Dokumentarfilm Andreas Dresen nennt ihn einen „Typ mit Eiern“: Vielleicht erobert der Liedermacher Hans-Eckhardt Wenzel dank des großartigen dokumentarischen Porträts von Regisseur Lew Hohmann jetzt (endlich) auch den Westen
Wenn sie in seiner Band mal wieder den Bass tauschen, erklärt Wenzel (2.v.r.), warum daran der Westen schuld ist
Foto: Sandra Buschow
In der jüngsten Debatte um ostdeutsche Mentalitäten und darum, wie sie vom Westen aus gesehen werden, glänzte eine etwas aus der Zeit fallende Zuschreibung durch Abwesenheit. Der (ostdeutsche) Regisseur Andreas Dresen liefert sie nun nach. In dem neuen Dokumentarfilm Wenzel – Glaubt nie, was ich singe nennt er als kommentierender Zeitzeuge Hans-Eckardt Wenzel, den ostdeutschen Liedermacher, einen „Typ mit Eiern“.
Dresen mag sich bei dem „derben“ Ausdruck gleichzeitig ein wenig winden, er beschreibt aber doch eine spezifisch erscheinende Art von Virilität, die in den letzten zehn, 15 Jahren auch ins Blickfeld anderer (westdeutscher) Filmemacher geraten ist. „Ich komm aus dem Osten, kann daher praktisch alles“, stellte sich etwa in
tellte sich etwa in Dominik Grafs Serie Im Angesicht des Verbrechens der Polizist Sven Lottner (Ronald Zehrfeld) beim LKA in Westberlin vor. Das ging auch als Mahnung durch, niemanden zu unterschätzen, weil er (oder sie) „aus dem Osten“ stammt. In ähnlich selbstbewusster Tonlage feiert nun Lew Hohmanns Film Wenzel als omnipotenten „Typen“.West-östliche PerspektivenDer Lebensweg, dem Wenzel – Glaubt nie, was ich singe folgt, vom Aufwachsen in Wittenberg über ein Studium in Berlin bis zum Werdegang als Autor, Sänger, Schauspieler und Regisseur, ist mit Archivmaterial in erster Linie bebildert. Anders als zuletzt in Lutz Pehnerts Film über Bettina Wegner bleibt hier die Erzählung ausschließlich retrospektiven Interviews aus den letzten Jahren überlassen. Zu Wort kommen Wenzel selbst, KollegInnen, FreundInnen und Schwester Claudia. Neben Andreas Dresen, Christoph Hein und Konstantin Wecker dürfte hier die Mitte März verstorbene Antje Vollmer zu den bundesweit Bekanntesten zählen. Ein wenig schade ist, dass sie nicht zu den Büchern befragt wurde, in denen sie sich mit Wenzel über ihre west-östlichen Perspektiven austauscht – anhand der Filme von Rainer Werner Fassbinder und Konrad Wolf. Aber auch so gibt es in Glaubt nie, was ich singe viel zu entdecken.Das gilt wohl erst recht für einen Westler, wie den Autor dieser Zeilen. Den hatte Wenzels Auftritt (als singender Clown mit Steffen Mensching) beim Konzert für Berlin am 10. November 1989 eher befremdet. (Haben die beiden Weißgeschminkten da tatsächlich Die Kaputten sind die Nutten von den Ganzen gesungen, zwischen Westernhagens Freiheit und Joe Cocker? Selbst das vorgeblich allwissende Internet schweigt sich darüber leider aus.) Die Irritation schlug erst vor wenigen Jahren in Neugier um, mit der späten Entdeckung des fellinesken Films Letztes aus der Da Da eR, der auf den Bühnenprogrammen von Wenzel und Mensching aus den Vorwendejahren basiert.Diese ersten Eindrücke werden nun durch die Zeugnisse weiterer Wegmarken erweitert, wobei (aus westlicher Sicht) manche Parallelen und Unterschiede besonders hervorstechen. Wenn etwa Wenzels Kollege Rolf Fischer das 1976 gegründete Liedertheater „Karls Enkel“ als Kommunen-Projekt beschreibt (man hat „gearbeitet, gelebt und Kinder auf die Welt geliebt ohne Bedenken“), dann klingt das nach einer Lebensform, die zur gleichen Zeit auch in der westlichen Welt ihre Anhänger hatte. Andererseits sind die unverblümten Hohelieder auf den Alkoholrausch, die im Wenzel-Film (und in Bettina) gesungen werden, und der mehr oder weniger ausgestellte Fruchtbarkeitsstolz (das jüngste Kind des 67-Jährigen wurde 2021 geboren) in Filmen über westdeutsche Pendants (wie Wader Wecker Vater Land) kaum vorstellbar.Eingebetteter MedieninhaltMit einer mindestens melancholischen Note beginnt jene Geschichte, die sich durch Glaubt nie, was ich singe wie ein roter Faden zieht. Da sitzen zwei Mitglieder des Hafenvereins im mecklenburg-vorpommerischen Kamp mit ihrem Freund Wenzel zusammen. Es stellt sich dann heraus, dass jenes Hafengelände, auf dem Wenzel seit über 20 Jahren jeden Sommer ein kleines Open-Air-Festival veranstaltet, nun „an den Meistbietenden“ verkauft werden soll, von „einer Erbengemeinschaft aus dem Westen.“ Die seien eines Tages hergekommen und hätten mitgeteilt, dass sie „die Schilder“ aufstellen werden. Am nächsten Tag waren die Erben weg, aber die Schilder standen da: „Betreten des Grundstücks verboten! Eltern haften für ihre Kinder“. Kurz scheint es, als sei die Zeit in den frühen 1990ern zum Stillstand gekommen.Spezifisch ostdeutsch wird es zweifellos, wenn es um Wenzels Wagemut und Standfestigkeit in Bezug auf die Begehrlichkeiten des DDR-Staates geht. (Ihm wurde angetragen, der Stasi Informationen über die Mitglieder von „Karls Enkel“ zu liefern. Das abzulehnen sei ihm aber vielleicht nur gelungen, weil er den Augenkontakt mit seinem Bittsteller vermieden habe. Ansonsten wäre er, unkt Wenzel, möglicherweise weich geworden.) Später erklärt sich auch der wenig euphorische Auftritt von Wenzel & Mensching bei besagtem „Konzert für Berlin“, wenn Wenzel den Mauerfall eher „als Staatsstreich“ einordnet. Zu den Stärken des Films gehört es indes, auch Widersprüchliches stehen zu lassen. Das fängt schon mit dem Titel Glaubt nie, was ich singe an, einer bemerkenswerten Zeile für jemanden, dessen Ehrlichkeit immer wieder hervorgehoben wird. Wenn Konstantin Wecker sich und Wenzel dann als „Spinner“ lobt, findet er später ein komisches Echo in Wenzels Bühnenansage: „Lasst euch nicht verwirren von den Spinnern auf allen Seiten!“ Wo zwischen Spinnern und Spinnern die Grenzen verlaufen, muss man dann eben selbst herausfinden.Warum aber ist Wenzel im Osten immer noch so erfolgreich, in Westdeutschland aber nur Eingeweihten ein Begriff? Vielleicht lässt sich dieses Rätsel eher vor Ort lösen. Ende April gastierte er mit seiner Band zum ersten Mal im Northeim. Das hatte die niedersächsische Kleinstadt allerdings keinem allgemeinen Interesse an Musik zwischen Folk, Rock und Shanty zu verdanken. Hier engagiert sich ein Verein für den „Innerdeutschen Ost/West-Kulturdialog“, der im letzten Jahr schon die „Gundermann Kulturtage“ auf die Beine stellte. Heuer reicht der Veranstaltungsreigen von einer Bettina-Vorstellung bis zu einem Sorben-Sonnen-Sommerfest. Mittendrin spielt Wenzel in der gut gefüllten, aber bei Weitem nicht ausverkauften Stadthalle immer wieder offensiv auf Ost-West-Klischees an. Als zwischen Frontmann und Gitarrist wieder einmal ein Bass hin- und hergetauscht wird, erklärt er: Nach der Wende habe der Westen ihnen eben die Instrumente weggenommen, jeder habe nur noch eins behalten dürfen.Döpfner kontert er nichtBeim amüsierten Gelächter des Publikums bleibt es nicht lang. Als Wenzel sich dazu bekennt, den offenen Brief von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht gegen die Waffenlieferungen an die Ukraine mit unterzeichnet zu haben, spendet wohl die Hälfte der Anwesenden kräftigen Applaus. Nachdem er erzählt hat, die Reaktionen, die er auf diese Unterschrift bekommen habe, hätten ihn härter getroffen als das Echo auf die Resolution gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976, bleibt der Saal stumm. So ein Vergleich braucht wohl eine Weile, bis er landet. Auch die jüngsten Äußerungen von Mathias Döpfner über „die Ossis“ werden nicht wie erwartet gekontert. Über den fielen nun alle her, „nur weil er ausgesprochen hat, was die Mehrheit im Westen ohnehin denkt“. Hier ist einer bei Weitem nicht so geschmeidig, wie es viele seiner Lieder denken lassen – was ihn nicht daran hindert, gleich darauf mit Ich lebe gern und Diese Nacht ist uns gegeben fröhlich zum Tanz aufzuspielen und auch in Northeim so manches Paar von den Sitzen zu reißen.Am Ende bedankt sich Wenzel beim Publikum dafür, dass man ihn habe reden lassen, auch wenn man nicht immer einer Meinung sei. Vielleicht ist es dieses Provozieren und Aushalten unterschiedlicher Standpunkte – und das versöhnliche „Lass uns trotzdem miteinander trinken und tanzen“, womit man sich gerade im Westen noch ein bisschen schwertut. Apropos, und um sich am Schluss auch an die eigene Nase zu fassen: Im Film stellt Wenzel bei einem Konzert (im Osten) fest, dass man nun schon so lange „mit den westdeutschen Schwestern und Brüdern in einem Land“ zusammenlebe, dass man ihn aber in der Presse immer noch als „ostdeutschen Liedermacher“ betiteln würde. „Sie werfen uns immer vor, dass wir die Einheit nicht begreifen“, schimpft er, „aber sie begreifen sie gar nicht.“ Entsprechend könnte man diesen Text nun jemandem vorlesen und vorher die Worte „Ost“ und „West“ einfach streichen. Vielleicht bringt es ja etwas.Placeholder infobox-1