Hinter Kassel beginnt die „Walachei“ und bei Magdeburg „Asien“, wusste der erste Bundeskanzler Konrad Adenauer. Das SED-Regime habe die Menschen „verzwergt“ und „verhunzt“, so der Publizist Arnulf Baring 1991 (der später das Große Bundesverdienstkreuz erhielt); ganze Landstriche hätten keinen Respekt vor anderen Menschen gelernt, erklärte Armin Laschet 2016 und also fünf Jahre vor seinem Versuch, Kanzler zu werden. Nur drei von vielen Beispielen für das Reden des „Westens“ über den „Osten“, die Dirk Oschmann in seiner fulminanten Abrechnung versammelt.
Er zitterte am ganzen Körper und konnte nachts nicht schlafen, während er schrieb, berichtete Oschmann nach Erscheinen des Bu
schlafen, während er schrieb, berichtete Oschmann nach Erscheinen des Buches im Interview mit der Berliner Zeitung. Alles sei aus ihm herausgebrochen. Mit beachtlicher Resonanz: Sein Buch Der Osten: eine westdeutsche Erfindung ist ein Bestseller und wird intensiv besprochen, auch im Freitag.Doch wie kann es der Westen besser machen? Wie sollen Westdeutsche mit Ostdeutschen reden? Was lässt sich tun, damit Dirk Oschmann wieder schlafen kann?Kaum praktikable Angebote kamen bisher aus dem Westen. „Los Wochos in Lostdeutschland“, titelte die Süddeutsche Zeitung, die den Literaturwissenschaftler Oschmann als „Diskursritter“ auf dem Medienkarussell beschrieb und seine Aussagen über die strukturelle Benachteiligung von Ostdeutschen als aufgeschäumten, aber eiskalten Kaffee abtat. Und die Hamburger Wochenzeitung Die Zeit ließ den aus Erfurt stammenden Ostbeauftragten Carsten Schneider von der SPD gegen den in Gotha geborenen Germanisten Oschmann antreten und in der Rubrik „Streit“ über die Frage debattieren: Wird der Osten unterdrückt?Wer sich nur auf die Erfahrungen von Erniedrigung und Beleidigung einlässt, verkennt aber den Problemstau. Klar, Witzchen über Zonen-Gabi und ihre erste Banane sind genauso daneben wie pastorale Besorgnisse über „Dunkeldeutschland“. Wesentlicher ist ein Problem, das im westdeutschen Reden über den „Osten“ allenfalls in Deklamationen zum Tag der Deutschen Einheit erscheint und nun endlich offen verhandelt werden muss.0,8 Prozent in DAX-VorständenEs geht um Gestaltungsmöglichkeiten und Teilhabechancen, von denen Ostdeutsche ausgeschlossen sind. Diese strukturelle Exklusion schlägt sich in subjektiven Erfahrungen der Entmündigung durch die Medien ebenso nieder wie in statistischen Daten zum Anteil von Ostdeutschen an Führungspositionen: 0,0 Prozent beim Militär, 0,8 Prozent in DAX-Vorständen, 1,5 Prozent in der Wissenschaft. Doch nur zur Erinnerung: Der Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes erfolgte 1990 in der Hoffnung, ein wirkliches Leben führen und mitbestimmen zu können; unverbogen und frei. Neben Konsumbedürfnissen und Reiselust war das Versprechen von Freiheit wesentlicher Antrieb.Wenn Westdeutsche dieses Verlangen nach gesellschaftlicher Teilhabe und Mitgestaltung akzeptieren können (und nicht als undankbares Jammern oder zugespitzte Polemik diskreditieren), wäre schon viel gewonnen. Zugleich müssen sie begreifen, was im Zuge der vermeintlichen „Wiedervereinigung“ geschah: Konsumbedürfnisse und Reiselust konnten durch Transferleistungen trotz rabiater Deindustrialisierung zumindest partiell befriedigt werden; doch der Wunsch nach Partizipation blieb unerfüllt. Materieller Wohlstand bei gleichzeitigem Ausschluss aus Entscheidungsprozessen erzeugte jene „frustrierten Zufriedenen“, die der Soziologe Steffen Mau in seinem Buch über den Rostocker Stadtteil Lütten Klein beobachtet hat.Die Frustration hat handfeste Gründe; zuallererst eine wohl irreparable ökonomische Asymmetrie: 2,2 Millionen ostdeutsche Haushalte mussten die Regelung „Rückgabe vor Entschädigung“ ausbaden; zeitweise vier Millionen Arbeitslose bezahlten für das Wüten einer Treuhandanstalt, die das Territorium der DDR zu einem staatlich alimentierten Absatzmarkt ohne wirtschaftliche Konkurrenz für den Westen machte.Der Grund und Boden der BauernEs ist diese mehrfache Enteignung der Ostdeutschen, die den Kern aller Demütigungen bildet. „Erst haben wir euch euer Land weggenommen, dann die Arbeit, schließlich die Frauen“, zitiert Oschmanns Buch einen Westdeutschen, der einem Ostdeutschen die Gattin ausspannte. Das hat der Westen zu verstehen. Und deshalb sind die Konflikte nicht durch deutsch-deutsche Erzähl-Cafés und das Ausbreiten individueller Lebensgeschichten zu befrieden.Denn ihren Kern bilden Konfrontationen der Ungleichheit: und zwar von ungleichen Eigentumsverhältnissen und der asymmetrischen Verteilung von Chancen. Wenn alles Kapital – ökonomisches und soziales, kulturelles und symbolisches – allein in den Händen des Westens existiert und auch hier nur einer Minorität gehört, ist endlich zu fragen, warum das so ist und wie sich das strukturell ändern lässt.Es wird also Zeit, dass der Westen sagt, warum er so reich ist (oder auch nicht). Welche Netzwerke er nutzt und wie man diese aufbaut. Und was getan werden kann, um diese Chancen für andere zu öffnen. Vielleicht lässt sich sogar erfahren, was man mit den aufgehäuften Reichtümern so macht. Interessant wäre es wohl auch für die weniger besitzenden Westdeutschen.Schließlich lassen sich weitergehende Veränderungen denken. Wenn etwa Google und Amazon, Facebook und Twitter der afroamerikanischen Bevölkerung der USA gehören würden, gäbe es sicherlich weniger Rassismus. Und wenn Grund und Boden, auf denen ostdeutsche Bauern arbeiten, in ihren Händen wären statt im Besitz von Agrarinvestoren, müsste man nicht mehr über einen unterdrückten Osten streiten. – Ein Traum, was sonst?Placeholder authorbio-1