Im Jahr 1609 richtet Galileo Galilei sein Fernrohr auf die Planeten unseres Sonnensystems. Seine Beobachtungen des Planeten Saturn fasst er in einem Wort zusammen: SMAISMRMILMEPOETALEVMIBVNENVGTTAVIRAS. Niemand kann in dieser kryptischen Buchstabenfolge einen Sinn entdecken. Bis Galilei selbst den Klartext nennt. „Altissimvm planetam tergeminvm observavi“; zu Deutsch: „Ich beobachtete den höchsten Planeten in dreigestaltiger Form.“ Damit beschrieb er die Entdeckung der Saturnringe, die er irrtümlich für zwei Objekte links und rechts der Planetenkugel gehalten hatte.
45 Jahre danach bestimmt Christiaan Huygens die Gestalt der Saturnringe korrekt. Und zwar ebenfalls in Form eines Anagramms, bei dem er statt des ursprünglichen Satzes „Annulo cingitur, tenui plano, nusquam cohaerente, ad eclipticam inclinato“ („Er ist von einem Ring umgeben, welcher dünn und flach ist, nirgends mit ihm zusammenhängt und gegen die Ekliptik geneigt ist“) nur die sortierte Buchstabenreihe veröffentlicht: AAAAAAA CCCCC D EEEEE G H IIIIIII LLLL MM NNNNNNNNN OOOO PP Q RR S TTTTT UUUUU.
Frei im Web verfügbar
Warum verwendeten Wissenschaftler wie Galilei und Huygens, Isaac Newton und Robert Hooke, aber auch Carl Gustav Jung und Kurt Gödel kryptische Darstellungen ihrer Wissensansprüche? Als chiffrierte Weitergabe von Informationen? Wohl kaum. Denn den adressierten Fachkollegen fehlte ein Schlüssel, um diese Zeichenketten sinnvoll rekombinieren und also verstehen zu können. Wenn Forscher zunächst unverständliche Zeichenketten bekannt gaben und zum Teil erst Jahrzehnte später den Klartext publik machten, hatte das einen anderen Grund: Jeder konnte den nun zugänglichen Klartext noch einmal anagrammieren und feststellen, dass der Autor des Anagramms schon zum Zeitpunkt seiner Anfertigung im Besitz des im Klartext formulierten Wissens war. So konnte man die Priorität von wissenschaftlichen Erkenntnissen beweisen, ohne die wissenschaftliche Aussage selbst frühzeitig offenbaren und die eigene Position gefährden zu müssen.
Zugleich aber – und das macht die Sache komplizierter – war der Anagramme bastelnde Galilei an einer raschen Publikation seiner astronomischen Erkenntnisse überaus interessiert. Sein erstmals 1610 erschienenes Buch Sidereus Nuncius (Sternenbote) hatte er aus Furcht vor Konkurrenz wie von Furien gehetzt produziert. Acht Wochen nachdem er die erste Zeile geschrieben hatte, war das fertige Werk auf dem Markt. Der umtriebige Wissenschaftler wusste also, worauf es in einer Wissenschaft ankommt, die sich als Wettbewerb formiert: auf Innovation und Sichtbarkeit, auf kommunikativen Austausch und die Markierung eigener Leistungen.
Heute verwenden Wissenschaftler nur noch selten Anagramme, um Entdeckungen publik zu machen und Prioritätsansprüche zu sichern. Dennoch achten auch sie sehr genau auf die Sichtbarkeit ihrer Innovationen. Denn das Wettbewerbssystem Wissenschaft prämiert die neue oder als neu deklarierte Eigenleistung, deren Qualität durch kollegiale Reaktionen bestimmt wird. So zumindest glauben es die Ratingagenturen der Forschung, wenn sie Zitationsindizes auswerten, um Ranglisten zu erstellen und Fördermittel in die richtigen Bahnen zu lenken.
Genau diese Schnittstelle von innovativer Eigenleistung, kollegialer Kommunikation und wissenschaftlichen Geltungsansprüchen bildet den Ort, an dem die gegenwärtig intensiv diskutierten Projekte einer Open Science verhandelt werden. Unter dem Titel Ende einer Einsamkeit hat Ulrich Herb im Freitag vom 16. November die Leistungsversprechen dieser „offenen Wissenschaft“ auf der Basis digital vernetzter Kommunikation vorgestellt: Sämtliche Informationen und Erkenntnisse, die öffentlich finanzierte Forscher produzieren, sollen unentgeltlich und mit Lizenz zur Weiterverwertung im Web verfügbar sein. Damit entstehen nicht nur neue Dokumenttypen wie liquid journals, die auf permanente Ergänzung angelegt sind und ihre Zitierfähigkeit durch Versionsverwaltung gewährleisten. Zugleich expandieren kollaborative Arbeitsformen, in denen Einzelbeiträge nur Teile oder Elemente bilden, die mit anderen Teilen oder Elementen verknüpft sind. Schließlich soll eine transparente Wissenschaft das Ende von Plagiat und solitärer Promotion einläuten: Nun kann wissenschaftliches Fehlverhalten früher erkannt und sogar verhindert werden.
Entwicklung eines Ethos
Kein Zweifel, dass kollektive Arbeitsformen in weiten Teilen der Natur- und Technikwissenschaften normal sind. Seit der Einrichtung moderner Forschungslaboratorien zu Beginn des 19. Jahrhunderts werden diese gemeinschaftlich bewirtschaftet – auch weil die hier praktizierten Verfahren ohne arbeitsteilige Spezialisierung und organisierte Kooperation nicht zu beherrschen sind. Kollektiv verfasste Texte (Papers) und Zeitschriften als Publikationsmodell konnten sich deshalb zunächst in dieser Wissenschaftsklasse durchsetzen – während in den Geistes- und Kulturwissenschaften noch heute die individuell verfasste Monografie und der Sammelband geschätzt werden.
Die Open-Science-Bewegung geht darüber hinaus. Sie fordert auch mehr als nur einen offenen Zugang zu Veröffentlichungen, die in zum Teil immens kostenintensiven Journalen erscheinen, mit denen privatwirtschaftliche Wissenschaftsverlage beträchtliche Profite einstreichen. Kern ihrer Projekte ist ein Forschungsbetrieb, der kaum absehbare Entgrenzungen wissenschaftlichen Handelns impliziert: Frei verfügbare Datenströme werden ohne Limit nutzbar und kombinierbar; eine entpersonalisierte „Schwarm-Intelligenz“ löst die an Personen und Institutionen gebundene Praxis der Wissensproduktion ab; Selbstorganisationskräfte eines open research web treten neben etablierte Auswahlprozeduren und Filterverfahren einer Wissenschaft, die in vielfacher Weise an den Fäden öffentlicher und privater Subventionen hängt.
Offene und spontane Organisationen haben zweifellos ihre Vorteile. Aber auch ihre Folgen. Denn was geschieht, wenn man die Erkenntnisproduktion von den Personen löst, die wissen wollen und sich dafür nicht nur Verfahren aneignen, sondern auch spezifische Lebensformen erwerben und mit diesem Ethos für wissenschaftliche Integrität einstehen? Wer steht mit seiner Glaubwürdigkeit und seiner Autorität für die vorgebrachten Wissensansprüche ein? Und wie wirkt sich die freie Zugänglichkeit zu allen verfügbaren Informationen, die unter Begriffen wie data driven science verhandelt wird, auf Problemorientierung und Hypothesenbildung aus?
Besonders prekär wird es, wenn nun die Promotion auf den Prüfstand gestellt werden soll. Denn sie gilt laut Ulrich Herb als „hartnäckig isolierter, der Open Science zuwiderlaufender Forschungs- und Publikationsprozess“. Hier stellt sich die Frage, ob damit nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird.
Denn was bedeutet Promotion? Im günstigen Fall die intensiv betreute Einführung in eine Arbeits- und Lebensform, die zu besonderen Leistungen befähigt. Voraussetzung dafür bleibt ein Prinzip, das Wilhelm von Humboldt in das Zentrum der modernen Forschungsuniversität stellte: Einsamkeit und Freiheit. Denn ein Wissenschaftler – auch in kollektiven Zusammenhängen – ist zuerst einmal eine von Problemen und Problemlösungen faszinierte Persönlichkeit. Seine wichtigsten Ressourcen bleiben Zeit und Aufmerksamkeit: Zeit für wiederholte Lektüre und rekursive Beobachtungen, Aufmerksamkeit für gerichtetes und schweifendes Wahrnehmen. Es muss nicht zwingend die Wissenschaft sein, der sich ein Promovend nach der Verteidigung oder dem Rigorosum widmet. Aber in ihm sollte ein Ethos entwickelt sein, das umsichtige und enttäuschungsresistente Umgangsweisen mit Problemen möglich macht und dabei Prinzipien wahrt, die einfach notwendig sind, damit Wissenschaft nicht zum Gemischtwarenladen für Titularaspiranten und plagiierende Politiker verkommt.
Vielleicht bietet eine offene Debatte um Open Science die Gelegenheit, um genau diese Fragen nach dem Ethos wissenschaftlicher Arbeit – also nach den Prioritäten unserer Gesellschaft – neu zu stellen.
Ralf Klausnitzer lehrt am Institut für deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin
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