„Orphea in Love“ von Axel Ranisch: Das utopische Miteinander
Opernfilm In Axel Ranischs „Orphea in Love“ überwindet der Gesang einer jungen Estin den Tod – und die Limitierungen prekärer Beschäftigungsverhältnisse gleich mit
Orpheus heißt hier Nele und wird hinreißend vom estnischen Star Mirjam Mesak gespielt
Foto: Missing Films
Der Mensch der Zukunft wird ein Sänger sein," hat Karlheinz Stockhausen im Jahr 2000 in einem Interview behauptet. Damit sah er nicht etwa die wenig später beginnende Welle von Castingshows à la Deutschland sucht den Superstar voraus. Vielmehr glaubte Stockhausen daran, dass sich aus der zunehmenden Komplexität der Welt eine Kommunikation entwickeln wird, in der ein und dasselbe Wort verschiedenen Sinn ergibt, je nachdem, in welcher Tonhöhe man es ausspricht. Stockhausen sah also eine Zukunft, in der sich auch das Deutsche solcher Ausdrucksformen bedient, wie sie den tonalen Sprachen (wie etwa dem Hochchinesisch) traditionell zueigen sind.
Ob diese Annahme realistisch war, mag die Wissenschaft beurteilen. In der Kunst aber haben wir das Musiktheater, dessen Wert als
er, dessen Wert als Laboratorium für musikalisch ausdifferenzierte Kommunikation bisher im Schatten seiner Rolle als Emotionsverstärker steht. "Große Gefühle" dringen eben leichter durch als Zwischentöne. Orphea in Love, dem neuen Film von Axel Ranisch, gelingt nun das Kunststück, beides miteinander zu vereinen: den pathetischen Überschwang und das utopische Moment einer Gesellschaft, in der man sich musikalisch – und damit besser – verständigt.Eingebetteter MedieninhaltWie es dazu kam, erzählt der Regisseur selbst, in einer Mittagspause in der Komischen Oper Berlin. Hier inszeniert er gerade Händels Oratorium Saul, die biblische Geschichte von sich umdrehenden Machtverhältnissen und der therapeutischen Wirkung von Musik. Es ist Ranischs erste Arbeit an einer Oper in seiner Heimatstadt. "Wir haben am Anfang den Kopf des toten Goliath auf der Bühne. Der ist sehr groß," erzählt er begeistert und zeigt ein Foto des Bühnenbilds. Der abgetrennte Kopf des Riesen, den der junge Israelit David in der Schlacht gegen die Philister mit einer Steinschleuder zu Fall brachte, misst tatsächlich etliche Meter. Seine vor Schreck und Verwunderung weit geöffneten Augen starren auch im Tod noch unverwandt ins Publikum. Doch Ranisch sieht auch im Monströsen das Menschliche: "Goliath hat noch lange Haare, aber er trägt sie über die Glatze gelegt. Er ist nicht mehr der Allerjüngste." Der bald 40-jährige, aber immer noch jugendlich wirkende Regisseur muss kichern und liefert dann doch eine ernste Interpretation seines Konzepts hinterher: „Der Kopf verwittert im Verlauf des Stücks. Später sieht man den kahlen Schädel, am Ende bleiben nur noch die Haare. Auf dem Humus der früheren Kriege wachsen eben die neuen Kriege.“ Doch im gespräch soll es ja um den neuen Film gehen, und überhaupt um seine Filme.Personifizierter frischer WindLange vor Orphea in Love galt der gelernte Medienpädagoge und studierte Filmregisseur Axel Ranisch als personifizierter junger frischer Wind des deutschen Kinos. Mit seinem kleinen eingeschworenen Team drehte er in fünf Jahren vier Filme, fast ohne Geld und mit viel Lust an Geschichten, die sich erst vor der Kamera durch Improvisation so richtig entfalten.In Dicke Mädchen (2012) etwa entdeckten zwei füllige Mittvierziger unverhofft die Liebe, sehr zur Freude des internationalen Festivalpublikums zwischen Warschau und Utah. Ich fühl mich Disco (2013)feierte den Schlager als Beziehungskitt zwischen Vater und Sohn – und lockte 11.000 ZuschauerInnen ins Kino. Eine Zahl, die 2015 aller Wahrscheinlichkeit nach vervielfacht worden wäre, denn Alki Alki hatte das Zeug zum Hit. Ranischs Tragikomödie über den besten Freund des Mannes (die Bier-Flasche) war unerhört witzig und wartete mit Gastauftritten der Band Käptn Peng & Die Tentakel von Delphi auf, die gerade ohne Unterstützung einer großen Plattenfirma zum Liebling eines jungen, studentischen Publikums geworden war. Doch dann wurde Alki Alki, trotz vorheriger Produktionsförderung, die Verleihförderung vom Medienboard Berlin Brandenburg vorenthalten – ohne die ein Film dieser Größenordnung auf dem umkämpften Kinomarkt keine Chance hat. "Das war gemein," ärgert sich Ranisch noch heute, "denn diese Förderung nicht zu bekommen ist gleichbedeutend mit einem: Verreckt doch mit eurem Film, ins Kino helfen wir euch nicht!"Placeholder image-1Zum Glück hatte vier Jahre zuvor Nikolaus Bachler, Intendant der Bayrischen Staatsoper, Ranisch im Radio gehört, als der über Dicke Mädchen sprach. Bachler war prompt ins Kino gegangen, schlug dem Filmnachwuchs eine erste Opernregie vor und rannte damit offene Türen ein. Denn bereits als Kind war der in Berlin-Lichtenberg aufgewachsene Ranisch der klassischen Musik verfallen. Dank der Klassik Card, mit der Unter-30-jährige in Berlin an den Abendkassen nicht verkaufte Top-Plätze günstig ergattern können, verlebte er einen großen Teil seiner Jugend in Konzertsälen und Opernhäusern. Bei seinem ersten Gespräch in München hat Ranisch Bachler von der Klassik Card erzählt: "Da sagte er nur: Freie Plätze? Nein, sowas gibt es bei uns nicht. Bei uns müssen sie sich das schon ein paar Monate vorher überlegen, ob sie in die Oper wollen oder nicht, und dann müssen sie für zwei Personen schon den Preis hinlegen, für den sie ihren letzten Film gedreht haben."Seither inszenierte Ranisch auch in Stuttgart, Hamburg und Lyon – wo Intendant Serge Dorny ihm eine Reihe von Kurzfilmen zu verschiedenen Opernarien vorschlug. Ranisch votierte für eine verbindende Handlung, den klassischsten aller Opern-Stoffe: die Orpheus-Sage. Bald darauf trat Dorny in München Bachlers Nachfolge an – und nicht zuletzt mit tatkräftiger Unterstützung der Bayerischen Staatsoper feiert der immer noch junge Regisseur aus dem unhippen Teil des Berliner Ostens mit Orphea in Love nun nach acht Jahren seine Rückkehr ins Kino. Und wie. Sein Orpheus heißt Nele. Sie wird gespielt und gesungen von Mirjam Mesak. Der wirklich hinreißende estnische Opernstar gibt eine estnische Sängerin, die sich in München mit spießig-alternativen WG-Mitbewohnerinnen und prekären Jobs herumschlägt. Im Call-Center wird sie für ein Duett mit einem liebenswerten Kollegen abgemahnt, als Garderobiere in der Oper hilft sie einer strauchelnden Diva spontan bei einer Arie aus, ihr kurzes Glück findet sie aber in der Liebe zum obdachlosen Tänzer Kolya (Guido Badalamenti). Der stirbt bei einem Unfall und Nele ist bereit, in die Unterwelt hinabzusteigen, um Kolya zu retten. Dabei erklingen Arien von Monteverdi bis Puccini, Elvis schaut vorbei und die Arbeitsbedingungen des Prekariats werden genauso ironisch vorgeführt, wie die kleinen Eigenheiten und großen toxischen Auswüchse des Kulturbetriebs.Nicht auf Provokation ausDabei fällt, sowohl im Gespräch, als auch bei Orphea in Love und später in der einmütig bejubelten Premiere von Saul auf, dass Axel Ranisch niemand ist, der sich eine spezielle Agenda aufs Papier schreibt. Er arbeitet nicht bewusst an einer Versöhnung von Kino- und Opernpublikum oder Hochkultur und Entertainment. Wenn er an das Ende der barocken Händel-Oper mit Herbert Norman Howells Lied King David ins frühe 20. Jahrhundert springt, ist das nicht als Provokation für Traditionalisten gedacht, sondern betont einfach Ranischs melancholische Perspektive auf die eigentlich im Triumphgesang endende Heldensage. Seine Orphea resultiert schlicht aus seinem Wunsch, Mirjam Mesak für die Hauptrolle zu besetzen, Fragen des Klassismus, die man auch aus Saul herauslesen kann, entstammen einfach der Geschichte, also dem Material seiner Arbeit, deren Zugriff man wohl am treffendsten als frei und spielerisch bezeichnen kann. Aussagen zu Geschlechterklischees, Politik und Gesellschaft ergeben sich dabei eher wie von selbst und müssen vom Regiestuhl aus nicht weiter kommentiert werden.Es passt, das Ranisch sich nur zu einer Frage leidenschaftlich politisch äußert und dabei dann gewissermaßen Stockhausens Blick auf den "musikalischen Menschen der Zukunft" ins bodenständig Konkrete wendet: Wenn er sich vom neuen Berliner Kultursenator Joe Chialo eine Sache wünschen dürfte, was wäre das? "Jugendarbeit, Jugendarbeit, Jugendarbeit!" ruft Ranisch aus und hebt zu einer kleinen Rede an: "Ich hatte so viel Glück, dass es in meiner Kindheit das Haus der Kinder in Lichtenberg gab, wo man zu jeder Zeit hingehen konnte. Es gab da Arbeitsgemeinschaften am Nachmittag, am Wochenende, dort hab ich Gedichte schreiben gelernt, es gab den Videoclub, die Theater-AG, Werkstätten, alles mögliche. Das Haus ist Ende der 90er geschlossen worden. Es gibt so viele solcher Fälle, wo ich denke: Leute, seid ihr denn bescheuert? Solche Häuser haben mich und unzählige Jugendliche geprägt. Ich glaube, es gibt ganz viele Teenager, die würden auch gerne ihren Weg finden, aber wie soll das gehen, wenn es solche Orte nicht mehr gibt?"Placeholder infobox-1