Endzeitspiele

Weimarer Verhältnisse Es werden Analogien gezogen und Untergänge beschworen, dass sich die Geschichtsbalken nur so biegen. Was ist dran?
Ausgabe 46/2015

Die Parallelen mehren sich – wenn auch zunächst in den Zeichenwelten der Medien. Glaubt man Kommentaren und Lesermeinungen, ähneln die gegenwärtigen Verhältnisse in Deutschland in dramatischer Weise den Zuständen der Weimarer Republik. Wie schon die 1919 gegründete Republik erlebe die Gesellschaft heute eine Polarisierung und Radikalisierung. Indizien für eine tiefgehende Kluft zwischen der Politik und einer immer weniger erreichbaren Bevölkerung sind rasch ausgemacht: Bürger sträuben sich gegen Bankenrettungen, beobachten skeptisch die Politik gegenüber Griechenland, reagieren entsetzt auf die Modernisierung von US-Atomwaffen in Deutschland, wehren sich gegen undurchsichtige TTIP-Verhandlungen ... Die größte Spaltung schafft derzeit aber die Flüchtlingssituation. Gewalttätige Angriffe wie gegen die Kandidatin für das Kölner Oberbürgermeisteramt oder einen Berliner Journalisten und lautstarke Demonstrationen in Dresden und anderswo legen den Schluss nahe, nun komme es – wie in Zeiten der fragilen Demokratie zwischen 1918 und 1933 – zu offener Konfrontation.

Auf der jüngsten CDU-Regionalkonferenz in Darmstadt fürchtete eine Rednerin gar einen Bürgerkrieg und erhoffte von der anwesenden Bundeskanzlerin auch in dieser Hinsicht Beruhigung. Die Herstellung von Analogien zwischen dem Endspiel der ersten deutschen Demokratie und gegenwärtigen Verwerfungen ist freilich nicht neu. Schon im Herbst 2012 verglich der damalige griechische Regierungschef Samaras die Lage in seiner Heimat mit dem Deutschland der 1920er und beginnenden 1930er Jahre. Er wurde noch konkreter: Sollte seine Regierung scheitern, sei der gesellschaftliche Zusammenhalt massiv gefährdet – „so wie es gegen Ende der Weimarer Republik in Deutschland war“. Im Magazin Cicero überschrieb Christoph Stölzl – vormaliger Direktor des Deutschen Historischen Museums in Berlin – einen Anfang 2013 veröffentlichten Artikel über die Jugendarbeitslosigkeit mit der Frage: Drohen der EU Weimarer Verhältnisse? Die Beispiele lassen sich beliebig fortsetzen. Ob sie einem Realitätscheck standhalten, lässt sich schwer überprüfen.

Aber die Reden über Parallelen zwischen den Krisenjahren der Weimarer Republik und den gegenwärtigen Verwerfungen zeigen einmal mehr, worauf historische Analogien beruhen: Sie stellen Übereinstimmungen zwischen einzelnen Aspekten historischer Konstellationen fest und schließen daraus manchmal sogar auf eine Identität. Solches Denken ist nicht unproblematisch, aber eben auch erhellend. Schon Aristoteles wusste von der Möglichkeit, auf Grundlage von Ähnlichkeiten zwischen Sachverhalten auf unbekannte Aspekte zu schließen. So benutzt die Biologie seit der Antike die Analogie nach dem Muster: Was dem Vogel der Flügel, ist dem Fisch die Flosse.

Doch wer historische Vergleiche herstellt, zielt nicht immer nur auf den Imperativ von Gottfried Benn: Erkenne die Lage! Die Feststellungen von Analogien zwischen der Jetztzeit mit ihren medial vervielfältigten Konfliktfeldern und Gegenspielern einerseits und den Krisenjahren vor 1933 andererseits haben vielmehr einen prognostischen Kern: Wer in den Signaturen der Gegenwart die Muster der Vergangenheit erkennt, will auf Kommendes schließen, meistens auf ein „Ende“ von irgendetwas. Wenn unter Rückgriff auf historische Erfahrungen apokalyptische Szenarien entworfen werden, mag man damit in der Rückschau komplett falschliegen, die Effekte sind erst einmal mobilisierend.

Indem man heute die von der Bankenkrise verschreckten Bürger daran erinnert, wie sich 1923 Ersparnisse durch die Hyperinflation in wertloses Papiergeld pulverisierten, verstärkt das diffuse Ängste, mit denen schon damals die Krise des Kapitalismus wahrgenommen wurde. Diese Ängste lassen sich nutzen – von Anlageberatern, die braven Sparern die Rettung ihrer Einlagen zusagen (und sich damit eigene Provisionen sichern), wie von Politikern, die mit demonstrativen Versicherungen staatlicher Garantien für die Konten der Bürger deren Sehnsucht nach Stabilität in eigene Zustimmungsquoten ummünzen.

Jünger, Benjamin, Schmitt

Es sind also vor allem diese Endzeit-Beschwörungen, die historische Analogien so verführerisch machen. Dabei sagen sie mehr über den Sender solcher Botschaften aus als über die von ihnen konstruierten Zusammenhänge. Von der verführerischen Macht apokalyptischer Szenarien und Endzeit-Beschwörungen weiß die Literatur ein Lied zu singen. Und das nicht nur, weil schon am Anfang der europäischen Literatur die episch breite Darstellung eines langen Kampfes steht, den die griechischen Stämme zwar gewinnen, aus dem jedoch auch der Held Aeneas hervorgeht, der aus dem untergehenden Troja entkommt und nach abenteuerlicher Reise schließlich nach Italien gelangt, wo er eine Stadt gründet, aus der eines Tages Rom hervorgehen wird. Sondern auch, weil die Lehre vom Anbruch einer neuen Welt, wie sie im Buch der Bücher in zahlreichen Gleichnissen und Visionen ausgebreitet wird, seit jeher die Imaginationen beflügelt hat.

Es ist wohl kein Zufall, dass die Produktion dieser Szenarien in Krisenzeiten signifikant zunimmt und in der Zeit der Weimarer Republik einen Höhepunkt erreicht. Hier entzündet sich an den Widersprüchen einer zerstrittenen Republik der Furor von Autoren ganz unterschiedlicher Couleur (siehe dazu auch unsere Seite A–Z). Während Ernst Jünger den Kämpfer als einzigen Souverän installieren will und Carl Schmitt den Staat feiert, propagiert Walter Benjamin den proletarischen Generalstreik als Mittel, die Staatsgewalt zu vernichten. An ihre Stelle soll die revolutionäre Gewalt treten, die ihm 1921 als „unmittelbare Manifestation der göttlichen Gewalt“ erscheint. Die Aufgabe der streikenden Massen besteht darin, die Apokalypse herbeizuführen. Die katastrophalen Folgen einer Entfesselung der Arbeiter zeigt dagegen Fritz Langs Zukunftsfilm Metropolis, der 1927 in die Kinos kommt: Die Erstürmung und Zerstörung der Maschinenhalle führt zur Überflutung der Unterstadt und beinahe zum Untergang der Arbeiterkinder. Sintflut und Tod der Nachkommen drohen, wenn nicht Ordnungsprinzipien eingehalten werden und das Herz als „Mittler zwischen Hirn und Händen“ wirkt – so der einleitende und abschließende „Sinnspruch“ des Films, der keine interpretatorische Anstrengung mehr nötig macht.

Aber Endzeit ist nicht gleich Endzeit. Wie verschiedenartig die Erwartungen in den literarischen Welten der Weimarer Republik ausfallen konnten, zeigt ein jetzt wiederveröffentlichter Roman aus ihrer Spätphase. Unter dem Pseudonym „K. Olectiv“ schrieben der Kulturjournalist Emanuel Bruck und der später prominente Wirtschaftswissenschaftler Jürgen Kuczynski den Fortsetzungsroman Die letzten Tage von ..., der zwischen Oktober und Dezember 1931 im Zentralorgan der KPD, der Roten Fahne, erschien. Mit seinem Titel auf den Roman Die letzten Tage von Pompeji von Edward George Bulwer-Lytton anspielend, zeigt er die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf die polarisierte Republik.

Angst- und Wutbürger

Wie im Vorgänger-Roman des britischen Aristokraten gibt es eine geteilte Gesellschaft; einer im Luxus schwelgenden Oberschicht stehen ins Elend driftende Unterschichten gegenüber. Von diesen geht Hoffnung aus. Während der klassenbewusste Metallarbeiter Fritz und seine Genossen den Kampf gegen Ausbeutung und Lohnkürzungen koordinieren, löst sich die Verkäuferin Käte von kleinbürgerlicher Selbstbezogenheit und gliedert sich mit dem Eintritt in die KPD in den Strom des klassenbewussten Proletariats ein. In holzschnittartiger Sprache artikuliert sie die Hoffnungen auf eine Überwindung des Kapitalismus: „Und wenn wir immer feste arbeiten und das Aufgebot der 100.000 erfüllen und immer weiter arbeiten, dann schaffen wir’s. Dann geht es los. Dann sind sie gekommen, die letzten Tage von ...“.

Doch während in Bulwer-Lyttons Die letzten Tage von Pompeji der Ausbruch des Vulkans Vesuv für eine katastrophale Auflösung der verwirrten Verhältnisse sorgt und die bedrohten Christen aus dem Untergrund befreit, bleibt eine revolutionäre Eruption bei Bruck und Kuczynski aus. Liest man den Roman mit seinen Schilderungen der zunehmenden Verelendung breiter Bevölkerungsschichten – 80 Mark Monatslohn erhält Käte für ihre Arbeit im Warenhaus, die arbeitslos gewordene Grete muss ihren Körper verkaufen –, wird die optimistische Erwartung eines gesellschaftlichen Umsturzes teilweise sogar verständlich. Der historische Abstand von Jahrzehnten macht zugleich deutlich, wie naiv und vergeblich diese Hoffnungen waren. Schlimmer noch: Die hier kritisierte Gesellschaftsordnung wurde 1933 abgelöst durch eine schreckliche Diktatur. Nach der Machtübernahme der Nazis konnte die Rote Fahne nicht weiter erscheinen; der Mitautor Emanuel Bruck saß acht Jahre im Zuchthaus Hamburg-Fuhlsbüttel und wurde im August 1943 im KZ Dachau ermordet.

Ist von den Hoffnungen auf eine bessere Zeit nach dem „Ende“ also nichts geblieben? Dem im Verlag disardorno edition veröffentlichten Text beigegeben ist auch ein Interview der Herausgeber mit Thomas Kuczynski. Wie sein Vater Jürgen Kuczynski ist er ein renommierter Wirtschaftshistoriker und kennt die Hoffnungen auf eine Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft genau; interessanterweise verweist er auch auf Ferdinand Friedrich Zimmermann aus dem jungkonservativen Tat-Kreis, der unter dem Pseudonym Ferdinand Fried 1931 das Buch Das Ende des Kapitalismus veröffentlicht und hier von rechter Seite den Zusammenbruch der Weimarer Republik projektiert hatte. Auch wenn er viele Bestandteile des Fortsetzungsromans als Analogiespender für die Gegenwart nicht mehr gelten lassen will (wozu auch der Titel zählt), habe die Frage nach einer Alternative zum herrschenden System nicht an Brisanz verloren: „Die Fragestellung selbst, wie können Leute von der Notwendigkeit des Kampfes für eine neue Gesellschaft überzeugt werden, diese Frage ist so aktuell wie damals.“

Vielleicht muss es nicht gleich ein Kampf für eine neue Gesellschaft sein, zu dem literarische Werke und ihre simulativen Parallelwelten beitragen. Möglicherweise reicht es schon, uns mit ihrer Lektüre klarzumachen, dass es neben unserer begrenzten empirischen Existenz auch andere Lebensformen und also Alternativen gibt. Aber welche? Das vielbeschworene Ende des Kapitalismus lässt sich wie alle apokalyptischen Szenarien zwar imaginieren. Es wird aber gegebenenfalls erst nachträglich zu beobachten sein – und zwar kaum durch uns, sondern allein durch Menschen, die sich von den Zwängen einer marktwirtschaftlichen Wettbewerbswelt und ihren Imperativen der Unterwerfung auch innerlich befreit haben und neue Verkehrsformen des Lebens und Arbeitens gefunden haben. Dieses Projekt umfasst mehr als nur die Entfesselung von Angst- und Wutbürgern, die angesichts der Bedrohung ihrer Wohlstandspfründe verbal und mental entgleisen und tatsächlich an Weimarer Verhältnisse erinnern. Bis dahin gilt: Das Ende kann ganz anders aussehen, oder vielleicht gar nicht kommen.

Info

K. Olectiv. Die letzten Tage von …: Eine Recherche zum kollektiven Fortsetzungsroman in der „Roten Fahne“ Gaston Isoz, Thomas Möbius (Hg.) disadorno edition 2015, 208 S., 24 €

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