„Wettermacher“: Nicht von dieser Welt

Dokumentarfilm Stanislaw Muchas „Wettermacher“ war als Film über das Leben in totaler Einsamkeit auf einer Station in Sibirien geplant. Heraus kam eine zwiespältige True-Crime-Erzählung
Ausgabe 33/2022

Im Polarmeer, auf der Halbinsel Russki Saworot, beherbergt eine Siedlung namens Chodowaricha die nördlichste Wetterstation Russlands. Wer im Internet danach sucht, findet zwar Details über die Seestreitkräfte der deutschen Wehrmacht, aber keine Landkarte, auf der dieser Ort verzeichnet wäre. Die digitale Abgeschiedenheit basiert auf Gegenseitigkeit: Über Russki Saworot sorgt die Magnetosphäre nicht nur für häufige Polarlichter, sie beeinträchtigt auch das Satelliten-Internet und setzt selbst modernste Messgeräte außer Gefecht, weshalb die Meteorologie hier auf rudimentäre, nicht elektronische Methoden zurückgreifen muss. Chodowaricha erscheint also wie ein Ort, der nicht ganz von dieser Welt ist; entsprechend lädt er zu romantischen Projektionen ein. „Ruhe, bitte! Die Kraft der stillen Einkehr“ nannte die Zeitschrift Mare 2014 ihre Titelstory über einen Meteorologen, der seit 30 Jahren im Leuchtturm von Chodowaricha gelebt und gearbeitet hatte. Über jenen Wettermann wollte Stanislaw Mucha seinen neuen Film drehen, der nun als Wettermacher in die Kinos kommt. Er wurde, wie der Regisseur einräumt, „100 Prozent anders“ als geplant.

Vor gut 20 Jahren wurde Mucha mit Absolut Warhola bekannt. Ihm liegt das Erzählen von Geschichten näher als das detektivische Fakten-Sammeln, was seine dokumentarischen Arbeiten zum hervorragenden Anschauungsmaterial für den Medienkompetenz-Unterricht macht. Dabei geht es weniger um die Binsenweisheit, dass jede Form medialer Spiegelung von Wirklichkeit mehr oder weniger inszeniert ist, als vielmehr um einen verantwortlichen Umgang mit der eigenen Wahrnehmung. Man könnte zum Beispiel aus Muchas grandiosem Roadmovie Tristia schließen, dass Anwohner des Schwarzen Meeres besonders schlagfertig sind. Dazu müsste man aber ignorieren, dass Mucha vor allem die Höhepunkte aus vielen Stunden Rohmaterial montierte. Hier geht es eben nicht nur um dokumentierte „Wahrheit“, sondern genauso um einen poetisch-lakonischen Blick, um Unterhaltung, Spannung und Humor. Das legt Mucha auch stets offen, aber weniger in den Filmen selbst als in Statements und Interviews, die er im Kontext seiner Veröffentlichungen gibt. Im Fall von Wettermacher kommt diese Praxis tragischerweise an ihre Grenzen.

Unheilvolles Raunen

Schon bei der Vorstellung der Protagonisten schleicht sich ein unheilvolles Raunen ein. Irgendetwas sei auf der Wetterstation passiert. Die „Kraft der stillen Einkehr“ des altgedienten Meteorologen scheint schließlich psychischen Problemen gewichen zu sein. Mucha spricht von Blut, dass hier an den Wänden gefunden wurde. Auch Wladimir, der neue Chef vor Ort, verbirgt wohl ein düsteres Geheimnis. Er weiß viel und erkennt mit dem bloßen Auge sogar „Wolken, die es offiziell gar nicht gibt“. Hierhin sei er, so heißt es, aber strafversetzt worden, weil auf seiner früheren Wetterstation eine schwangere Kollegin unter nicht ganz geklärten Umständen starb. Gesprächiger ist das Meteorologen-Pärchen Alexander und Sascha, das sich die Arbeit erst seit wenigen Monaten mit Wladimir teilt. Man sieht die beiden freundlichen Mittdreißiger beim einvernehmlichen Kochen. Planmäßig bringt in Chodowaricha nur einmal im Jahr ein Eisbrecher Benzin und sonstige Vorräte vorbei. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gehört hier nicht zu den obersten Prioritäten.

Eingebetteter Medieninhalt

Zu dieser Einsicht kam auch Wassili, der einzige Nachbar der Wetterstation. Er ist hier, im beeindruckenden, von seinem Vater betriebenen Leuchtturm, aufgewachsen. Jetzt ist er um die 60, hat nach einer Krebserkrankung seine Familie in der Stadt verlassen und ist zum Leuchtturm zurückgekehrt, zu „seiner einzigen wahren Liebe“. In einer Szene liegt Wassili auf dem Bett und surft auf einem kleinen, in einer seltsamen Hängekonstruktion über ihm steckenden Rechner offenbar im Internet. Warum ihm das als Einzigem hier gelingt, wisse man nicht, erzählt Mucha und raunt weiter, Wassili habe jahrzehntelang in einem russischen Atom-U-Boot gedient. Später sieht man auf seinem Rechner die Bilder eines kahlköpfigen Kindes, vielleicht in einem Krankenhaus. Es liegt beim Publikum, daraus Schlüsse zu ziehen. Wer weiß, wer weiß ...

Im Laufe der Zeit entwickelt Wettermacher in seiner Mischung aus unprätentiösen Alltagsbeobachtungen und Muchas ahnungsvoller Erzählung jenen Sog, der seit einiger Zeit auch alle möglichen True-Crime-Formate so erfolgreich werden lässt. Aber dann musste Alexander zum Zahnarzt, was in dieser Gegend eine zweiwöchige Reise bedeutet. Währenddessen, so enthüllt der Film dann nach und nach, wurde Sascha von ihrem Chef Wladimir vergewaltigt. Dass sich von diesem Einbruch der Realität Muchas Erzählstrategie nicht mehr erholt, ist freilich das geringste Problem. Im begleitenden Pressematerial heißt es: „Nach dem Dreh war die Wetterstation lange unbesetzt. Aktuell arbeiten dort wieder zwei junge Männer. Frauen sollen in Zukunft nicht mehr auf der Insel arbeiten – das habe in der Vergangenheit zu zu vielen Konflikten geführt.“ Als abschließendes Statement im Film wären diese Informationen sicher ungenügend. Mucha tritt stattdessen die Flucht in die Lakonie an. Er zeigt den wenig später abgebrannten Leuchtturm ein letztes Mal und lässt seinen Film mit den Worten „Und wenn sie nicht gestorben sind“ wie ein böses Märchen enden. Das wirkt auch eher wie eine hilflose Notlösung.

Wettermacher Stanislaw Mucha Deutschland 2021, 92 Minuten

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