Ein Pressefotograf ist in der Regel ein tougher Typ. Einer wie James Nachtwey oder Gilles Peress. Ein Pressefotograf geht in die Krisengebiete, schießt mutig seine Filme durch und wird so zum letzten Helden moderner Kriege und Konflikte Li Zhensheng hat von all dem nichts. Eher ist der 63jährige Chinese, der als Fotograf für die nordchinesische Zeitung Heilongjiang Tagblatt arbeitet, ein etwas schrulliger Zeitgenosse. Statt in cooler Distanz die Welt abzulichten, tritt er nachdenklich mit den Objekten seiner Fotografien ins Gespräch.
Zumindest zwei seiner Aufnahmen, die er im Laufe seines Berufslebens gemacht hat, haben ihn emotional nicht mehr los gelassen. Sie stammen aus dem Jahr 1968 und zeigen die aufgereihten Leichen von sieben Männern und einer Frau. Entstanden sind sie während der Gräuel der chinesischen Kulturrevolution. Mit gefesselten Händen und um den Hals gehängten Schildern wurden die Verurteilten zunächst durch die Straßen der Stadt Harbin gefahren und anschließend auf einem staubigen Stück Land hingerichtet. "Niemand forderte mich auf, Nahaufnamen der Leichen zu machen", so Li Zhensheng später. "Ich tat es aus einem Impuls heraus. Da ich nur ein 35 mm-Weitwinkel-Objektiv hatte, musste ich sehr nahe an sie heran, so nahe, dass ich den Geruch ihres Blutes und ihrer Gehirnmasse riechen konnte".
Li Zhensheng hatte bereits zuvor zahlreiche Unmenschlichkeiten fotografiert. Schauprozesse, öffentliche Demütigungen, Bücherverbrennungen. Die Wende aber kam erst mit jenem 5. April 1968. Denn von da an machte Maos Große Kulturrevolution auch vor dem Vollzug der Todesstrafe nicht mehr Halt. Lange hat Li Zhensheng an die revolutionären Ideen des großen Vorsitzenden geglaubt. Begeistert beteiligte er sich an dem "Großen Sprung nach vorn", begrüßte die sozialistische Erziehungsbewegung. Mit unzähligen Rotgardisten pilgerte Li Zhensheng zu Mao Zedong nach Peking und stellte seine journalistische Arbeit ganz in den Dienst jener "Großen Proletarischen Kulturrevolution", die das Gesicht des modernen Chinas so nachhaltig verändern sollte. Nach zwei Jahren aber war für ihn der Spuk vorbei.
Das grausamste Jahrzehnt in der Geschichte der Volksrepublik China jedoch erreichte mit diesem Tag lediglich einen seiner ersten Höhepunkte. Tausende Menschen mussten noch durch die brutalen Erziehungs- und Arbeitslager gehen, mussten für die absurdesten Vorwürfe öffentlich Selbstkritik üben und in den Wirren der bürgerkriegsähnlichen Zustände ihr Leben lassen. Erst mit dem Tod Maos im Jahr 1976 begann sich das angespannte Klima der gegenseitigen Verdächtigungen und des blinden Aktionismus zu entspannen.
Aufgearbeitet indes wurde die Kulturrevolution nur zögerlich. Sowohl in Europa, wo unter der Linken die Sinisierung des Marxismus eine große Anhängerschaft fand, wie in China selbst. Maos Ausspruch, nachdem die Revolution eben kein "Partyspaß" sei, wurde stillschweigend geschluckt und mit roter Sonne im Herzen sollte das Leben schon irgendwie weiter gehen.
Fast 30 Jahre nach Maos Tod konfrontiert uns Li Zhensheng noch einmal mit den Ereignissen dieser Zeit. In seinem Buch Roter Nachrichtensoldat hat er nun all die Fotografien veröffentlicht, die er aus Angst vor Entdeckung jahrelang unter dem Fußboden seiner Wohnung verstecken musste. Sie zeigen die grausame Fratze einer Ära aus Blindheit, Hass und Unterwerfung - sozialistischer Realismus von seiner jämmerlichsten Seite. Menschen, die mit verschmutztem Gesichtern und kleinen Anklagetäfelchen auf der Brust über Stunden auf Stühlen stehen und Buße tun mussten, angebliche Revisionisten, denen man öffentlich die Haare scherte und eine aufgestachelte Jugend, der keine Idee zu wahnwitzig erschien, um sich für sie nicht militärisch abrichten zu lassen. Und das alles wegen eines gekränkten alten Mannes, der noch einmal die Jahrtausende alte Rolle von Chinas Gründungskaiser spielen wollte.
Li Zhenshengs Schwarzweißaufnahmen wirken beklemmend. Ohne Pathos und ohne Inszenierung führen sie schlicht vor Augen, was gewesen ist. Doch zu lange hat der Fotograf selbst an die zerstörerische Kraft des Maoismus geglaubt, um im Nachhinein mit seinen Fotografien Anklage erheben zu wollen. Und so wirken sie wie die Dokumente eines furchtbaren Rauschs, an den man nüchtern nicht mehr glauben will.
Wie Alexander Solschenizyns Der Archipel Gulag oder Andrei Amalriks Unfreiwillige Reise nach Sibirien, so ist auch Li Zhenshengs Roter Nachrichtensoldat ein bleibendes Zeitdokument. An ihm wird man nicht vorbeikommen, will man das Jahrhundert der großen Ideologien abschließend bewerten. Was hier im Namen von Sozialismus und Gleichheit verübt worden ist, war wahrlich kein "Partyspaß", sondern der Totentanz eines weltanschaulichen Konzepts.
Roter Nachrichtensoldat. Li Zhensheng. Ein chinesischer Fotograf in den Wirren der Kulturrevolution. Phaidon, Berlin 2003. 320 S., 39,95 EUR
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