Meisterin der Allegorie: Birgit Weyhe und ihre Graphic Novel „Rude Girl“
Graphic Novel Birgit Weyhe ist mit „Rude Girl“ als erste Comickünstlerin für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Sie erzählt darin die Geschichte der amerikanischen Germanistin Priscilla Layne
Sie verhandelt auch grafische Fragen: Wie bildet man Hauttöne klischeefrei ab?
Birgit Weyhe
Auf der alphabetisch geordneten Liste der sprachlichen Stilmittel, mit der Jugendliche im gymnasialen Deutschunterricht genervt werden, steht ganz oben die Allegorie. Aber zumindest wenn ich als Schüler diese Stilmittel in literarischen Texten analysieren sollte, kam die Allegorie fast nie vor, und ich verstand auch nicht ganz, was ich mit diesem Begriff anfangen sollte. Die Metapher war leichter zu handhaben.
Eine Allegorie geht über eine Metapher hinaus, zum einen, weil sie mehr als ein Einzelwort sein kann, und zum anderen, weil sie die bildliche Darstellung eines abstrakten Begriffs sein kann, zum Beispiel eine Personifikation. Hätte ich als Schüler die später erschienenen Bücher von Birgit Weyhe gekannt, wäre die Allegorie vielleicht zu meinem liebste
em liebsten Stilmittel geworden.Die 1969 geborene Wahl-Hamburgerin ist nicht allein wegen ihres grafischen Könnens als erste Comic-Künstlerin für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert, der dort am 27. April vergeben wird. Birgit Weyhes Rude Girl, in dem es um das Leben der US-amerikanischen Germanistin Priscilla Layne geht, konkurriert in der Kategorie Sachbuch/Essayistik.Layne ist Kind karibischer Eltern und litt unter verschiedenen kulturellen und materiellen Ausschlüssen: Als Schülerin passte sie weder in gängige afroamerikanische Identitätsmuster noch in weibliche (unter anderem wegen ihres großen Hobbys Baseball), und als Kind einer Einwanderin war sie relativ arm. Doch Layne zeigte einen starken Willen: Sie interessierte sich früh für die deutsche Sprache, kämpfte sich durch die privilegierte universitäre Welt und schloss sich der Skinhead-Bewegung an, die den Stolz auf eine unterprivilegierte Herkunft kultivierte.Immer wieder AfrikaWeyhe hat Rude Girl im ständigen Austausch mit Layne geschrieben und gestaltet. Die Kommentare ihrer Protagonistin – die zum Teil kritisch gegenüber bestimmten Darstellungsformen sind – gibt sie ausführlich wieder. „So entsteht ein produktiver und höchst offener Austausch zweier kooperierender Erzählerinnen“, heißt es in der Begründung der Buchmessenjury für Weyhes Nominierung.Sollte Weyhe den Preis gewinnen, wäre es nicht ihr erster außerhalb der Comicwelt: 2021 sprach Hamburgs Kulturbehörde ihr das mit 5.000 Euro dotierte und nur alle vier Jahre verliehene Lessing-Stipendium zu. In der deutschsprachigen Comic-Szene wiederum ist sie bereits eine der Größten. 2022 wurde sie beim Erlanger Comic-Salon zur besten deutschsprachigen Künstlerin gekürt. Ihr Buch Madgermanes war 2016 bei diesem größten Branchentreffen der Republik als bester Comic ausgezeichnet worden.Birgit Weyhes Stil ist unverkennbar. Sie studierte in Hamburg Illustration und kam da erst auf die Idee, Comics zu zeichnen. In ihrem ersten, episodischen und vor allem in Afrika spielenden Buch Ich weiß von 2008, das ihr aktueller Verlag Avant 2017 neu auflegte, enthalten die ersten beiden Geschichten pro Seite nur zwei große Panels, wie die Bildrahmen im Comic heißen. Das lässt sich nicht mehr wirklich Comic nennen, und im Grunde trifft das zumindest auf Teile fast aller ihrer mittlerweile acht auf Deutsch erschienenen Bücher zu. Weyhe hat eine wenig flüssige Bildsprache perfektioniert – negativ ausgedrückt: einen etwas abgehackten Stil. Die Bildfolgen setzen oft nicht auf die Kontinuität einer Szene, sondern jedes einzelne Panel hat dann eine Aussage für sich. Weyhe setzt einzelne Sätze in Bilder mit oft starker Symbolik um – so entstehen zuhauf Allegorien. Während im Comic seit Langem viel mit der Form, mit der Panelgestaltung experimentiert wird, ist sie in dieser Hinsicht eher konservativ. Sie legt die meisten Seiten formal gleich an, zeigt aber einen Willen zu bedeutungsschwangeren Einzelbildern, der seinesgleichen sucht, und schafft so inhaltlich sehr dichte Bücher.Ein paar Beispiele aus Rude Girl: Die Fremdheit von Laynes karibischen Eltern in den USA wird als isoliert dastehende, von diffusem schraffierten Grau umgebene Palme dargestellt; als die Mutter sich nicht mehr fremd fühlt, zeichnet Weyhe sie als Freiheitsstatue; und Laynes Satz „Es hat mir Spaß gemacht, mich mit kommunistischen Gedanken auseinanderzusetzen“ wird von einer Grafik begleitet, die eigentlich naheliegt, die ich aber noch nie gesehen habe: Hammer und Sichel werden nach rechts gekippt und von zwei darüberliegenden Punkten als Augen begleitet, wobei die Sichel den Mund und der Hammer die Nase des sich so ergebenden Smileys darstellen.In Madgermanes (2016) geht es um die mosambikanischen Gastarbeiter in der DDR und wie es ihnen später zurück in ihrer Heimat erging (wo sie um einen großen Teil ihres Lohns betrogen wurden). Als einer der Rückkehrer sich darüber freut, mit seinesgleichen hin und wieder bei Treffen Deutsch sprechen zu können, illustriert Weyhe das mit dem Bild zweier schwarzer Männer in Kleidung und Pose des berühmten Weimarer Goethe-Schiller-Denkmals.Wie viel Arbeit und Kreativität in Weyhes Werken steckt, zeigt sich im Vergleich mit der Schwedin Liv Strömquist, die sich auch kommerziell sehr erfolgreich mit einem halben Dutzend Bücher im deutschsprachigen Comicsegment etabliert hat. Strömquists Werke sind noch weniger Comics als die von Weyhe, sondern vor allem illustrierte lange Abhandlungen über im weitesten Sinn geschlechtersoziologische Themen. Die Bilder drücken, ähnlich wie bei Birgit Weyhe, selten Handlung aus, sind aber im Vergleich stilistisch nur ein besseres Gekrakel.Die Reichhaltigkeit von Birgit Weyhes Büchern speist sich, grob gesagt, aus drei Quellen. Zum einen bildet sie gerne Alltagsgegenstände und -ansichten groß ab. Das bezieht sich nicht nur auf Schallplatten, Bücher und Konsumartikel, sondern auch immer und immer wieder auf die Pflanzen- und Tierwelt. Landschaften und Stadtansichten präsentiert sie vor allem als eigenständige Panels, eher nicht als Hintergrund für Handlungen. Die Personen sprechen oft in quadratischen Panels vor weißem Hintergrund – eine totale Fokussierung auf den sprachlichen Gehalt. Wenn das Drumherum wichtig ist, wird es als eigenständig gezeigt. Zweitens arbeitet Weyhe gern mit vagen Assoziationen, auch mal mit Träumen. Farbflecken und grobe Striche sollen psychische Zustände ausdrücken. Drittens nehmen in den meisten ihrer Bücher afrikanische symbolische Bildwelten viel Raum ein. Weyhe verbrachte ihre ganze Schulzeit in Uganda und Kenia. Erst zum Studium ging sie wieder nach Deutschland. Madgermanes wurde 2016 unter anderem deshalb als bester deutschsprachiger Comic prämiert, weil Weyhe „auch zeichnerisch in einen Dialog tritt zwischen europäischer und afrikanischer Kultur“, wie die Jury festhielt.Geschichte, fiktionalisiertAber das ist noch nicht alles. Weyhe hat einen Magister in Geschichte und widmet sich in mehreren Büchern historischen Themen. Beeindruckend ist da ihr 2011 erschienenes Buch Reigen, in dem sie fiktionalisierte Episoden aus dem gesamten 20. Jahrhundert verbindet, die in Kanada, im Europa des Ersten und Zweiten Weltkriegs sowie in Afrika spielen. In Im Himmel ist Jahrmarkt von 2013 sind historisch wichtige Ereignisse besonders stark mit einem anderen generellen Zug vieler ihrer Arbeiten verknüpft, nämlich ihrer persönlichen Betroffenheit.Historische Umstände und kulturelle Fragen anhand fiktionalisierter Biografien zu behandeln ist Weyhes große Stärke. Dazu die beeindruckende künstlerische Gestaltung, die mitunter auch in grafischer Hinsicht schwierige Fragen behandelt, wie die klischeefreie Darstellung von Hauttönen. Nur in Lebenslinien, der 2020 erschienenen Sammlung von dreiseitigen Comics, die im Berliner Tagesspiegel erschienen sind, überzeugt dieser Ansatz nicht. Die kurzen Geschichten über diverse Personen sind offenbar zu kurz oder die Biografien nicht interessant genug, um so stark zu fesseln, wie die grundlegender konzipierten Bücher der Autorin.Vor ein paar Jahren erwähnte Birgit Weyhe in einem Interview, dass zumindest in Brandenburg ihre Werke schon im Schulunterricht behandelt worden seien. Und auf dem Portal des Goethe-Instituts können DaF-Lehrkräfte Im Himmel ist Jahrmarkt als Arbeitsmaterial für Jugendliche im Deutschunterricht herunterladen. Kunst dürfte selten so einen großen pädagogischen Nutzen haben wie bei dieser Meisterin der Allegorie.
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