Filmdrama „Emily“: Vom Leben einer Rebellin – Lebe lieber leidenschaftlich
Yorkshire Ladys Der neue Film „Emily“ dreht das Leben von Emily Brontë auf links. Wie gut funktioniert das? Freitag-Autor Ralf Krämer war in ihrem Heimatort Haworth und hat nachgefragt
Findelkind Heathcliff und seine Ziehschwester Cathy verbindet eine erste große Liebe. Leider heiratet Cathy einen Sohn aus reicherem Hause, und Heathcliff widmet den Rest seines Lebens der bittersten Rache. Zugegeben, die meisten literarischen Klassiker können mit einer komplexeren Handlung aufwarten. Trotzdem besitzt Emily Brontës Wuthering Heights eine außergewöhnliche Kraft.
Über 50 Verfilmungen gibt es von Sturmhöhe, wie der einzige Roman der Autorin im Deutschen heißt. Rund eine Million Mal wurde er in den letzten 20 Jahren allein in England verkauft. Als Popsong verhalf Wuthering Heights Kate Bush zum ersten selbst geschriebenen Hit einer Sängerin, der es an die Spitze der britischen Charts schaffte. Das war 1978. Erstmals erschienen ist de
war 1978. Erstmals erschienen ist der Roman 1847. Seit 2016 versammeln sich am Most Wuthering Heights Day Ever Menschen auf der ganzen Welt, um Bushs Choreografie aus den zum Song produzierten Musikvideos öffentlich nachzutanzen. Im Internet zeugen zahllose Videos dieses Events von der Transformationsmacht der Popkultur, die auch die Geschichte einer transgenerational traumatisierenden Beziehung in ein Exempel von Furchtlosigkeit und Gemeinsinn verwandeln kann.Ein Zug an der OpiumpfeifeSo gesehen scheint gar nicht abwegig, was die Schauspielerin Frances O’Connor nun in Emily, ihrem Debüt als Regisseurin und Drehbuchautorin, versucht. Bisher galt Emily Brontë als eigenbrötlerische Soziopathin, die ihren vor Leidenschaft berstenden Roman „nur“ der eigenen Fantasiewelt abgerungen hat. In O’Connors so freier wie mitreißender Film-Biografie ist Brontë eine Frau der Tat und verarbeitet in Wuthering Heights eigene Erfahrungen, von einem Zug an der Opiumpfeife ihres geliebten Bruders bis hin zu einer leidenschaftlichen Affäre. Als „Rebellin, Außenseiterin und Genie“ (so formuliert es die Werbung) wird sie zur feministischen Heldin. Und mit Emma Mackey in der Hauptrolle potenziert sich diese Anschlussfähigkeit an die Gegenwart: Die französisch-britische Schauspielerin ist ein Star der populären Netflix-Serie Sex Education (wo ihre Figur Maeve Wiley unter anderem durch den Konsum von Jane-Austen-, nicht aber von Brontë-Büchern auffällt).Aber: Ist diese Neuerfindung von Emily Brontë zulässig? Wird sie vom Publikum akzeptiert? Diese Fragen lassen sich wohl am besten in der Grafschaft Yorkshire, im 6.000 Einwohner großen Haworth, beantworten. Hier lebte Emily Brontë, Tochter einer früh verstorbenen Mutter und des örtlichen Pfarrers, mit ihren Geschwistern Branwell, Charlotte und Anne bis zu ihrem Tod mit nur 30 Jahren.Im Tal, gegenüber dem Museumsbahnhof, liegt das kleine Buffet Car Cafe. Es kommt ohne jeden Hinweis auf Literatur aus. Die junge, rotblonde Barista Paula serviert ein veganes English Breakfast. Nein, Emily habe sie noch nicht gesehen. Die Charakterisierung der Titelheldin als „selbstbewusste Frau, die für sich selbst einsteht“ entlockt ihr ein Grinsen: „Sie war also eine typische Yorkshire Lady.“ Vier Wuthering-Heights-Verfilmungen hat Paula gesehen. Bestens in Erinnerung sei ihr noch der TV-Zweiteiler „mit Tom Hardy“, wie sie dezent schwärmerisch bemerkt. Als Buch, räumt sie ein, habe ihr aber Anne Brontës Die Herrin von Wildfell Hall noch besser gefallen.Anders als in der Realität spielen in Emily die literarischen Erfolge der anderen Schwestern keine große Rolle. Anne agiert eher als Vermittlerin zwischen Emily und der recht moralinsauren Charlotte. Dass die drei Brontës zunächst nur unter männlichen Pseudonymen veröffentlichten, lässt O’Connor genauso unter den Tisch fallen wie die Tatsache, dass Charlotte als Schriftstellerin allgemein die größere Anerkennung fand. Das könnte man als Akt der posthumen Solidarität verstehen, denn Charlotte hatte 1850, zwei Jahre nach Emilys Tod, ihre Schwester in einem biografischen Essay als naiven Sonderling abgestempelt und sogar deren Briefe in ihrem Sinne überarbeitet. „Ich wollte das ausgleichen, Emily ins Zentrum stellen und angemessen würdigen“, teilte O’Connor zum Filmstart mit.An diesem Donnerstagvormittag machen sich nur wenige ergraute Pärchen an den Aufstieg zum touristischen Zentrum von Haworth. In Sichtweite der Kirche und von Branwells Stammkneipe The Black Bull sind zwei Frauen auf die Schaufenster der Buchhandlung Wave of Nostalgia gemalt. Sie halten ein Banner in die Höhe, auf dem „100 Jahre Wahlrecht für Frauen“ gefeiert werden. Frances O’Connors Emily würde hier mit Sicherheit einkaufen.Eingebetteter MedieninhaltDie Buchhändlerin, Ende 50, stellt sich als Diane vor und hat den neuen Film bereits im Kino gesehen. Die Bilder, die Farben und auch die Rivalitäten zwischen den Geschwistern haben ihr sehr gut gefallen. „Aber es gab keine Tiere“, ergänzt sie enttäuscht. „Emily war ständig mit ihrem Hund unterwegs, sie hatten Gänse, Katzen und sogar einen zahmen Falken.“ Diane schlägt einen Gedichtband auf und liest Emily Brontës Hope vor. „Haut einen das nicht um?“, fragt sie nach der letzten Zeile. Dass sich im Film nun zumindest Emilys Hoffnung auf eine Liebesbeziehung zeitweilig erfüllt (der Hilfspfarrer, mit dem sie eine Affäre hat, heiratete im wahren Leben Schwester Charlotte), stört die Buchhändlerin nicht. Im Gegenteil: „Ich schätze sehr, dass der Film Emily mal aus einer anderen Perspektive zeigt.“ Bei der Frage, ob die Autorin von Wuthering Heights zur feministischen Heldin taugt, kommt Diane ins Grübeln. „Sie war wohl eine ziemlich egoistische Person und hat sich für die Belange anderer nicht interessiert. Aber Anne war auf jeden Fall Feministin.“Verstärkung für „Team Emily“Explizit stimmt ihr da ein Buch aus dem eigenen Sortiment zu, eine Graphic Novel der Illustratorin Anna Doherty. In ihr wird Anne Brontës Die Herrin von Wildfell Hall als ein erstes feministisches Buch beschrieben, weil dessen Heldin sich finanziell unabhängig macht und es wagt, ihren tyrannischen Mann zu verlassen. Zu Recht unterscheidet Doherty die Brontës von ihren Werken und kann daher auch Charlotte und Emily politisierend umarmen: Ihr so liebevoll wie kindgerecht gestaltetes Buch heißt übersetzt „Die Brontës. Die fantastisch feministische (und total wahre) Geschichte von den erstaunlichen Autorinnen“.Placeholder image-1Auch wenn sie ihre Zeit zuweilen außerhalb verbrachten, in Internaten oder befristeten Angestelltenverhältnissen, das Pfarrhaus von Haworth blieb für alle Brontës der Lebensmittelpunkt. Seit 1928 ist hier ein Museum untergebracht. Man hat sich bemüht, die Zimmer in den Originalzustand zu versetzen, allerdings eher nach dem Geschmack von Charlotte, die vielen Zimmern nach dem Tod ihrer Geschwister einen großbürgerlichen Stempel aufdrückte. Der auf die Bildung seiner Töchter sehr bedachte, aber auch streng puritanische Vater Patrick hätte zu Emilys Zeiten so etwas wie Vorhänge nicht geduldet. Vor dem sorgsam chaotisch gestalteten Zimmer des gescheiterten Künstlers Branwell wacht Mia, eine junge Frau Anfang 20. Sie studiert in Leeds und arbeitet seit einem Jahr im Museum. Emily hat sie gesehen und mochte den Film sehr, er habe „die Essenz der Charaktere sehr gut erfasst“. Aber: „Schon im 19. Jahrhundert war Emily nicht die einzige feministische Yorkshire Lady.“ Begeistert erzählt Mia von Anne Lister aus dem 20 Kilometer entfernten Halifax. Die, heißt es bei Wikipedia, habe in umfangreichen Tagebüchern ihr Leben als „erste moderne Lesbe“ festgehalten. Erst vor drei Jahren wurde sie zur Heldin der erfolgreichen Serie Gentleman Jack. „Lister war ihrer Zeit definitiv voraus“, stellt Mia fest. Nun hofft sie, dass Emily auch jüngere Leute ins Museum lockt. In der Startwoche schaffte es der Film auf Platz zehn der britischen Kinocharts. Immerhin, „aber es bleibt letztlich doch ein Nischenfilm“, bilanziert die junge Yorkshire Lady mit leichtem Bedauern – und ein wenig stolz.Im Museumsshop, zwischen Büchern, Kunstkarten und verschiedenen „Bron-Tea“-Sorten, stehen vier Kästchen in einem Regal. Hier kann man sich für je 75 Pence mit kleinen Buttons den „Teams“ von Charlotte, Emily, Branwell und Anne zuordnen. Die Kästchen von Branwell und Anne sind noch sehr gut gefüllt. Deutlich beliebter scheinen die älteren Schwestern zu sein: Von deren Buttons ist nur noch ein Drittel übrig. Draußen hat sich mittlerweile der berühmte neblige Dunst über die Dächer von Haworth hergemacht. Zur Linken laden Weiden und windzerzauste Bäume zum Wandern über die „stürmischen Höhen“. Von rechts, aus dem Tal, nähert sich eine größere Besucherschar. Darunter sind auffallend viele Mädchen im Teenageralter. Oben angekommen, schauen sie abwechselnd auf ihre Smartphones und staunend hoch zum alten Pfarrhaus. Es sieht ganz so aus, als würde das „Team Emily“ heute noch Verstärkung bekommen.Placeholder infobox-1
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