Es war einmal ein Nicileaks

Geheimnisfixiert Vor 200 Jahren starb der Verleger und Publizist Friedrich ­Nicolai – ein Verschwörungstheoretiker und Aufklärer, ganz im Sinne von Julian Assange

Der Kampf zwischen den Befürwortern von Wikileaks und dessen Gegnern erscheint als moderner Kampf zwischen den Anhängern unbegrenzter Informationsverbreitung und deren geheimnisschützenden Widersachern. Doch der Streit hat historische Vorläufer: Staatsräson und öffentliches Interesse, diskrete Kabinettspolitik und schrankenlose Publizität stehen seit der Frühen Neuzeit in einem spannungsgeladenen Verhältnis. Ganz besondere Brisanz gewann diese Dialektik von Öffentlichkeit und Geheimnis in der Zeit der Aufklärung – und hier insbesondere durch den enthusiastischen Aufklärer Friedrich Nicolai.

Nicolai, Verlagsbesitzer und Buchhändler, Autor und Rezensent, starb am 8. Januar 1811 in seinem Haus in der Berliner Brüderstraße. Er war nicht nur ein global player auf dem rasant expandierenden Literaturmarkt. Der 1733 in Berlin geborene Autodidakt übernahm 1758 die in Familienbesitz befindliche Buchhandlung samt Verlag und baute das Unternehmen systematisch aus. Mit Filialen in Stettin und Danzig steigt er zu einem der leistungsfähigsten Sortimentsbuchhändler seiner Zeit auf – und wird so ein frühes Beispiel für die erfolgreiche Verbindung von intellektueller Kultur, dezidierter Gegenwartsorientierung und genau kalkulierendem Geschäftssinn. Zugleich entwickelt Nicolai mit der Allgemeinen Deutschen Bibliothek das wohl umfassendste und einflussreichste Rezensionsorgan jener Bewegung, die „Kritik“ und „Selbstdenken“ zum Programm erhoben hat – mitunter arbeiten 150 Rezensenten gleichzeitig für Nicolai.

Die Mitarbeiter und Freunde Friedrich Nicolais informieren den in Berlin ansässigen Herausgeber und Verleger aber nicht allein über literarische und wissenschaftliche Neuerscheinungen. Zahlreiche Korrespondenten wie Heinrich Korrodi in Zürich, Heinrich Mathias Marcard in Hannover oder Andreas Zaupser in München beobachten sehr genau auch die Vorgänge im politischen und kulturellen Raum und melden ihre Observationen umgehend in die preußische Hauptstadt.

Auf diese Weise wird Nicolais Haus in der Brüderstraße zum Knotenpunkt eines umfassenden Netzwerks. Die Aktivisten der Berliner Spätaufklärung erfahren von den sensationellen Teufelsaustreibungen des katholischen Pfarrers Johann Josef Gaßner ebenso wie von den magnetischen Kuren des Franz Anton Mesmer und den Geheimbefehlen zur Repression der bayerischen Illuminaten. In Briefen und Gesprächen, ausgetauschten Büchern und abgeschriebenen Dokumenten formiert sich eine Kommunikationsgemeinschaft, die in den vernetzten Plattformen des WWW einen technologisch zwar weit fortgeschritteneren, gleichwohl ähnlich gesinnten Wiedergänger findet: Unter den Bedingungen geheimer Kabinettspolitik und angesichts zunehmender Bedrohungen des Aufklärungsprojekts nach dem Tod toleranter Monarchen wie Joseph II. in Österreich und Friedrich II. in Preußen bilden Nicolai und seine informellen Mitarbeiter eine Öffentlichkeit, die dem Begriff „Aufklärung“ völlig neue Dimensionen verleiht.

Exzessives Lektüreverhalten

Die Bedeutung dieses aufklärerischen Netzwerks wird allein vor dem Hintergrund der kulturellen und politischen Veränderungen verständlich: Zum einen explodiert in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts der Buchmarkt. Zunehmende Alphabetisierung, diversifizierte Literaturproduktion und ein nahezu exzessives Lektüreverhalten bilden Eckpunkte eines weitreichenden kulturhistorischen Vorgangs, den die Zeitgenossen in Symptomen wie „Lesesucht“ und „Libromanie“ erfahren und den Historiker als „Leserevolution“ beschreiben. Der „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“, wie Kant das Wesen von Aufklärung definiert, ist ohne die intensiv erweiterte Zirkulation von Wissen und Erfahrungen in den Formaten des beschleunigten Buchdrucks nicht denkbar.

Zum anderen aber registrieren die Aufklärer massive Bedrohungen für ihr Projekt. Personale Garanten des Toleranzprinzips sterben; ihre Nachfolger sind schwach, von jesuitischen Beichtvätern abhängig oder wundergläubig wie der preußische Kronprinzip Friedrich Wilhelm, der 1786 die Macht übernimmt und den Weisungen von Gold- und Rosenkreuzern folgt. Der Verfall der aufgeklärten Vernunft wird unübersehbar: „Überall wimmelt es von Theosophen und Chiliasten, Rosenkreuzern und Alchemisten, hermetischen Philosophen und Paracelsisten, Geistersehern und Geisterbannern, Inspirirten und apokalyptischen Träumern“, berichtet Friedrich Nicolais Freund Friedrich Gedike, der 1783 die Berlinische Monatsschrift begründet. In dieser bedrohlichen Situation gewinnt die Sammlung und Vernetzung gleichgesinnter Aufklärungsaktivisten neue Relevanz.

Schon 1781 war Friedrich Nicolai durch Deutschland, Österreich und die Schweiz gereist und hatte sich persönlich über die Verhältnisse informiert. Daraus resultiert eine Reisebeschreibung, die ab 1783 in zwölf Bänden erscheint und scharfe Kritik an den Verhältnissen im katholischen Süddeutschland und in Österreich übt. Hier formuliert Nicolai auch seine These von der verborgenen Ursache dieser immer deutlicher werdenden Aufklärungskrise: Es seien die Angehörigen des offiziell 1773 aufgehobenen, heimlich aber eifriger als je zuvor agierenden Jesuitenordens „in Federhüten und Ordensbändern, die den Thron umzingeln“ und auf eine Restitution der alten katholischen Weltordnung hinarbeiteten. Gestützt auf zahlreiche Informanten steigert sich Nicolai immer mehr in seine Theorie von einem großangelegten jesuitischen Netzwerk hinein, das als Instrument einer päpstlich gesteuerten Gegenaufklärung funktioniere und eine unkontrollierbare Macht über politische Entscheidungen gewonnen habe.

Informelle Gespräche

Doch ist Nicolai nicht nur Empfänger und Sammler von Nachrichten, die aus zahlreichen Orten der deutschsprachigen Länder kommen. Auf seinen Reisen, etwa zur Leipziger Messe, gibt der Berliner Verleger seine antijesuitische Verschwörungstheorie in informellen Gesprächen weiter. Und zwar so erfolgreich, dass sich selbst ein Naturforscher wie Georg Forster überzeugt zeigt und dem befreundeten Anatomen Samuel Thomas Sömmering berichtet, es sei „unsäglich, mit wie vieler Mühe und Fleiß und Belesenheit er alles zusammengetrommelt hat, alles verglichen und in allem Spur und Beweis seines Satzes gefunden hat“. Seit 1783 nimmt Nicolai auch an den Zusammenkünften der Berliner Mittwochsgesellschaft teil. Hier findet er einen weiteren informativen Umschlagpunkt, der zugleich liberal-egalitäre und konspirative Züge trägt.

Denn die Mitglieder dieses Zirkels – zu ihnen gehören unter anderen der Staatswissenschaftler Wilhelm von Dohm, der Theaterleiter Johann Jakob Engel, der Staatsbeamte Leopold Friedrich Günther von Goeckingk, der Philosoph Moses Mendelssohn, der Mediziner Christian Gottlieb Selle, der Finanzminister Karl August von Struensee sowie der Kirchenhistoriker Wilhelm Abraham Teller – verpflichten sich nicht nur zur „Toleranz aller Meinungen, selbst solcher, die ungereimt scheinen möchten“, sondern auch dazu, „sich keine Art der Anfeindung wegen geäußerter Meinungen, weder in der Gesellschaft, noch außerhalb, zu Schulden kommen zu lassen“. Um Verschwiegenheit nach außen zu garantieren, werden Manuskripte mit anonymisierenden Nummern versehen und nur zur Zirkulation innerhalb des Mitgliederkreises freigegeben.

Die intensive Pflege seiner Kontakte eröffnet Friedrich Nicolai eine Fülle von Einsichten in die komplizierten Wege und Beweggründe politischer Entscheidungen. Und doch kann er sein Wissen kaum oder nur in eingeschränkter Weise publizistisch verwerten. Denn obwohl er und seine informellen Mitarbeiter sich mit demonstrativem Eifer als Organ und Speerspitze einer kritischen Öffentlichkeit definieren, stoßen sie an Grenzen einer absolutistischen Arkanpolitik, mit der nicht zu scherzen ist. So dürfen etwa die Verstrickungen des Kronprinzen und späteren Königs Friedrich Wilhelm II. in das von seinen Ministern Johann Christoph Wöllner und Rudolf von Bischoffwerder gewebte Netz aus Suggestion und „magischen Operationen“ publizistisch nicht behandelt werden – obwohl doch die manipulativen Geisterzitationen im Charlottenburger Schloss und die Seancen mit einer Breslauer Hellseherin sogar vom französischen Grafen Mirabeau registriert und in seiner Histoire secrète de la cour de Berlin europaweit verbreitet werden und im Religionsedikt sowie im erneuerten Zensuredikt von 1788 politische Folgen haben.

Conspiracy as Governance

Also konzentrieren sich die Berliner Aufklärer um Friedrich Nicolai auf andere Themen: Zum einen auf vermeintliche Bestrebungen zur „Proselytenmacherei“, zum anderen auf die grassierende „Wundersucht“ mit ihren Derivaten Gespensterwahn und Schatzgräberei, Lottospiel und Goldmacherei. Höhepunkt ihres publizistischen Feldzugs gegen vermeintlich kryptokatholische Umtriebe ist die nur scheinbar erfolgreiche Enttarnung des protestantischen Theologen und Darmstädter Oberhofpredigers Johann August Starck, der in einer Fülle von zumeist anonymen Veröffentlichungen als „heimlicher Jesuit der vierten Klasse“ identifiziert wird – was dieser mit einer Klage vor dem Königlichen Kammergericht zu Berlin quittiert und in eine öffentlich viel beachtete publizistische Schlammschlacht münden lässt.

Den Prozessausgang verbuchen die Berliner Aufklärer zwar als Sieg. Die von ihnen praktizierte „Jesuitenriecherei“ aber findet sich noch im Walpurgisnachtstraum in Goethes Faust satirisch verspottet, wo ein „Neugieriger Reisender“ – deutlicher Hinweis auf Friedrich Nicolai und dessen vielbändige Reisebeschreibung – mit charakteristischen Attributen eingeführt wurde: „Sagt, wie heißt der steife Mann?/ Er geht mit stolzen Schritten./ Er schnopert, was er schnopern kann./ ‚Er spürt nach Jesuiten.’“

Was verbindet nun die intensiv korrespondierenden Spätaufklärer um Friedrich Nicolai und die enthüllenden Online-Aktivisten von Wikileaks miteinander? Es ist wohl das universale Misstrauen gegenüber Institutionen und Strukturen, die weniger wegen ihrer systemeigenen Verfahren und spezifischen Routinen wahrgenommen werden, als vielmehr wegen ihrer verborgenen und verschlüsselten Kommunikationen. Darum müssen Strategien entwickeln werden, um informelle Absprachen und Koordinationen aufzudecken.

Die zugrunde liegende Logik der Enthüllung ist aber ebenso klärungsbedürftig wie ihre Motivation und Adressierung. „Wenn wir eins gelernt haben, dann das: Regimes wollen nicht verändert werden“, heißt es apodiktisch in Julian Assanges Manifest Conspiracy as Governance von 2006, das auf nicht einmal sechs DIN A4-Seiten eine umfassende Theorie der Macht entwickelt und konkrete Handlungsanweisungen gibt, wie deren Mechanismen durch Entlarvung von Geheimnissen zu zerstören sind. Doch mehr noch: Um den „Wunsch des Volkes nach Wahrheit, Liebe und Selbstverwirklichung“ durchzusetzen, entstehe gleichsam von selbst eine Bewegung gegen die „autoritären Regimes“, zu denen der WikiLeaks-Gründer auch die westlichen Staaten zählt und die im Interesse des Machterhalts ein geheimes System von abgestimmten Organen und Aktionen ausgebildet hätten.

Dass die Diagnose von einer „autoritären Verschwörung“ eigene Erfahrungsinhalte und Verhaltensweisen auf einen per se als „Feind“ und „Gegner“ bestimmten Staat projiziiert, bleibt zu vermuten. Auch die irritierenden Analogien zwischen dem vermeintlich konspirativen Agieren der Gegenseite und dem eigenen verschwörerischen Handeln finden vor diesem Hintergrund eine Erklärung: Wer analog zu Friedrich Nicolai mit seinem Korrespondentenzirkel oder zu Netz-Aktivisten in ihren Foren erleben kann, wie effektiv der informelle Austausch von Gleichgesinnten funktioniert und wie rasch nicht-öffentliche Beratungen zu Entscheidungen führen, gewinnt leicht die Gewissheit, dass politische Entscheidungsprozesse ebenso ablaufen. – Der Aufklärer Friedrich Nicolai und seine Netzwerke haben mit unseren spätkapitalistischen Konditionen mehr gemeinsam, als uns vielleicht lieb sein kann.

Ralf Klausnitzer lehrt neue deutsche Literatur an der Humboldt-Universität Berlin. Im Freitag schrieb er zuletzt über die Alimentierungsmentalität in den Geisteswissenschaften

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