Der Fluch des Geldes

Hochschulunwesen Wie viele Tagungsbände braucht der Mensch? Die sinnlose Wissensanhäufung in den Geisteswissenschaften will natürlich keiner. Aber das Problem ist grundsätzlicher Art

Erneut regt sich Widerspruch gegen die staatlich verordnete Wachstumsbeschleunigung in der Wissenschaft: Die DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft) plant, ab 1. Juli dieses Jahres bei Anträgen nur noch die Nennung von fünf Publikationen als Qualifikationsnachweis zuzulassen, und unter dem Titel „Symposien-Kultur in der Exzellenz-Hektik“ polemisiert der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht in der NZZ vom 17. Februar gegen einen geisteswissenschaftlichen Tagungsbetrieb, der wachsende finanzielle Fördermittel seitens der Forschungsinstitutionen schlicht in eine stetig steigende Frequenz von Kolloquien und Konferenzen umsetzt.

In der Tat: Die zugrunde liegende Logik dieser staatlichen Alimentierung im Hochschulbetrieb ist fatal. Denn um ihre – von Steuergeldern abhängige – Existenz zu rechtfertigen, müssen Sonderforschungsbereiche, Exzellenz-Center und andere Varianten der projektweise unterstützten Wissenschaft sichtbar sein, zumindest aber wahrgenommen werden. Sichtbarkeit und Beachtung wiederum lassen sich vor allem durch Tagungen gewinnen: Call for Papers und Einladungen, Ankündigungen und Erinnerungen, die Tagung selbst und der darauf folgende Tagungsbericht, schließlich noch der zwingende Tagungsband und seine Rezension, sie alle sind Formate mit Signalwirkung.

Sie zeigen den Kollegen, was man gerade macht. Mit wem man es tut. Welche Geldquellen man erschließt. Und in welchen Verlagen man publiziert. Tragisch wird es aber, wenn diese Leistungen schon aufgrund der Masse von Tagungen und Konferenzen gar nicht mehr wahrgenommen werden. Selbst wenn die von Gumbrecht kolportierte Zahl von – weltweit – durchschnittlich sechs (!) Lesern pro Aufsatz eines Geisteswissenschaftlers schwer zu belegen sein dürfte: Die zusehends schrumpfende Aufmerksamkeit bleibt beunruhigend genug. Denn wann sollten Wissenschaftler diese Beiträge überhaupt noch wahrnehmen, wenn sie neben der universitären Lehre mit steigenden Studierendenzahlen und Managementaufgaben für ihre Mitarbeiter auch noch Gremien und Kommissionen zu bedienen haben?

Wie sollen sie entscheiden, ob Tagungsthemen wie „Literatur und Nichtwissen“ oder „Die Disziplinierung der Wahrnehmung in Mediengesellschaften von der Antike bis in die Gegenwart“ tatsächlich einer längerfristig entwickelten Problemstellung entstammen oder lediglich auf den durchfahrenden Zug konjunktureller Aufmerk­­­samkeitssteigerung aufspringen? Und wie lässt sich angesichts eines immer rascheren Wechsels von spannenden Gegenständen und ihrer binnen einer Konferenz vollzogenen Bearbeitung so etwas wie Kontinuität und Regelbewusstsein herstellen, das für Bildung als dem wichtigsten Gut einer Gesellschaft einfach unerlässlich ist und das vor allem die Investition von Zeit und Aufmerksamkeit verlangt?

Umstellung auf Ungleichheit, Ausweitung der Kampfzone

Das unverhältnismäßige Wachstum des geisteswissenschaftlichen Tagungsbetriebs und die daraus entspringende Flut von Sammelbänden haben weit reichende Konsequenzen. Wissenschaftliche Ergebnisse werden nicht nur in immer kleineren Portionen aufbereitet und somit entwertet. Die Beteiligten verlieren immer häufiger die Orientierung und nehmen den Wissenschaftsbetrieb nur mehr als Hamsterrad oder sogar als Apparat der „Wissenschaftsvernichtung“ (Albrecht Koschorke) wahr. Und es sind nicht bloß die derzeit besonders üppig sprudelnden Geldquellen, die dazu führen, dass immer mehr Tagungen organisiert und immer neue Schriftenreihen ins Leben gerufen werden – ob an ­Einrichtungen wie dem Freiburg Institute for Advanced Studies, in den Exzellenz-Clustern begünstigter Universitäten. an neu eingerichteten Käte-Hamburger-Forschungskollegs sowie an traditionellen Archiven, Bibliotheken und Hochschulen.

Sicher war das System nie zuvor so üppig mit Geld ausgestattet, wie es derzeit der Fall ist. Zudem sind aber seit etwa zwei Jahrzehnten Prozesse zu beobachten, die das Verständnis von Wissen und Bildung tiefgreifend wandeln und in deren Folge sich ­Arbeits- und Darstellungsformen – insbesondere in den Kultur- und Geisteswissenschaften – verändern. Diese Vorgänge sind keineswegs allein auf jene Umstruktu­rierungen des Universitätssystems beschränkt, die als Bologna-Prozess in die Kritik gerieten wurden und nach heftigen studentischen Protesten auch partiell revidiert werden sollen.

Die Entwicklung reicht tiefer, sie betrifft ganz grundlegend den Umgang mit Bildung und Wissen. Knapp gesagt: Wissen, dessen Gewinn seit der Frühen Neuzeit als Wettbewerb um symbolischen und ökonomischen Lohn für zeitaufwendige und anstrengende Arbeit organisiert ist – dieses Wissen ist seit den 1990er Jahren eine Kampfzone geworden. Innerhalb der Kampfzone bewegen sich zunächst zwar wissenschaftspolitische Institutionen, die über zunehmend mehr Geld verfügen. Bis 2015 sollen 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung und Forschung aufgewendet werden. In dieser Kampfzone ­positionieren sich aber zugleich auch Universitäten und Hochschulen, die den Ex­zel­lenz-Wettbewerb als eine politisch beabsichtigte Umstellung auf Ungleichheit erfahren und die auf diese Umstellung mit Anpassung und gegenseitiger Überbietung reagieren.

Und schließlich mühen sich in der Kampfzone die Einzelakteure, vom Hochschullehrer und Nachwuchswissenschaftler bis zum Studierenden, die ihrerseits hoffen, an den Ressourcen dieses ­Betriebs partizipieren zu können, und die ihrerseits entsprechende Strategien entwickeln. Massiv verschärft werden die Verteilungskämpfe noch durch gleichfalls politisch eingeleitete Maßnahmen, die einen wissenschaftlichen Nachwuchs produzieren, für den gar kein Arbeitsmarkt mehr existiert: Noch nie gab es so viele Graduiertenschulen und Promotionsprogramme im Bereich der Geistes- und Kulturwissenschaften wie heute; und noch nie gab es so wenige Stellen im akademischen Mittelbau, der diese hoch qualifizierten Kräfte auffangen und sinnvoll beschäftigen könnte. Von Arbeitsplätzen in den Medien und Verlagen ganz zu schweigen.

Spielregeln und Optionen

Will ein Wissenschaftler in dieser verschärften Konkurrenzsituation bestehen und nicht vorfristig aus einem System ausscheiden, das selbst jahrzehntelange Arbeit bisweilen mit radikalem Ausschluss belohnt, dann hat er in der Regel zwei Optionen. Er kann traditionelle Arbeits- und Darstellungsformen nutzen, also in zeitintensiver Tätigkeit Artikel, Rezensionen und möglicherweise auch ganze Fachbücher zu wissenschaftlich eingeführten Problemen schreiben. Er kann aber auch aktuelle Entwicklungen beobachten und sie zu eigenen, neuen Forschungsschwerpunkten erheben, über die er möglichst schnell etwas publiziert. Diese unmittelbare Sichtbarkeit erhöht sich noch, wenn ein Wissenschaftler öffentlichkeitswirksam in Erscheinung tritt und seine Eigenentwicklungen oder Theorie-Importe zu einem Innovationsmotor für das Fach überhaupt deklariert.

Die erste Option ist arbeitsintensiv und nicht unbedingt erfolgversprechend: Wer die Spielregeln eines Forschungsfeldes akzeptiert und beachtet, wenn er seine Ergebnisse produziert, gilt nicht selten als altmodisch und langweilig. Die zweite Option mutet da schon weit moderner an. Mit einem Streich lässt sich über Jahrzehnte aufgebautes Wissen zur Makulatur erklären, innovativ klingende Forschungsfelder wie „Morphomata“ generieren (die in einem Internationalen Kolleg dann natürlich interdisziplinär erforscht werden müssen) und Karrieren begründen. Es ließe sich auch gar nichts gegen eine solche zweite Option einwenden, welche die Überproduktion von Wissen samt der damit verbundenen Tagungskultur und der permanenten gegenseitigen Überbietung auffängt – wäre Wissen denn tatsächlich nur ein Kampffeld zum Gewinn materieller Ressourcen.

Aber auch das von den Geistes- und Kulturwissenschaften erzeugte Wissen ist mehr als nur Manövriermasse für Drittelmittelanträge, Förderformate und Exzellenz-Initiativen. Es bildet vielmehr die Gesamtheit von Kenntnissen und Regeln, die an Universitäten und Hochschulen an nachkommende Jahrgänge weitergeben werden. Jede nachfolgende Generation muss die Chance haben, den Reflexionsstand ihrer Vorgänger zu erreichen. Was aber geschieht, wenn dieser Reflexionsstand durch das Spiel der gegenseitigen Überbietung und ständigen Erweiterung nicht mehr zu erkennen ist? Woran sollen sich Studierende halten, wenn sich ihre akademischen Lehrer als gut dotierte Fellows in Forschungszentren flüchten, um (entbunden von ihren Lehrverpflichtungen) den nächsten erkenntnistheoretischen „turn“ vorbereiten? Und welche Folgen bekommt letztlich eine Gesellschaft zu spüren, die zwar große monetäre Beträge für ihr Wissenschaftssystem ausgibt, diese Beträge aber an wirtschaftlichen Kriterien wie Effizienz und rasch sichtbaren Erfolg bindet – ohne zu fragen, welche Folgen diese Fixierung auf Wachstum und Beschleunigung hat?

Kultur der Aufmerksamkeit

Wissenschafts- und Bildungspolitik lassen sich nicht allein mit Geld gestalten. Und auch das „riskante Denken von Individuen“, das Hans Ulrich Gumbrecht gegen den „Konformitätsdruck“ der finanziellen Polsterungen fordert, wird dafür nicht reichen. In den Geistes- und Kulturwissenschaften ist vor allem eine Verständigung über jenen grundlegenden Umgang mit Wissen und Bildung notwendig, der Zeit erfordert. Wiederholte Beobachtungen und ihre Reflexion sind nur möglich in einer Kultur der Aufmerksamkeit, in der wissenschaftliche Kenntnisse und Regelwissen nicht zur Spielwiese für Innovationspostulate oder undurchsichtige Exzellenz-Experimente verkommen, sondern das zentrale Feld von langwierigen und mitunter schwierigen Vermittlungsbemühungen darstellen.

Anders und fordernd formuliert: Neue Ideen sind nicht nur auf Tagungen zu diskutieren, sondern in Lehrveranstaltungen mit Studierenden zu testen. Wissenschaftler sollten weniger Drittmittelanträge ­schreiben und dafür stärker die Arbeiten von Kollegen wahrnehmen. (Denn aufgrund des permanenten Innovationsdrucks leiden auch die Beziehungen innerhalb einiger geisteswissenschaftlicher Fächer. Veränderungen des Rezensionswesens sind nicht zu übersehen.) Graduiertenschulen und Promotionsprogramme müssen zwar weiter ausgebaut und gefördert werden – zugleich sollte aber über die Zukunft ihrer hochqualifizierten Absolventen nachgedacht werden. Nicht nur kreative Zerstörung und rasche Sichtbarkeit ist zu prämieren, sondern auch Kontinuität und Verlässlichkeit.

Diese Einsichten aber müssen in verschiedenen Köpfen wachsen. In den Köpfen der politischen Gestalter, die Investitionen in die Bildungsrepublik Deutschland bislang auch als Belastungszuwachs für Hochschullehrer, Pädagogen und Erzieher sowie als Beschäftigungsmaßnahmen für das intellektuelle Prekariat realisieren. In den Köpfen der Öffentlichkeit, die sich von Innovationsgeklingel und modischen Phrasen nicht blenden lassen darf. Und schließlich in den Köpfen der Geistes- und Kulturwissenschaften selbst, die überlegen sollten, welche Folgekosten die Teilnahme am Spiel der andauernden Überbietung und Grenzüberschreitung hat. Denn wie gesagt: Es geht nicht nur um die eigenen Kompetenzen, die zwischen den zunehmend rascheren Themenwechseln, Tagungen und Publikationen pulverisiert werden können. Es geht um die Bildung der kommenden Generationen – und mithin um Veränderung und Bewahrung.

Ralf Klausnitzer, 1967 in Leipzig geboren, forscht und lehrt am Institut für deutsche Literatur der Berliner Humboldt-Universität

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