Der Mann, der am 16. März 1934 in das Pariser Hospital Tenon eingeliefert wird, sieht viel älter aus als die 44 Jahre, die er tatsächlich alt ist. Der Patient stammt aus der Ukraine, spricht kaum Französisch, ist völlig mittellos und leidet an Tuberkulose im Endstadium. Besuch erhält er nur von seiner Frau und seiner Tochter. Zweimal wird er an der Lunge operiert, doch können ihm die Ärzte nicht mehr helfen. Am frühen Morgen des 25. Juli schließt er für immer die Augen und wird auf dem nahe gelegenen Friedhof Père Lachaise unter die Erde gebracht.
Bei der Trauerfeier stellt sich heraus, dass Nestor Machno nicht ganz in Vergessenheit geraten ist. Hunderte von Sympathisanten, darunter russische Emigranten wie Anarchisten aus Frankreich, Spanien und Italien, geben ihm das letzte Geleit. Pariser Zeitungen, an erster Stelle das KP-Organ L’Humanité, veröffentlichen ausführliche Nachrufe. Ganz und gar ungewöhnlich ist die Würdigung im Mitteilungsblatt des französischen Außenministeriums, Le Temps. Dessen Moskauer Korrespondent Pierre Berland schreibt über den Toten: „Gewiss hatten an der Niederlage Denikins“ – eines weißgardistischen Generals nach der Oktoberrevolution – „die aufständischen Bauern unter Machnos schwarzer Fahne größeren Anteil als Trotzkis reguläre Armee. Machnos Partisanen sorgten letztendlich dafür, dass das Pendel zugunsten der Roten ausschlug. Auch wenn Moskau diese Tatsache heute sorgfältig verschweigt, wird die unvoreingenommene Geschichtsschreibung sie in Erinnerung behalten.“ Die Machno-Bewegung in der Ukraine kämpfte für eine Selbstbefreiung von Unterdrückung und ausbeuterischen Großagrariern, deutschen und österreichischen Besatzungstruppen, ukrainischen Nationalisten und weißen Konterrevolutionären. Nur gegen ihren letzten Gegner können die Anarchisten nichts ausrichten: die Bolschewiki.
Lange waren die Streiter unter der schwarzen und der roten Fahne Verbündete; vor allem, als es galt, sich gegen einen gemeinsamen Feind zu behaupten. Darüber, was geschehen würde, nachdem dieser besiegt war, hatten die Anarchisten keine Illusionen. Einer von ihnen, Wsewolod Eichenbaum, späterer Mitkämpfer Machnos mit dem Decknamen „Volin“, hatte 1917 nach einer Begegnung mit Leo Trotzki erklärt, er sei sich völlig sicher, dass dessen Genossen „schließlich in Russland die Macht an sich reißen“ würden. „Und dann: Wehe uns Anarchisten! Sobald eure Herrschaft gefestigt sein wird, werdet ihr uns verfolgen und schließlich wie die Rebhühner abknallen.“
Ein entrüsteter Trotzki wies „Volins“ Annahme, „Sozialisten würden rohe Gewalt gegen die Anarchisten anwenden“, als „Absurdität“ zurück. „Volin“, später ein Geschichtsschreiber der Machno-Bewegung, überzeugte das nicht. Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis Trotzki sich damit brüstete (und „Volin“ ihn zitierte), dass „die Sowjetmacht Russland mit eisernem Besen vom Anarchismus“ befreien werde. Bis es so weit war, konnte die Machno-Bewegung, wenn auch nur für kurze Zeit, einigen ihrer Ideen folgen. In der zeitweise beherrschten Südukraine walteten Räte, die keiner Zentralgewalt unterstanden, der Ackerboden wurde nach Vertreibung der Großgrundbesitzer an landlose Bauern verteilt, die Bevölkerung kam in den Genuss von Rede- und Vereinigungsfreiheit, die Pressezensur wurde aufgehoben, die staatliche Polizei abgeschafft, der Strafvollzug aufgelöst.
Machno, geboren im südukrainischen Huljajpole zwischen Dnjepr, Donezbecken und Asowschem Meer, hatte bereits als 15-Jähriger am Aufstand von 1905 teilgenommen und musste danach eine Strafe im Moskauer Butyrka-Gefängnis absitzen, wo er sich die Tuberkulose zuzog, an der er im Pariser Exil zugrunde gehen sollte. Während der Haft hörte er von den Ideen Pjotr Kropotkins, las dessen Schriften über Selbstverwaltung in Landwirtschaft und Industrie. Nach der Oktoberrevolution 1917 erlebte er die vielen Volten in der Ukraine, als Nationalisten wie Symon Petljura und der Kosakenhetman Pawlo Skoropadskyj oder antikommunistische Generäle wie Anton Denikin und Pjotr Wrangel vorübergehend die Macht übernahmen. Ihnen allen leistete die „Machnowtschina“ erbitterten Widerstand. Während die untereinander zerstrittenen reaktionären Befehlshaber einander ablösten, behaupteten sich Machnows Kämpfer, unterstützt von den Bolschewiki, und blieben. Dabei profitierten sie auch von der Überlastung der Trotzki unterstellten Roten Armee, die an anderen Orten des sich herausbildenden Sowjetreichs von deutschen Freikorps, polnischen, türkischen und japanischen Invasoren – alimentiert durch die Regierungen der USA, Großbritanniens und Frankreichs – permanent attackiert wurde. Nachdem General Pjotr Wrangel als letzter weißer Warlord kapitulieren musste, kontrollierte die „Machnowtschina“ fast die komplette Südukraine, ein Gebiet von 70.000 Quadratkilometern, in dem über sieben Millionen Menschen lebten.
Ende November 1920 forderte General Michail Frunse als Kommandeur der Südfront, Machno solle seine Verbände auflösen und in die Rote Armee einreihen. Als die Revolution nicht mehr von Konterrevolutionären und Weißgardisten bedroht war, eröffneten die Bolschewiki damit eine neue Front. „Zahl der Anarchisten Ukraine feststellen, besonders Machno-Gegend“, telegrafierte Lenin aus Moskau. „Alle Anarchisten streng überwachen. Möglichst viele Dokumente von kriminellem Charakter, nach denen sich Anklage erheben lässt, vorbereiten ...“ Das widersprach eindeutig der militärischen Autonomie, die Trotzki der Machno-Armee in den Kämpfen zuvor zugesichert hatte. Machno berief sich darauf, doch ohne Erfolg. Trotzki ließ die Rote Armee gegen die „Machnowtschina“ vorrücken. Machno selbst wurde per Haftbefehl gesucht, doch gelang es nicht, ihn festzusetzen. Das letzte Kapitel dieses Machtkampfs dauerte fast ein Jahr. Allmählich schwanden die Kräfte der Anarchisten. Machno war, anders als Frunse, nicht in der Lage, nach Verlusten seine Reihen mit frischen Kräften aufzufüllen. Am Ende waren die Partisanen in die Steppenzone an der Grenze zu Rumänien abgedrängt worden. Machno wurde mehrfach verwundet und musste in einem Karren transportiert werden, bis ihn eine Kugel am Hinterkopf traf. Er überlebte, war jedoch zu keinem Kommando und keiner Kampfhandlung mehr fähig. Mit den letzten Getreuen, deren Zahl auf wenige Hundert geschrumpft war, setzte er in Fischerbooten über den Dnjestr ans rettende rumänische Ufer.
In den frühen Morgenstunden des 28. August 1921 stellten sich im heute zu Moldawien gehörenden Städtchen Vadul lui Vodă die Reste der einst stolzen Machno-Armee den rumänischen Behörden, die eine Internierung in der Zitadelle im siebenbürgischen Brașov anordneten. Eine Auslieferung an die Bolschewiki unterblieb, da kein entsprechendes Abkommen bestand. Gleichzeitig drängte Rumänien die Verfolgten, das Land zu verlassen. So begann eine Odyssee, die über Polen nach Danzig führte, das laut Versailler Vertrag von 1919 als „Freie Stadt“ unter dem Schutz des Völkerbundes stand. Dort weigerten sich sowohl der deutsche als auch der französische Konsul, Machno ein Visum auszustellen. Erst durch die Hilfe einflussreicher Freunde, darunter „Volin“, der seit dem Untergang der „Machnowtschina“ in Berlin lebte, gelang eine Ausreise in die deutsche Hauptstadt. Nach einem dreimonatigen Aufenthalt zog Machno nach Paris weiter, zur letzten Station seines Lebens.
Hier lebte er von den Spenden französischer und spanischer Anarchisten. Der vergessene Held längst vergangener Tage wurde zunehmend verbittert. Seine zahlreichen Kriegswunden wollten nicht heilen, die Tuberkulose verschlimmerte sich. Er verfiel immer stärker dem Alkohol und überwarf sich mit seinen Freunden, zuletzt mit „Volin“, den es inzwischen ebenfalls nach Paris verschlagen hatte. Deprimiert und entwurzelt sehnte er sich in die Ukraine zurück.
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