Angeblich fahren in Peking täglich mehr als 15 Millionen Passagiere mit der U-Bahn. Vielleicht war am 29. August 2014 auch der Schriftsteller David Wagner darunter, dessen Roman Leben an diesem Tag bei der Buchmesse in Peking als bester fremdsprachiger Roman des Jahres 2014 ausgezeichnet wurde. Wenn der Autor – der für diese Preisverleihung erstmals in seinem Leben ins Reich der Mitte kam – mit Bus oder Bahn gefahren sein sollte, hat er sie auf jeden Fall gesehen: die gegenwärtigen Leser des Landes, in dem der Buchdruck erfunden wurde.
Sie sitzen oder stehen in den taktgenau fahrenden Zügen und starren gebannt auf die Displays ihrer modernen Mobiltelefone. Auf denen verfolgen sie aber nicht unbedingt die Geschichte von Leberkrankheit und Organtransplantation, die Wagner in seinem Buch sensibel erzählt. Wie gefesselt sehen sie vielmehr neue Folgen der massenhaften chinesischen Seifenopern über böse Schwiegermütter oder martialische Streifen über das Leben in Ming- und Qing-Dynastie. Wenn sie lesen, dann Chat-Nachrichten oder Kochrezepte. Bücher und Zeitungen gehören nicht zum bevorzugten Stoff.
Dabei ist diese Geschichte vom bedrohten und wiedergewonnenen Leben gerade in China ein wichtiges Thema. Hier, wo für Geld so ziemlich alles gekauft werden kann, sind Operationen und Organspenden auch eine Frage monetärer Möglichkeiten. Die in Deutschland geführten Debatten um ethische Probleme des medizinisch Machbaren gibt es in dieser Form nicht. Insofern erstaunt es kaum, dass die Übersetzerin Ye Lan mehrfach den Autor konsultieren musste, um Verständnisprobleme zu klären. Es war mehr zu übertragen als die genaue und konzentrierte Sprache des Buchs von David Wagner. Die kulturellen Fundamente der verhandelten Probleme mussten ebenso mitgeliefert werden. Und das angesichts eines Sujets, das in Ost und West an die Grundlagen sozialer Normen und individueller Einstellungen rührt.
Dem Literarischen Colloquium Berlin und seinem Leiter Florian Höllerer bleibt zu danken, dass diese Transferleistungen möglich sind. Seit längerem bemüht sich das LCB, wichtige deutsche Bücher in China populär zu machen. Übersetzungen bilden dabei das Kerngeschäft. Zugleich wird der Austausch durch Treffen von Autoren befördert, auch in Zusammenarbeit mit der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften. Eine solche Direktkommunikation ist ein Anfang, um die medial vermittelten Vorurteile zu überprüfen und zu revidieren. Und zwar auf beiden Seiten. Denn während vielen Chinesen beim Wort Deutschland zuerst einmal Autos und Bier sowie Timo Boll und Ordnung einfallen, sind Nachrichten aus China in deutschen Medien ja fast eher reflexhaft mit Begriffen wie Menschenrechtsverletzungen und Dissidenz verbunden.
Vielleicht ist die Preisverleihung an David Wagners Roman ein entsprechendes Zeichen. Zweifellos symbolische Politik und sicherlich orientiert an Vorgaben des deutschen Literaturbetriebs, in dem dieser Text ja auch punkten konnte. Wenn der Preis dazu beiträgt, dass nur ein paar Chinesen auf ihren Mobiltelefondisplays mal etwas anderes anschauen als die immergleichen Soaps – umso besser.
Ralf Klausnitzer lehrt Germanistik an der Humboldt-Universität Berlin. Den Artikel schrieb er in einer Bar am Strand Yintan in der Provinz Guangxi
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