Last exit Stubnyafürdő

Sommergeschichte Am Rande des k. und k.- Reiches vollzog sich das Schicksal des Arztes und Autors Géza Csáth
Ausgabe 30/2017
Eher obsessiv als transgressiv: Sex, Drogen und Tagebuch
Eher obsessiv als transgressiv: Sex, Drogen und Tagebuch

Foto: OSZK/Getty Images

Versuchen Sie mal, sonntags morgens in Turčianske Teplice einen Kaffee zu bekommen! Hat sogar Tesco zu! Um wie viel angenehmer gestaltete sich doch die Ankunft für Géza Csáth! Auch er traf an einem Sonntag in Turčianske Teplice an. Damals, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, war der Kurort selbst Bürgern im fernen Wien oder Budapest ein Begriff. Nur hieß er damals nicht Turčianske Teplice, sondern Stubnyafürdő. Die Westslowakei war Teil der ungarischen Hälfte der kaiserlichen und königlichen Doppelmonarchie, und Csáths nordserbische Heimat Szabadka, heute Subotica, war es auch. Um vom Heimat- zum Arbeitsort zu reisen, musste der 1887 geborene Csáth nicht einmal eine Grenze überqueren.

Als sein Zug in Stubnyafürdő einrollt, steht selbstverständlich ein Kaffee bereit. Übrigens ist er nicht allein gereist. Sein Cousin Dezső Kosztolányi, der Schriftsteller, begleitet ihn. Am nächsten Morgen wird Csáth eine neue Stelle als Arzt und Kosztolányi eine Kur antreten.

Turčianske Teplice oder eben Stubnyafürdő verfügt über eine lange Tradition als Heilbad. Als Arzt muss Csáth berufliche Praxis sammeln, warum nicht in einem Kurbad mit Tradition, wenn auch in der Provinz? Ausgebildet in Budapest, hat er sein Medizinexamen mit Bravour bestanden und eine wissenschaftliche Fallstudie veröffentlicht: Über den psychischen Mechanismus der Geisteskrankheiten. Die Abhandlung, vermerkt er in seinem Tagebuch, ist „meines Wissens die erste ausführliche und konsequent zu Ende geführte Analyse einer Paranoia“.

Die Jagd nach Sex

Von diesem Kalendarium sind nur die Einträge ab Mai 1912 bis März 1913 erhalten. In schonungsloser Diktion enthüllt das Dokument hinter einer mühselig aufrechterhaltenen bürgerlichen Fassade eine bedrohlich ins Stolpern geratene Existenz. Csáth, verrät das Tagebuch, war ein talentierter Musiker, konnte aber sein Violinenwunderkindversprechen nicht einlösen. Nun hat er an nichts mehr Interesse, nicht an der Musik, nicht an der medizinischen Forschung, und bald auch nicht mehr am Arztberuf. Sein Leben ist ausschließlich Zwängen gewidmet. Dazu zählen der im Durchschnitt 1,268-mal täglich vollzogene Koitus mit der noch in Budapest weilenden Freundin (wohin er extra reist) und die Einnahme von 5,6 Zentigramm Morphium, ebenfalls pro Tag. Natürlich ist auch das Bedürfnis, peinlich über alles Buch zu führen, zwanghaft. „Ich muss schreiben“, vertraut er seinem Tagebuch an, auch wenn „ich keine Lust zum Schreiben mehr habe“.

Der Alltag im Kurbad ist trist. Csáth hat kaum Patienten, Kosztolányi ist meist allein mit seinem Masseur in den Baderäumen. Csáth vertreibt sich die Zeit mit Briefeschreiben und Möbelrücken. Sehnsüchtig wartet er darauf, dass der Cousin mit den Behandlungen fertig ist. Dann gehen beide spazieren, essen zu Mittag, lesen Zeitung, spielen Billard. Sie lernen einige Slowaken kennen, doch sind sie ihnen zu provinziell. Abends im Bett, nach einer letzten Partie Billard im Hotel, lesen sich die beiden Snobs gegenseitig Casanovas Liebesabenteuer vor.

Und träumen von eigenen. Besonders bei Csáth ist die Jagd nach Sex zur Obsession geworden. Er bekämpft sie mit Morphium und dem Ersatzmittel Pantopon. Seit er die neue Stelle angetreten ist, bemüht er sich, den Drogenkonsum zu reduzieren. Alle zwei Tage spritzt er noch, und nur nach dem Mittagessen. Bald stellt sich die befürchtete Nebenwirkung ein: An den drogenfreien Tagen ist Csáths sexuelles Verlangen kaum noch zu bändigen. Hinzu kommen existenzielle Ängste. Seine Praxis ist nicht gut angelaufen.

„So kam es“, schreibt er in sein Tagebuch, „dass ich alsbald, faute de mieux, das Zimmermädchen verführte, eine gewisse Teréz.“ Ein schlechtes Gewissen hat er nicht. Auch nicht gegenüber der Freundin: Csáth glaubt, „daß auch Olga damit eher einverstanden wäre als mit dem häßlichen Onanieren“.

So vergeht der Sommer. Am Ende verbucht Csáth zehn Affären. Selten kommen ihm Zweifel. Zwei Tage vor Herbstbeginn gibt sich Csáth im Tagebuch selber „Gute Ratschläge“. Der erste lautet: „Vergiß nicht, wenn kein Koitus möglich ist, besteht immer noch Gelegenheit zu O.C. (Oralverkehr), zu Frott (Aneinanderreiben der Geschlechtsteile), zu Cunnilingus, zu coit. in anum, zu Fellatio.“ Des weiteren erhofft er sich, „daß das Brom, der Barbier, das Bad, die reine Wäsche, die Herzwäsche, das Klysma, die Nasenwäsche, der Alkohol usw. Mittel sind, die in schwieriger Lage viel helfen können“. Falls dies alles nicht ausreicht und „wenn man sich nicht mehr beherrschen kann“, schließt er an, „nehme man noch 1 g Brom und warte ½ Stunde im Liegen.“ So weit die Theorie.

Drei Revolverkugeln

Bald begeht er „mit der großen Dosis von 0,027 einen Miniatursuizid“. Doch sterben wird Csáth noch lange nicht. Obwohl er die Palette der eingeworfenen Drogen sogar erweitert: Zum Morphium und Pantopon kommen Arsen und Strychnin hinzu. Offenbar lassen sich geringe Dosen dieser Gifte überleben. Und immer wieder der Vorsatz aufzuhören: „Morgen also der letzte Versuch, auf Gedeih und Verderb.“

Das Ergebnis seiner Bemühungen ist kein Ja oder Nein zum Rausch, sondern ein deprimierendes Weiter-so. Zu zwei wichtigen Entscheidungen kann sich Csáth noch durchringen: Er heiratet seine Olga, und er unterwirft sich einer Entziehungskur. Beide Maßnahmen sollen vorspiegeln, dass Csáth weiter funktioniert. Sogar im Weltkrieg kommt er zum Einsatz, als Militärarzt. Irgendwann jedoch fliegt sein Drogenkonsum auf, und er wird entlassen.

Dezső Kosztolányi beschließt, sich um den Cousin zu kümmern. Als er ihn nach längerer Zeit wieder trifft, ist er geschockt: „An seinem Märtyrerleib gab es kein Fleckchen, das nicht von Injektionsnadeln zerfetzt war. Abszesse bildeten sich auf der Haut, und er umband die Beine mit Riemen, um sich dahinschleppen zu können.“

Auch mit Csáths Ehe geht es bergab. Die Hoffnung, die ihn nach der Geburt eines Mädchens kurz ergriffen hat, ist mangelnder Information geschuldet; die kleine Olga entpuppt sich als Spross einer außerehelichen Beziehung seiner Frau. Die Fassade hält das Paar aufrecht. Csáth, dessen Kontrollzwang die Beziehung von vornherein belastet hat, steigert sich in eine Paranoia. Er wirft Olga vor, sich zu einer Tyrannin entwickelt zu haben, die nun ihn am Gängelband führt. Der Wahrheit am nächsten kommt wohl die Einschätzung Ildikó Lovas’, einer aus derselben Stadt wie Csáth stammenden, aber erst achtzig Jahre später geborenen Autorin. In ihrem Roman Spanische Braut, dessen einer Strang die letzten Tage der Csáth’schen Ehe darstellt, ist Olga Jónás keineswegs das willige Weibchen, als das sie in Csáths Tagebuch wie auch in der Wiedergabe Kosztolányis porträtiert wird. Eine Provokation zum Mord, wie ihn Csáth bald begehen wird, vermag Ildikó Lovas ebenso wenig zu erkennen.

Im Frühjahr 1919 wird Csáth auf Betreiben seiner Frau und seiner Eltern in die geschlossene Abteilung einer psychiatrischen Anstalt eingewiesen. Die Klinik liegt in Baja, gleich in der Nachbarschaft zu Csáths Geburtsort. Doch heißt Szabadka inzwischen Subotica, beide Städte trennt seit kurzem eine Staatsgrenze. Eine Weile hält es Csáth hinter Gittern aus, dann gelingt ihm die Flucht. Zu Fuß schlägt er sich bis nach Regőce durch. Der kleine Ort liegt genau auf der neuen Grenze, gehört aber als Ridjica zum jugoslawischen SHS-Staat. In Regőce hat Csáth das letzte Jahr als Landarzt praktiziert, Olga wohnt immer noch dort. Dann spielt sich das Drama ab, das Ildikó Lovas so eindringlich schildert. Mit drei Revolverkugeln erschießt Csáth seine Frau. Erneut wird er nach Baja überführt, später nach Subotica, und wieder schafft er es zu fliehen. Unterwegs bricht er in eine Apotheke ein. Csáth will zurück an jene Budapester Klinik, in der er seine ersten Meriten als Mediziner verdiente.

An der Grenze wird er aufgehalten. Csáth erkennt seine aussichtslose Lage und bittet die Soldaten, ihn zu erschießen. Als sie ablehnen, springt er in einen Straßengraben und nimmt alle mitgeführten Drogen auf einmal. Géza Csáths Leben endet am 11. September 1919. Am Schluss eines kurzen Lebens mit vielen Möglichkeiten stehen eine wissenschaftliche Abhandlung, eine Studie über Giacomo Puccini, ein paar Kurzgeschichten und ein unvollständiges Tagebuch. Das ist alles.

Info

Von Ralf Höller (geb. 1960) erscheint im September in der Edition Tiamat Das Wintermärchen. Schriftsteller erzählen die Bayerische Revolution und die Münchner Räterepublik 1918/19.

Tagebuch: 1912–1913 von Géza Csáth ist 1990 bei Brinkmann und Bose erschienen und noch lieferbar

12 Monate für € 126 statt € 168

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