das Spektakel des Terrorismus uns den Terrorismus des Spektakels gebracht habe. Das Trauma von New York - versendet und versandet in seiner eigenen Dauerreproduktion. In dieser Situation kam der New Yorker Kuratorin Alice Rose George eine Idee, die sie wohl als Rückeroberung der Wirklichkeit verstanden haben muss. Zusammen mit dem Magnum-Fotografen Gilles Peress, dem Schriftsteller Michael Shulan und dem Leiter der Fotografieabteilung der School of Visual Arts, Charles Traub, plante sie in einem Ladengeschäft im New Yorker Stadtteil Soho eine Ausstellung.
Unter dem Titel Here is New York lud man jeden Bürger der Stadt ein, seine persönlichen Bilder vom Anschlag auf die Türme des World Trade Centers vorbei zu bringen. Es dauerte nicht lange, und der Laden in der Prince Street war überfüllt mit über 7.000 Fotografien. Ihre Hängung erinnerte an das kreative Chaos einer gigantischen Dunkelkammer. Durch alle Räume des Geschäftes hatte man lange Wäscheleinen gezogen, an denen die einzelnen Abzüge anonym und ungerahmt baumelten.
Eine traumatisierte Stadt bastelte sich so ihr eigenes Gedächtnis. Eine Ordnung gab es in diesem Erinnerungsraum zunächst ebenso wenig wie in der über Nacht veränderten Realität. Wüst durcheinander hingen hier Bilder von renommierten Profifotografen wie Larry Towell oder Steve McCurry neben den Schockimpressionen von Amateuren. Bilder von Friedenskundgebungen wechselten mit den gigantischen Asche- und Rauchwolken über den Straßen des Bankendistrikts von Lower Manhattan. Manch einer brachte auch nur Fotos vorbei, auf denen die Skyline der Stadt noch unbeschädigt war: Ein letztes Farewell an die eben zusammengebrochenen Gewissheiten.
Kein ganzes Jahr danach ist Here is New York - Die Demokratie der Bilder nun in Berlin zu sehen. Unter Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für Politische Bildung werden im Martin-Gropius-Bau derzeit noch einmal all die Bilder der medialen Endlosschleife aufgerufen: Die Flugzeuge, die Türme, die panischen Menschenmassen. Nichts, so der erste Anschein, was nicht schon Dutzend Mal zu Tode zitiert worden wäre. Doch die Ausstellung will eben nicht informieren, sie will im klassischsten aller Sinne politisieren. Denn für viele Wochen bot man in der New Yorker Prince Street Obdach für die ansonsten so stiefmütterlich behandelte res publica.
Trotz Wäscheleinenhängung und einer Übernahme von gut 500 Bildern - die Kopie im Martin-Gropius-Bau ist verurteilt, Surrogat zu bleiben. Ihr fehlt schlicht das, was man bei solchen Unternehmungen wohl die Aura nennt. In New York ging es weniger um die Präsentation eines urbanen Fotoalbums, sondern um die Wiedergewinnung des öffentlichen Raumes. Am Nullpunkt von Ground Zero schien man sich an die beschaulichen Plattformen der klassischen Polis zurück zu erinnern. Das Ladengeschäft in der Prince Street - eigentlich war es nicht mehr als ein Remake jener bürgerlichen Foren, auf denen die hellenistischen Stadtstaaten einst die Demokratie erfanden. "Wir brauchen eine neue Methode, Geschichte zu betrachten und zu beurteilen", so der Ausgangspunkt der vier Kuratoren. Am Ende stand ein visuelles Flechtwerk individueller Standpunkte - Tausende Fotografien als Träger Tausender Anschauungen.
In seiner ursprünglichen Konzeption bot Here is New York somit auch einen Weg, um aus der Dauerberieselung von CNN und NBC auszusteigen. Denn die Bilderschau sollte die medialen Kanäle vom Kopf auf die Füße zurückstellen. Während es in den heutigen Metropolen längst Konsens geworden ist, dass das Politische mittels Radio und Fernsehen in den Raum des Privaten vordringt, wuchs mit dem Schock das Bedürfnis, die Loops der Nachrichtenclips aus dieser Intimsphäre zurückzudrängen. Der Terror offenbarte nicht nur die Fragilität von Glas und Beton, sondern schlug auch Wunden in das Verständnis der Stadt als den ursprünglichsten politischen Raum. Diesen neu zu entdecken, hieß, den demokratischen Diskurs auf seine eigentliche Formel zurückzustutzen: Das Private ist politisch. Die neue Geschichtsbetrachtung, die die Initiatoren um Alice Rose George also propagierten, basierte letztlich auf der ältesten demokratischen Tugend überhaupt: Der Entdeckung des Dialogs als Struktur des politischen Lebens.
Doch wie es oft so ist bei großen Würfen - manch hehres Ziel verpufft schon beim ersten Rundgang. Zwar können einem Fotos wie das des Pressefotografen William Biggarts, auf dem Glasscheiben im Augenblick ihres Zerberstens zu sehen sind, durchaus die Sprache verschlagen, doch ist dies weniger dem Motiv als vielmehr dem Umstand seiner Entstehung geschuldet. Biggarts nämlich, so ist auf einer kleinen Wandnotiz zu lesen, ist in der Ausstellung der einzige Fotograf, der den Anschlag auf das WTC nicht überlebt hat. Entstanden irgendwo in den oberen Etagen der beiden Zwillingstürme, ist dies die letzte Fotografie, die später aus seiner stark lädierten Kamera geborgen werden konnte. Here is New York - im Angesicht einer solchen Aufnahme schwingt im Titel ein beunruhigendes Mayday mit.
Die meisten Bilder jedoch zeigen das, was Bilder über den 11. September eben so zeigen: Feuerwehrmänner, Trümmerfelder und Rauchschwaden. Und hätten renommierte Fotografen der Agentur Magnum ihre Eindrücke dieses Tages nicht schon zuvor in einem millionenfach verkauften Fotobuch veröffentlicht, die Bilder der Laien wären von denen eines Alex Webb oder Josef Koudelka (beide sind ebenfalls in der Ausstellung präsent) nicht mehr zu unterscheiden. Nicht, dass man im Trauma von Manhattan noch nach Ästhetik fragen wollte, doch wie kommt es eigentlich, dass auch tausend Augen letztlich immer nur das Gleiche sehen?
Die kleinen ureigenen Geschichten etwa; den ungewöhnlichen Blick, der die Tragödie aus eigenwilliger Perspektive zeigen würde - all das sucht man im Martin-Gropius-Bau zumeist vergebens. Stattdessen bestätigen die Fotografien immer wieder die bekannten Impressionen. Diese neue Demokratie der Bilder besteht also nicht mehr darin, die unzähligen Einzelstandpunkte zu einem facettenreichen Mosaik zusammenzufassen, sondern mit möglichst vielen Aufnahmen das Urbild der Breakin´ News auf CNN noch einmal zu reproduzieren. Man sucht nicht mehr das Eigene, sondern fahndet nach dem bereits medial Versendeten. War Fotografie einst eine Methode, sich der Wirklichkeit zu vergewissern, so wird sie in dieser Ausstellung zu einer Vergewisserung des Fernsehbildes.
Der 2001 verstorbene Soziologe Pierre Bourdieu hat bereits Mitte der sechziger Jahre darauf verwiesen, dass Fotografien auch stets Aussagen über die Strukturen und Regeln jener Gesellschaft bestätigen, die sie hervorgebracht haben. "Wie könnte die Darstellung der Gesellschaft etwas anderes sein als die Darstellung einer Gesellschaft, die sich selbst darstellt?", fragte er spitzfindig. Bei Here is New York - fast verrät es schon der Titel - wird immer auch eine Stadt vorstellig, die uns etwas über ihr symbolisches System und ihre ästhetischen Codes verrät. New York, so könnte man nach dieser Ausstellung also meinen, ist im Begriff, in einen vollkommen visuellen Raum zu entgleiten. Der Versuch, noch einmal Authentizität darzustellen, scheint nicht mehr zu gelingen, wenn ein Bild nur noch Abbild eines Bildes ist. Ground Zero wird so zur vollkommenen Verkörperung der "Agonie des Realen".
Unter solch optisch verhedderten Voraussetzungen will es mit der Demokratie der Bilder jedenfalls nicht mehr recht klappen. Was von Alice Rose George noch als Donquichotterie gegen das Verschwinden der Wirklichkeit in den technischen Bildern gedacht gewesen sein mag, das hat im Martin-Gropius-Bau nur noch etwas Rührendes. Das Entsetzen jedenfalls scheint mit jeder weiteren Fotografie nur ein Stück mehr ausgewaschen zu werden. In den "magischen Kanälen" ist das demokratische Subjekt stetig auf dem Rückzug. Vielleicht ist es die Angst vor diesem völligen Abhandenkommen, die jener Unbekannte im Sinn hatte, als er mit dem Finger durch den Trümmerstaub des World Trade Centers fuhr, um für spätere Fotografen seine Nachricht zu hinterlassen: "Welcome to Hell".
Here is New York: Die Demokratie der Bilder. Noch bis zum 7. Oktober im Martin-Gropius-Bau in Berlin. Ab September wird die Ausstellung auch in Dresden, Düsseldorf und Stuttgart zu sehen sein.
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