Es ist ein heißer Sommer in New York City. Aus der Vogelperspektive schweift der Blick über Brücken, Straßen, Parks, Dächer von Wohnblocks und Spitzen von Wolkenkratzern. Hier oben ist vom Lärm der Stadt nur noch das leise Summen des Straßenverkehrs zu hören. Selbst in einer Zeit, in der Luftaufnahmen dank Kamera-Drohnen für den Hausgebrauch zum Massenvergnügen geworden sind, schlägt einen dieser Auftakt der ersten Verfilmung der West Side Story von 1961 immer wieder in den Bann.
Jetzt hat Steven Spielberg das berühmte Musical mit der Musik von Leonard Bernstein und den Liedtexten des vor wenigen Tagen verstorbenen Stephen Sondheim neu für die Leinwand adaptiert. Er lässt die Kamera während des Vorspanns über ein Trümmerfeld schweben. Das erinnert nicht von ungefähr an den Abspann von Schindlers Liste, mit seiner langsamen Kamerafahrt über einen mit jüdischen Grabsteinen gepflasterten Weg. In beiden Fällen stand Spielbergs Weggefährte Janusz Kamiński hinter der Kamera. Ohne jeden Relativismus: In beiden Fällen geht es Spielberg (auch) um Trauerarbeit. In seiner West Side Story endet die Kamerafahrt auf einem Baustellenzaun mit dem Schild: „Slum Clearance“. Dann füllt eine gigantische rostfarbene Abrissbirne das Bild.
Die Handlung der West Side Story spielt nun ganz konkret im Sommer 1957, in den New Yorker Vierteln Upper West Side, Lincoln Square und San Juan Hill. Im Auftrag des Stadtplaners Robert Mose wurden damals ganze Straßenzüge dem Erdboden gleichgemacht. Wer dort wohnte, verlor sein Zuhause und wurde gegebenenfalls in andere Stadtteile „verlegt“. Vor allem Nachfahren europäischer Immigranten und Puerto Ricaner, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach New York gekommen waren, mussten so nicht zuletzt dem zukünftigen Lincoln Center weichen, dem heutigen Kulturzentrum für die Oberschicht. Ironie der Geschichte: Hier, am Handlungsort der West Side Story,entsteht unter anderem der Neubau der Metropolitan Opera, zu deren legendärem Ruf auch Leonard Bernstein, Chefdirigent der New Yorker Philharmoniker ab 1958, beitragen wird. Kurz gesagt: Während die „alte“ West Side Story die Rivalitäten der Jugendbanden Jets und Sharks als Produkt von Rassismus thematisierte, geht es bei Spielberg und seinem Drehbuchautor Tony Kushner auch um die Bedingungen und Folgen von Gentrifizierung.
Dieser neue, Komplexität schaffende Ansatz wird gleich in diesen ersten Filmminuten evident. LeserInnen, die mit der alten Verfilmung der West Side Story vertraut und auch daher neugierig auf die neue sind, sollten sich nun überlegen, wie weit sie die folgenden Absätze jetzt schon lesen möchten. Denn ein nicht geringes Vergnügen liegt darin, sich im laufenden neuen Film von all den kleinen und größeren Änderungen überraschen zu lassen, gerade weil sie oft eher subtil daherkommen. Gegebenenfalls springe man also gleich zum letzten Drittel dieses Textes.
Für alle anderen zur Erinnerung: In Anlehnung an Romeo und Julia erzählt die West Side Story eine Liebesgeschichte. Der weiße Tony (gespielt von Ansel Elgort, dem jüngeren Publikum vor allem aus Das Schicksal ist ein mieser Verräter vertraut) und die Puerto Ricanerin Maria (Newcomerin Rachel Zegler) verlieben sich in der Tanzschule. Die Jets, Tonys Gang, sind traditionell verfeindet mit den Sharks um Marias Bruder Bernardo (David Alvarez). Es kommt, schlag nach bei Shakespeare, zu heimlichen romantischen Begegnungen und recht öffentlichen tödlichen Auseinandersetzungen mit bitter-versöhnlichem Ausgang. Dabei werden die neuralgischen Momente von Ohrwürmern zwischen Jazz, Klassik und Pop veredelt. Als Beispiel sei hier I like to be in America genannt. Das Lied, das die Versprechungen des US-amerikanischen Way of Life mit der harten Realität abgleicht, wird vom Hausdach auf die Straße verlegt. Alles, wovon die einzelnen Strophen abstrakt berichten, inszeniert Spielberg nun konkret, bis hin zum reich beklatschten Finale auf einer Flashmob-artig blockierten Kreuzung.
Anderswo ist es besser
Konkretion ist hier Leitgedanke der Erneuerung. Tonys und Marias erster Kuss findet nicht mehr auf der voll besetzten Tanzfläche in einem besonders magischen, sehr filmischen Moment statt. Die beiden verdrücken sich stattdessen hinter einen Zuschauerrang, wo im Wechselspiel aus Schatten und buntem Neonlicht auch noch deutlich wird, dass zwischen damals und heute auch Filme wie Flashdance ihre Spuren im ästhetischen Referenzrahmen hinterlassen haben. Ähnlich könnte man auch eine ganze Abhandlung über die neue Variante von Shakespeares berühmter Balkonszene schreiben und etwa auseinandernehmen, wie Tony und Maria die Feuertreppen auf und ab klettern und dabei einander von oben herab oder von unten nach oben anhimmeln.
Die wesentlichste Änderung, die nun an der West Side Story vorgenommen wurde, betrifft aber die Besetzung. Schon 1961 wurde kritisiert, dass mit Natalie Wood ein weißer junger Star die Maria spielte. Nun hat man dazugelernt und beispielsweise mit Rachel Zegler die Tochter einer kolumbianischen Mutter besetzt. Als besonderer Coup wurde die Rolle von Tonys Arbeitgeber, dem alten Ladenbesitzer Doc, neu erfunden. Nun ist Valentina die gute Seele des Viertels. Auch sie hat puerto-ricanische Wurzeln und ist Docs Witwe. Sie wird von Rita Moreno gespielt, die 1962 für ihre Rolle als Bernardos Freundin Anita mit dem Oscar ausgezeichnet worden war. Nun darf sie nicht nur Somewhere singen, sondern wacht auch als Ersatzmutter über Tonys Zukunft. Dem haben Spielberg und Kushner nämlich eine Haftstrafe wegen schwerer Körperverletzung angedichtet. Seine strengen Bewährungsauflagen bilden nun den konkreten Grund für Tonys Tendenz, sich „something good“, also eine bürgerliche Zukunft aufzubauen, statt mit seinen alten Kumpels weiter „Trouble“ zu machen.
Konsequenterweise schlägt sich dieser Hang zum konkret Politischen, Logischen auch im Verhältnis der neuen West Side Story zum Genre Musical nieder. Die schöne, irre Behauptung einer Welt, die ganz selbstverständlich zur gesungenen Form findet, feierte ja noch vor fünf Jahren in der Dekonstruktion traumfabrizierter Glücksversprechen von La La Land ihre Wiederauferstehung. Hier findet sie ihr Ende. Wenn Tony sein Maria in den Hinterhöfen schmettert, ist das keine theatrale Behauptung, dann singt er da „wirklich“, und entsprechend gibt es auch eine genervte Nachbarin, die lautstark ihr Fenster schließt. Ohne Frage ist Steven Spielbergs West Side Story ein großartiger Film, mit fantastischem Handwerk, großer Kunst und besten Absichten. Wer Musicals aber auch deshalb schätzt, weil sie synoym für eine Loslösung von der Gravität des Realismus stehen, wäre anderswo besser bedient.
Für den Januar ist zum Beispiel Sing 2 angekündigt, die Fortsetzung des unglaublich erfolgreichen Musicals mit animierten singenden Tieren von 2016. Und seit wenigen Wochen ist mit Der Eierwurf von Halle eine Eigenproduktion von Jan Böhmermanns Magazin Royale online abrufbar, die eine dramatische Ankedote aus der deutschen Nachwendegeschichte zu einem halbstündigen, ironisch-liebevollen Kurzmusical verdichtet. Und schon nächste Woche wird Annette in den Kinos starten, ein Meta-Musical, das Leos Carax mit den Art-Pop-Veteranen der Band Sparks produziert hat, und das Satire und dramatisches Hochamt mit einem Grenzen sprengenden Einsatz aller möglichen Gestaltungsmittel aus Film und Theater vereint.
Auch in Annette wird das Motiv einer unmöglichen Liebe aufgenommen. Es geht um einen Comedian (Adam Driver) und eine Opernsängerin (Marion Cotillard), also um E- und U-Kultur und darüber hinaus um toxische Männlichkeit und ihr mögliches Gegenteil. Und selbst das wahre Drama um den nach wie vor ungeklärten frühen Tod von Natalie Wood fließt hier mit ein. Ein so freies, ungestümes, tragisch-witziges Werk wird Steven Spielberg niemals gelingen. Auch nicht als Remake.
West Side Story Steven Spielberg USA 2021, 156 Minuten
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