Wirtschaftshistorikerin Andrea Komlosy über Corona, Big Data und die kybernetische Zukunft
Interview Die Wiener Wirtschaftshistorikerin Andrea Komlosy analysiert in ihrem Buch die kybernetische Zukunft der Menschheit. Sie warnt vor noch mehr unbezahlter Arbeit und Kontrolle durch den damit verbundenen Datenkapitalismus
Wir befinden uns im Übergang vom industriellen zum „kybernetischen“ Zeitalter, sagt die Wiener Wirtschaftshistorikerin Andrea Komlosy. Dem Menschen wird in diesem Zeitalter durch die zunehmende Selbststeuerung von Maschinen ein völlig anderer Platz im Produktionsprozess zugewiesen. Digitalisierung und Robotik bilden dabei die Schnittstellen, Pharma, Bio- und Nanotechnologie stellen die Leitbranchen des Übergangs dar.
Die Corona-Pandemie sieht Komlosy als ein beschleunigendes Moment in dieser Entwicklung, weil sie Menschen zur Nutzung neuer digitaler Dienstleistungen gezwungen hat. Sie warnt: Der Datenkapitalismus verlagert noch mehr unbezahlte Arbeit ins Privatleben. Zeitenwende. Corona, Big Data und die kybernetische Zukunft lautet der Titel ihres neuen Buches (P
res neuen Buches (Promedia 2022).der Freitag: Frau Komlosy, wie bekannt und beliebt ist der Begriff „Zeitenwende“ in Österreich?Andrea Komlosy: Sie wollen wahrscheinlich wissen, inwieweit die „Zeitenwende“ von Olaf Scholz in Österreich angekommen ist. Die meisten Österreicher kennen natürlich diesen Begriff. Was ich anspreche, ist jedoch eine sozioökonomische Zeitenwende. Es geht um den Übergang vom industriellen zum kybernetischen Zeitalter. Wir erleben einen großen Übergang der Menschheitsgeschichte.Sie sagen: Die kybernetische Revolution ist noch nicht da. Wann findet denn die von Ihnen gemeinte Zeitenwende statt?Ich benutze den Begriff, weil ich Umbrüche auf drei Ebenen sehe. Das eine sind die Konjunkturzyklen. Ich sehe in der aktuellen Krise des Kapitalismus neue Wachstumssektoren im Pharma- und Biotechnologiebereich. Das könnte einen neuen Aufschwung bringen. Die zweite Ebene ist die der Hegemonialzyklen. Die Hegemonie der USA ist zu Ende, und verschiedene Mächte ringen um die Nachfolge. China hat dabei die besten Voraussetzungen, aber auch da ist der Übergang nicht vollzogen. Drittens befinden wir uns im Übergang vom industriellen zum kybernetischen Prinzip. Das industrielle Prinzip war jahrhundertelang maßgeblich, auch schon vor dem Fabrikzeitalter. Die Fabrik wandelt sich jetzt durch die zunehmende Selbststeuerung der Maschinen, die dem Menschen einen völlig anderen Platz im Produktionsprozess zuweist.„Dieses Virus wurde genutzt, Menschen an neue Verhaltensweisen zu gewöhnen.“Sie vermuten, dass sich in fünf bis zehn Jahren eine neue Epoche durchgesetzt haben wird?Wenn wir uns die Konjunkturzyklen anschauen, dann zeigt die Erfahrung, dass nach 25 Jahren Aufschwung 25 Jahre Abschwung kommen. Die neuen Technologien beschleunigen das eventuell, aber wenn wir den Beginn des Abschwungs, in dem wir uns immer noch befinden, auf die Wirtschaftskrise von 2008 datieren, dann wären die neuen Wirtschaftssektoren ungefähr 2030 so aufgestellt, dass sie einen neuen Aufschwung einleiten können. Dann könnte sich das kybernetische Prinzip in immer mehr Sektoren von Wirtschaft und Gesellschaft einnisten. Aber es gibt auch Widerstände, und es kann unerwartete Probleme mit der neuen Welt geben, so dass sich der Prozess verzögert.Bei der Corona-Politik gab es die Hoffnung, dass eine neue Politik des starken Staates gegen Kapitalinteressen beginnt, weil ja die Wirtschaft in mehreren Sektoren lahmgelegt wurde, dafür die Gesundheitsbranche als „systemrelevant“ identifiziert wurde ...Aus der Kritik am Neoliberalismus heraus, dass sich der Staat zurückzieht, ist angesichts des Engagements des Staates zur vermeintlichen Rettung der Gesundheit und des Lebens der Bevölkerung der Eindruck entstanden: Jetzt kehren wir endlich zum Wohlfahrtsstaat zurück. Da müsste man aber erst mal prüfen, ob die Gefahr durch dieses Virus wirklich die starken staatlichen Eingriffe gerechtfertigt hat. Meiner Meinung nach war das nicht der Fall, sondern dieses Virus wurde dafür genutzt, Menschen an neue Verhaltensweisen zu gewöhnen: zum einen die Kommunikation über digitale Medien, zum anderen die Bereitschaft, ihren Körper über Tests und Impfstatus-Abfragen vermessen zu lassen und davon die Bewegungsfreiheit abhängig zu machen. Ich sehe da einen autoritären Staat am Werk und nicht den Segen bringenden Wohlfahrtsstaat.Sie gehen auf der theoretischen Ebene über marxistische Ansätze hinaus, indem Sie sagen: Die Wertschöpfung verlagert sich zu einem großen Teil aus der Arbeitswelt heraus in die private Lebensführung. Da finde eine unbezahlte Arbeit statt, indem immer mehr Menschen bei der Nutzung digitaler Anwendungen ständig Daten liefern, die früher oder später einer Firma für ein Geschäftsmodell dienen. Sind Sie also der Ansicht, dass marxistische Analyse-Ansätze heutzutage einen blinden Fleck haben?Sie sind sehr hilfreich, von ihnen kann man ausgehen. Aber schon zum Beispiel Rosa Luxemburg hat darauf hingewiesen, dass sich nicht, wie Marx im 19. Jahrhundert annahm, die Lohnarbeit verallgemeinert, sondern bei der Ressourcengewinnung und dem Nahrungsmittelanbau in den Peripherien des Systems auch unfreie Arbeit weiterexistiert. Die feministische Bewegung hat deutlich aufgezeigt, dass das Ausklammern der unbezahlten Hausarbeit an der Lebensrealität der Hälfte der Bevölkerung vorbeigeht.„Ihre Daten werden dazu verwendet, sie zu kontrollieren und Produkte zu vermarkten.“Ich argumentiere aber nicht gegen Marx, sondern ich gehe über ihn hinaus, ich wende ihn kreativ an. Die Definition, dass Wert nur aus der Beschäftigung bezahlter Arbeitskraft entsteht, ignoriert, dass es auch andere Wertbegriffe gibt. Unbezahlte Arbeit wird im Schlepptau der Beschäftigung bezahlter Arbeitskräfte von den Unternehmen angeeignet. Der Datenkapitalismus bringt da eine zusätzliche Ebene ins Spiel. Ich verstehe Daten als Rohstoffe, die sich das Kapital aneignet. Sie werden bei jeder Nutzung digitaler Angebote abgeliefert – in der privaten Kommunikation, im Arbeitsleben, im öffentlichen Raum – und dann vermarktet, zum Beispiel an Werbekunden. Auf ihrer Basis werden neue Produkte designt. Es gibt eine ganze Optimierungsindustrie, die am menschlichen Körper ansetzt: schöner, schlanker sein, ewig leben, nie mehr krank sein, Wunderkinder. Und solche Optimierungen lassen sich in weiteren Lebensbereichen vornehmen: Wie wohne ich? Wie bewege ich mich? Wie baue ich eine Stadt? Das wird dann alles „smart“.Sie sagen, der Erfolg des kybernetischen Kapitalismus hänge davon ab, wie seine Produkte und Dienstleistungen von den Mittelschichten der Schwellenländer nachgefragt werden. Welche konkreten Knackpunkte sehen Sie?Wir sehen jetzt schon, dass die digitalen Produkte in den Schwellenländern auf fruchtbaren Boden fallen. Ich war seit 2011 nicht mehr in China, aber schon damals ließ sich dort sehr viel mit dem Mobiltelefon erledigen. Mit den chinesischen Zero-Covid-Maßnahmen hat sich das bestimmt noch verschärft. Man musste sich ja ständig ausweisen, um an bestimmte Orte gelassen zu werden. Auch Indien ist bei diesen Technologien führend, zum Beispiel bei der Einführung von digitalen Bezahlsystemen. Auch Nigeria und andere afrikanische Länder haben vor Kurzem digitale Zentralbankwährungen eingeführt. Begründet wird das mit der Teilhabe breiter Bevölkerungskreise am gesellschaftlichen Leben über digitale Instrumente, teilweise in Kooperation mit UN-Entwicklungsprogrammen. Digitale Identitäten und Bezahlsysteme verbessern das Leben der Leute aber nicht. Ihre Daten werden dazu verwendet, sie zu kontrollieren und Produkte zu vermarkten.Welche anderen Richtungen kann die Entwicklung nehmen?Eine Frage ist, ob sich, wie ich das in meinem Modell annehme, genügend Investoren für die neuen Leitsektoren finden. Bei der Corona-Politik sah es so aus, als ob der Pharma-Biotech-Komplex eine neue Vormachtstellung erringt, in Verbindung mit Kommunikationstechnologien. Ich sehe da nach wie vor großes Potenzial. Aber es kann sein, dass damit nicht genug Profitmasse für einen neuen Aufschwung entsteht. Das Problem bleibt bestehen, dass anstelle von Investitionen in produktive Bereiche weiterhin die spekulative Finanzblase aufgebläht wird. Vielleicht können die neuen Wachstumsbereiche dem nicht genug entgegensetzen. Mit Lockdowns konnte man die Leute zur Nutzung neuer Dienstleistungen zwingen, aber vielleicht kommt da langfristig nicht genug Kaufkraft zum Tragen. Es gibt also innere, äußere und Widerstandsfaktoren, die den erst mal plausibel erscheinenden Siegeszug des Kapitalismus in eine kybernetische Zukunft unterminieren können.Placeholder infobox-1