„Ich habe nicht die Beziehung, die ich will.“ Zu diesem Problem stellen die Filme von Isabelle Stever unterschiedliche Lösungsansätze aus: eine frühe Heirat (Erste Ehe), eine außereheliche Dreierbeziehung (Gisela) und die Affäre einer Entwicklungshelferin mit einem deutlich jüngeren Bürger eines Kriegsgebietes (Das Wetter in geschlossenen Räumen). Deutlich arbeitet Stever dabei sozioökonomische Unterschiede heraus (wie lustvoll sie mitunter das Prekariat porträtiert, erinnert an Pasolini und Klaus Lemke), und immer geht es auch ums Älter- bzw. Erwachsenwerden, ein Thema, dem sich Stevers Figuren gerne mithilfe diverser Drogen entziehen. Ähnliches geschieht in Grand Jeté, in dem allerdings der sexuelle Rausch domin
em allerdings der sexuelle Rausch dominiert – und Selbstdisziplin. Konsumiert werden vor allem Fitnessdrinks und Schmerzmittel.Eingebetteter MedieninhaltDie frühere Ballerina und jetzige Ballett-Lehrerin Nadja (Sarah Grether) hadert mit ihrem Körper und dessen Verschleiß. Sie beginnt eine Beziehung mit einem sehr jungen Mann, Mario (Emil von Schönfels). Auch er schätzt die Körperbeherrschung, arbeitet als Fitnesstrainer und stemmt in exklusiven Shows kiloschwere Gewichte mit seinem Penis. Vor allem aber scheinen beide einen Rückstand an familiärer Nähe aufzuholen, denn Mario könnte nicht nur Nadjas Sohn sein, er ist es.Deutlich wird, dass Nadja Mario zwar geboren, aber nicht gewollt hat. Er ist bei ihrer (auffallend gleichgültigen) Mutter Hanne aufgewachsen. Im Zuge einer Geburtstagsfeier begegnen sich Mutter und Sohn wieder und beginnen zuerst wie Bruder und Schwester, sehr bald wie Mann und Frau zusammenzuleben.Man kann das als Beitrag zur immer mal wieder aufbrechenden Debatte um die Abschaffung des Inzestverbots durchaus ablehnen. Schließlich ändert die theoretische Möglichkeit von konsensualem Sex zwischen Eltern und Ü16-Kindern nichts daran, dass die de jure existierende „Safe Space Familie“ als nicht-sexualisierte Zone eine sinnvolle Konstruktion ist. Hier empfiehlt sich die Vorlage, der Roman Fürsorge, in dem Anke Stelling von Nadja und Mario komplexer erzählt. In dem hochgradig stilisierten Grand Jeté geht es jedoch nicht um die Frage: „Was will uns die Künstlerin sagen?“ Es geht darum, was während des titelgebenden Ballett-Sprungs passiert. Nadja beschreibt ihn einmal ihren (auffallend folgsamen) Schülerinnen: „Eine Sekunde steht ihr in der Luft. Nichts ist hinter euch, nichts ist vor euch. Das ist euer Grand Jeté.“ Mit anderen Worten, hier geht es darum, was ein Moment ohne Bodenhaftung, was Stevers Kunst bei uns auslöst.Dazu kann zum Beispiel diebisches Vergnügen zählen, weil endlich mal jemand eine Gegenerzählung zu jenem Klischee vorlegt, das man aus Filmen wie 3 Days to Kill mit Kevin Costner kennt. Väter, die jahrzehntelang keinen Kontakt zu ihren Töchtern hatten, sich um jede Care-Arbeit gedrückt haben, kommen trotzdem ins Reine, weil die Töchter ihr Leben lang auf nichts anderes gewartet haben, als dass Papa einmal „Ich liebe Dich“ zu ihnen sagt. Der Sohn in den entsprechenden Erzählungen ist in der Regel mit einem „Ich bin stolz auf Dich“ emotional gesättigt. Wenn man das im Kopf hat, bekommt Stevers Szene, in der Nadja ihrem Sohn einen runterholt, während er Jakob van Hoddies Weltende – als Hausaufgabe – aufsagt, eine subversiv komische, satirische Note.Isabelle Stever macht kein Kino der wohlfeilen Psychologie. Auch den erzählerischen Deus ex Machina, dem zufolge in den meisten Filmen familiäre Konflikte mit einem klärenden Gespräch gelöst werden, lässt sie in der Maschine. Mit aufs Nötigste reduzierten Dialogen und bewundernswert komponierten, radikalen, aber immer (viel)stimmigen Bildern (Kamera: Constantin Campean) wird hier nicht die Sexualität befreit, sondern das Kino – als ästhetischer und gedanklicher Freiraum.Placeholder infobox-1