Von 1981 lernen

Sozialisierung Wohnen, Gesundheit und Verkehr sind reif für den Übergang zur Gemeinwirtschaft – wie vor 40 Jahren die Stahlindustrie
Ausgabe 25/2021

Das Wetter im Frühjahr 2021 sowie die heftige Pandemiewelle waren schlechte Bedingungen für Straßen- und Haustürpolitik. Dennoch hat die Berliner Initiative „Deutsche Wohnen & Co Enteignen“ mit ihrem Vorschlag, große Immobilenkonerne zu vergesellschaften, bundesweit für Aufsehen gesorgt.

Was immer auf die Phase der Unterschriftensammlung folgt, die jetzt mit dem 25. Juni endet: Diese Kampagne hat ins Bewusstsein zurückgerufen, dass Sozialisierungen nach Artikel 15 des Grundgesetzes möglich und auch unter gegebenen Bedingungen bezahlbar sind. Sie hat darüber ein politisches Feld für Massenkampagnen neu vermessen, das lange wenig im Fokus breiter sozialer Bewegungen stand. Was dessen Besonderheiten sind, seine spezifischen Schwierigkeiten und Potenziale, verdeutlicht ein vergleichender Rückblick – auf die bislang letzte große Sozialisierungskampagne in der Bundesrepublik, die vor 40 Jahren in der Stahlindustrie begann.

Diese Branche steht wie keine andere für den industriellen Kapitalismus des 19. und 20. Jahrhunderts: für die mit Eisenbahn und Kriegen sagenhaft reich gewordenen „Stahlbarone“, für Arbeiterelend – und später auch Gewerkschaftsmacht. Für einen steilen Aufstieg und einen schleichenden Niedergang.

Schon 1918 war die Sozialisierung der Stahlkonzerne gefordert worden, 1945 noch einmal. 1951 bekamen die Gewerkschaften dann per „Montanmitbestimmung“ immerhin 50 Prozent der Sitze in den Aufsichtsräten. Doch seit 1960 rationalisierte sich die Branche in eine Krise. Auf Absatzprobleme folgten Personalabbau und effizientere Verfahren, aber andere taten dasselbe – globale Überproduktion entstand. So wurde Stahl ab etwa 1975 zum Sorgenkind; in manchen Jahren verschwanden monatlich tausend Jobs. Die mächtige IG Metall hätte gern am Runden Tisch mit Staat und Konzernen eine demokratische Struktur- und Regionalplanung entworfen, doch Wirtschaft und sozialliberale Regierung blockierten. So konnte die Gewerkschaft nur mit Sozialplänen den Absturz bremsen. Erst um 1980 begann sich der Konflikt zu politisieren.

Diese Ausgangslage ist grundsätzlich anders als die, auf die „DW Enteignen“ trifft. Entspann sich jener Konflikt in der Stahlindustrie im Bereich der Produktion, arbeitet die Berliner Initiative im Reproduktionsbereich. Zwar steckt auch dieser in einer Dauerkrise: Im Gesundheitswesen zum Beispiel planen Krankenhauskonzerne mit staatlich verordneten Fallpauschalen jeden Handgriff durch, wobei menschenwürdige Pflege ebenso durch den Rost fällt wie gesellschaftliche Vorsorge gegen Pandemien. So zeigt die derzeitige Bewirtschaftung der Reproduktion, dass Betriebswirtschaft eines gut kann, nämlich aus Geld mehr Geld machen. Gesellschaftliche Vorsorge zählt dagegen nicht zu ihren Stärken. Aber anders als Stahlwerke können Wohnen, Pflege oder Gesundheit nicht wegglobalisiert werden. Es geht hier nicht um Güter, die wir überall kaufen können, sondern um die Produktion des Lebens selbst. Und die findet lokal statt – zu Hause, in der Kita, im Krankenhaus. Keine schlechte Ausgangslage für eine soziale Bewegung.

Das Organisationsdilemma

Was es in der heutigen Welt der Reproduktion hingegen kaum gibt, ist ein Äquivalent zu den homogenen, gut organisierten Belegschaften der Stahlwerke vor 40 Jahren. Und was solche Strukturen vermögen, das zeigte sich 1980 zunächst in Dortmund. Dort hatte die IG Metall beim Hoesch-Konzern dem Abbau von 4.000 Jobs zugestimmt, wenn dafür ein neues Oxygen-Stahlwerk gebaut würde. Der Konzern brach sein Wort, eine Massenbewegung setzte ein: 70.000 demonstrierten am 28. November unter der Losung „Stahlwerk Jetzt!“ auf dem Dortmunder Marktplatz, in einer Stadt von damals knapp 600.000 Köpfen. Eine gleichnamige Bürgerinitiative fand breite Beachtung – wenn auch nicht überall Zustimmung: Die 1980 in den Bundestag eingezogenen Grünen forderten schon damals, Subventionen und Arbeitskräfte in eine Energiewende umzuleiten. Und sogar die damaligen Linksradikalen waren erstaunlich skeptisch. Die linksgewerkschaftliche Zeitung Revier und die „Revolutionäre Gewerkschafts-Opposition“ der KPD/ML im Hoesch-Betriebsrat brachten zwar die Sozialisierungsforderung erstmals auf. Sie warnten aber zugleich vor einer „Heilslehre“: Es gehe zunächst um ein Abwenden des regionalen Kollaps. Die damals noch nicht so marginale DKP hingegen feierte die Bewegung – die durch das Memorandum 81 der „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik“ weiteren Schub bekam: Das Papier beschrieb fundiert und damit „realistisch“ zwei Perspektiven der Sozialisierung: eine gewerkschaftlich mitbestimmte Holding im Besitz von Bund und Ländern oder ein öffentlicher Fonds mit demokratischer Struktur.

Von der Power einer solchen Großorganisation kann man in heutigen Kämpfen in der Reproduktionssphäre einerseits nur träumen. In der Pflege etwa gibt es kaum organisierte Belegschaften. Für Krankenhäuser und Erziehungseinrichtungen sind verschiedene Gewerkschaften zuständig. Die Betriebe sind vergleichsweise klein und die Beschäftigten verstreut. Und was das Mieten angeht, so gibt es zwar große Verbände, die aber nicht auf politische Mobilisierungen ausgelegt sind. So musste auch die Initiative DW Enteignen „von unten“ wachsen, ein komplexer und auch mühevoller Prozess. Andererseits aber ist man so nicht den Beharrungskräften ausgesetzt, die mit zentral organisierten Großstrukturen einhergehen.

Und diese zeigten sich in der Stahlkrise rasch. Die Satzung der IGM forderte seit 1949 eine Überführung von Schlüsselindustrien in Gemeingut. Doch die Gewerkschaftsspitze um Eugen Loderer versuchte, die Sozialisierung auszubremsen. Obwohl im Winter 1982/83 die Vertrauensleute bei Hoesch in Dortmund sowie Versammlungen bei Krupp in Duisburg, bei Klöckner in Bremen und bei Thyssen in Hamborn ein Sozialisierungspapier beschlossen hatten, wehrte der IGM-Vorstand die Forderung im Februar 1983 als nicht durchsetzbar ab.

Kampf um die Fantasie

Zwar drehte sich die Stimmung, als Loderer mit einem persönlichen Vorstoß bei Kanzler Helmut Kohl abgeblitzt war: Gegen den Vorstand stimmte im Oktober 1983 der 14. Gewerkschaftstag fast einstimmig für Vergesellschaftung. Doch die IGM folgte ihrer Basis nur unwillig. Erst 1985 – noch nach den industrieskeptischen Grünen – lag ein Sozialisierungskonzpt vor, das sich am Memorandum 81 orientierte; einen Plan zur Durchsetzung gab es indes nicht. Dem Papier ist die Furcht davor anzusehen, die Gewerkschaft könne als Miteigentümerin in die Lage geraten, ihre eigenen Mitglieder aus Betrieben entlassen zu müssen. Die Hauptenergie steckte die IGM denn auch in ein anderes – mittelfristig erfolgreiches – Vorhaben: die 35-Stunden-Woche.

Hätte eine energischere Gewerkschaftsführung die Vergesellschaftung der Stahlindustrie durchsetzen können? Nach einem letzten erbitterten Hochkochen kam es 1987 zum Kompromiss: Die IGM bekam ihren Runden Tisch. Die „Frankfurter Vereinbarung“ von Staat, Konzernen und Gewerkschaft garantierte die Schrumpfung der Branche ohne Massenkündigungen, finanziert durch Bund, Länder und EG – die aber keine Beteiligungen erwarben. Die Sozialisierung war vom Tisch. Die Stahlarbeiter hatten sich teuer verkauft und gingen ohne Abschläge in Frührente.

Auf die langfristigen Auswirkungen dieser Niederlage traf immer wieder, wer 2021 Unterschriften für die Berliner Sozialisierungskampagne sammelte. Im Verein mit dem Kaputtsparen der öffentlichen Dienste nach 1989 hat sie die politische Fantasie beschnitten, auch wenn es eine Niederlage erster Klasse war. Konnten sich die Stahlkocher von 1983 Vergesellschaftung noch vorstellen, erscheint heute die Idee von Gemeinwirtschaft ohne Profit vielen irreal. Nach 1980 Geborene haben eine funktionierende öffentliche Daseinsvorsorge zuletzt im Kindergarten erlebt.

Erst ein neuer Zyklus stadtpolitischer Kämpfe seit der Finanzkrise hat die Auseinandersetzungen um das Wohnen, die zuvor oft in Subkulturmilieus geführt wurden, für breite Schichten geöffnet. Im Anschluss daran hat die DW-Initiative demokratisches, gemeinschaftliches Wirtschaften wieder vorstellbarer gemacht – und pragmatisch verwirklicht, worüber viel theoretisiert wird: verbindende Klassenpolitik jenseits diverser Herkünfte und Geschlechtlichkeiten.

Lange hat die Linke die soziale Machtfrage vor allem in der Produktion gesehen. Dort sind die Kampfbedingungen derzeit eher schlecht. Sich mittelfristig dem Reproduktionsbereich zuzuwenden, ist erfolgversprechend – und heißt ja nicht, das andere aus dem Auge zu verlieren.

In der Reproduktion wäre Gemeinwirtschaft leicht zu haben. Pflege und Gesundheit sind steuer- und beitragsfinanziert. Doch der Staat verteilt das Geld entlang fiktiver Marktmechanismen, diese Verbetriebswirtschaftlichung vertreibt das Personal aus der Pflege. Nicht nur hier, sondern auch an den Unis oder im Trägerdschungel der Sozialarbeit ist eine Entmarktwirtschaftlichung längst geboten und machbar.

Die Sozialisierung von hochprofitablen Immobilienkonzernen braucht keine zusätzlichen Staatsgelder, wie sie einst die Stahlmalocher in ihrer Not forderten. Eigentumsverhältnisse, die Mieteinnahmen nicht an die Börse, sondern in regionale Kreisläufe lenken, bringen Geld in die Kassen der Kommunen und Stadtbezirke – das für kommunale Krankenhäuser und Kitas dringend benötigt würde. Vergesellschaftung wäre ein positives, selbstverstärkendes System. Ihr entgegen steht nur die allgemeine Ermüdung, in die uns der bekannte Teufelskreis aus Arbeitsintensivierung, Steuersenkungen und Abbau öffentlicher Daseinsfürsorge hineinrationalisiert hat.

Ralf Hoffrogge ist Historiker und bei „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ engagiert

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