Im Kino gewesen. Geweint. – Was Franz Kafka im Oktober 1923 in sein Tagebuch eintrug, trifft ziemlich genau, wie Film, wie sonst nur die große Oper, bis heute funktioniert. Wer Filme produziert, spielt immer auch auf der Klaviatur der Gefühle. Übers Herz in den Kopf. Lachen, Weinen, Freude, Angst, Abscheu als wohlfeile Ingredienzien. Voilà: Am 3. Oktober, pünktlich zum Tag der deutschen Einheit, startet der neueste Film zum Gegenstand DDR. Sein Titel: Zwischen uns die Mauer. Ein gutbürgerlich erzogenes Mädchen aus der westdeutschen Provinz verliebt sich in einen Pfarrersohn aus Ost-Berlin. Gleich zu Beginn, beim ersten Besuch des Mädchens, schwenkt die Kamera zum Schaufenster eines Gemüseladens. Darin nicht viel mehr als ein paar verschrumpelte Möhren. Das erinnert mich an den US-amerikanischen Film Mit dem Wind nach Westen (1980), in dem, wenn mein Gedächtnis nicht trügt, eine schimmlige Zitrone die Versorgungslage in der DDR symbolisieren sollte. Schrumpelmöhren und Schimmelzitrone als Metaphern für eine Volkswirtschaft, mit der das Volk nichts zu schaffen haben will. Und das über vier Jahrzehnte lang. 1950 oder 1989: ganz egal, eine Soße.
In Zwischen uns die Mauer besteht das DDR-Volk aus einem Pfarrer, der seinen jugendlichen Schäfchen heimlich Solschenizyn zu Lesen gibt, der evangelischen Jugendgruppe sowie Zöllnern, Grenzpolizisten, Stasibeamten und Spitzeln. Wer hier Uniform trägt, der bellt, keift und schreit. Das ist auf Dauer zwar hochgradig eintönig, ein guter Dramaturg hätte das merken müssen. Aber vermutlich gab es gerade keinen guten Dramaturgen. Unter den ostdeutschen Jugendlichen fällt neben dem Pfarrersohn noch ein Mädchen auf, das gemeinsam mit ihm über Westflucht nachdenkt. Der Film suggeriert, dass es sich bei dieser Freundin um eine Informantin der Stasi handeln könnte. Selbst als sie an der Mauer umkommt, bleiben Zweifel an ihrer Lauterkeit: Ist ihr Mauertod nicht als verkappter Selbstmord interpretierbar, weil sie mit der Last des Spitzelns nicht mehr leben wollte? Der Film belässt es im Ungefähren: Fast jeder in der DDR kann potentieller Denunziant sein. Eine fiese Unterstellung.
Anhand der Stabliste lässt sich schnell recherchieren: Regie – aus dem Westen. Buchautorin – aus dem Westen. Förderer: Bayern, Nordrhein-Westfalen, Nordmedia, also auch tiefster Westen. Koproduzent: ZDF. Bleibt das Fazit, dass sich der Titel Zwischen uns die Mauer nicht nur auf die erzählte Story bezieht, sondern auch auf den Widerspruch zwischen den Erfahrungswerten von DDR-Bürgern und dem, was Interpreten, die das Leben der anderen nur von außen oder gar nicht kennen, im Kino daraus machen. Zwischen uns die Mauer erweist sich als weiteres Rädchen in der altbekannten Delegitimierungsmaschinerie, die sich seit Klaus Kinkels Aufforderung aus den frühen 1990er-Jahren, an dem verschwundenen Land kein gutes Haar zu lassen, als gewinnträchtige Delegitimierungsindustrie etabliert hat.
Abrechnung, Trauer, Stasi
Die Zahl deutscher Filme in Kino und Fernsehen, die sich seit 1990 an der DDR abgearbeitet haben, geht inzwischen in die Hunderte. Das begann noch bei der DEFA, mit Heiner Carows Verfehlung, Frank Beyers Der Verdacht, Herwig Kippings Das Land hinter dem Regenbogen und Jörg Foths bitterem Clownsspiel Letztes aus der DaDaeR. Es waren Abrechnungsfilme, die vorher so nicht erzählt werden konnten, oft schwingt in ihnen Trauer über verlorene Chancen mit. Schon damals wurde die Stasi zum handlungstragenden Element. Seitdem bekommt sie in einschlägigen Filmen mehr Bedeutung, als sie im Alltagsleben der DDR jemals hatte. Es war eben nicht so, dass auf jedem Dachboden eine Abhörzentrale mit eigenem Stasimann installiert wurde. Das ist Kintopp. Durchaus legitim, wenn sich Kintopp als Kintopp versteht. Aber fragwürdig, wenn sich Kintopp zur allein seligmachenden Wahrheit über Land und Leute stilisiert.
Nun wollen wir nicht noch einmal auf dem Leben der Anderen (2006) herumhacken, das ist Schnee von vorgestern, wenn auch von fataler Vorbildwirkung für eine Reihe schwächelnder Nachfolger. Neben reinem Kintopp, der sich die DDR als Folie für spannende (Ballon), sentimentale (Traumfabrik) oder brachial groteske (NVA) Geschichten zurechtrückt, gibt es inzwischen ja auch differenzierte Versuche, der DDR-Wirklichkeit beizukommen. Andreas Dresens Gundermann erzählt anhand der Figur eines schillernden Baggerführers, Liedermachers und Stasispitzels von Hoffnung und Zorn, Unterwerfung und Widerstand: eine souveräne Charakterstudie. Andreas Goldsteins Adam und Evelyn beschreibt subtil die Selbstvertreibung aus einem mürbe gewordenen Paradies. Bernd Böhlichs Und der Zukunft zugewandt kehrt in die Aufbauzeit der DDR zurück und legt Wunden offen, über die offiziell nicht geredet wurde, obwohl sie eiterten bis zum Schluss. Drei Filme von drei im Osten sozialisierten Regisseuren. Zufall? Oder bewusste Gegenentwürfe zu den ungenauen, oft bilderbuchhaft klischeebeladenen Deutungsversuchen der anderen?
Wer heute und in Zukunft ernsthaft bemüht ist, im Kino zu erfahren, wie es wirklich war in der DDR, muss endlich damit beginnen, Filme aus der Zeit von vor und nach 1990 in Beziehung zu setzen. Damals durfte vieles nicht gesagt werden. Heute überwiegt eine Emotionalisierung nach Baukastenprinzip. Doch aus der Reibung zwischen Die besten Jahre (1965, Regie: Günther Rücker) und Lars Kraumes Das schweigende Klassenzimmer, zwischen Alle meine Mädchen (1980, Iris Gusner) und Christian Petzolds Barbara, zwischen Erscheinen Pflicht (1984, Helmut Dziuba) und Dominik Grafs Der rote Kakadu entsteht so etwas wie ein Mosaik von Wirklichkeitspartikeln. Weitere Beispiele ließen sich finden. Vom Dokumentarfilm, nicht zu vergessen, muss ein andermal die Rede sein.
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