Fata Morgana am Abgrund

Alltag Werner und Ursula Domain kämpfen um die Zukunft eines Dorfes, das es nicht mehr gibt: Horno

Walter und Ursula Domain leben an einem Ort, der nicht mehr existiert. Wie eine Fata Morgana in der Wüste erhebt sich ihr Haus drei Stockwerke hoch über das strukturlose Nichts, das es umgibt. An der wuchtigen Eingangstür fehlt die Klinke, der Putz bröckelt von der grauen Fassade und links vom Eingang jagen Schwalben durch die leeren Fensterhöhlen. Auf das türkis gestrichene Hoftor sind zwei Ziffern aufgemalt: 99, so als gäbe es die übrigen 98 Häuser noch. Doch nur ein paar Meter weiter verliert sich die Straße zwischen aufgeschütteten Sandhaufen und Trümmerbergen. Auch auf der anderen Straßenseite und oberhalb des Grundstücks gibt es bis zum Horizont nichts als aufgerissene, bloßgelegte Erde.

Bis vor kurzem war das Haus Nummer 99 Mittelpunkt eines kleinem Ortes mit 350 Einwohnern, die Dorfkneipe von Horno in der Lausitz. Das Dorf dazu gibt es nicht mehr. Im Oktober vergangenen Jahres wurde die Kirche gesprengt, in den Monaten danach Haus für Haus dem Erdboden gleich gemacht. Die Bewohner leben jetzt im 20 Kilometer entfernten Neu-Horno. Nur die Domains sind geblieben. Sie wollen nicht akzeptieren, dass ihre Heimat dem Braunkohletagebau Jänschwalde weichen soll, der sich von Cottbus bis fast an die polnische Grenze gräbt. Bis heute kämpfen sie gegen die Enteignung ihres Grundstücks, dem einzigen, was vom alten Dorf übrig geblieben ist. Trotz der lebensfeindlichen Umgebung versuchen sie ihren Alltag so normal wie möglich zu gestalten. Sie glauben daran, dass Horno eine Zukunft hat. Immer noch.

Werner Domain bittet zum Gespräch in die gute Stube. Er hat einen kräftigen Händedruck, in seine grau-blauen Augen tritt ein spitzbübisches Leuchten, wenn ihm eine Idee kommt, wie er die Pläne des schwedischen Energiekonzerns Vattenfall durchkreuzen kann. Vor sich auf dem Holztisch hat er Kopien von Bittbriefen ausgebreitet sowie Fotos und Postkarten, die er an Unterstützer von Horno verschickt. An den Bundeskanzler hat er schon geschrieben und an den neuen Papst Benedikt XVI. Der Heilige Vater möge doch bitte bis Mitte Mai antworten, dann gehe es vor Gericht wieder um die Enteignung des Hauses und da könne er jeden Beistand gut gebrauchen. Inzwischen hat das Landgericht Cottbus entschieden und in erster Instanz den Einspruch gegen die Enteignung abgelehnt. Wenn es dabei bleibt, müssten die Domains ihr Grundstück bis zum 15. Oktober verlassen.

Domain kramt in den Postkarten und Bildern, zieht einige heraus: So schön war das alte Horno, ein lang gezogenes Straßendorf mit über 100 Gehöften, von satten Wiesen umgeben. Auch sein Haus ist auf einigen Aufnahmen zu sehen. 1916 posieren Frauen in Tracht davor. Damals hieß das Gasthaus noch "Zum alten Fritz". "Es war ein herrliches Dorf", seufzt Domain, der erst Landwirt war und dann fast 20 Jahre lang, bis 1989, Wirt der Dorfkneipe.

Um weiter in seinem Horno leben zu können, hat sich der 70-Jährige eine strenge Wahrnehmungsdiät verordnet. Er sieht nur das, was schön ist. Alles andere filtert er so gut es geht aus oder erträgt es stoisch wie einen Landregen im November. "Man muss die Zerstörung ignorieren können", sagt er und zeigt wie zum Beweis auf die beiden Zimmerfenster. "Wenn ich da rausgucke, sehe ich überall nur das Grüne." Den knorrigen Birnbaum mit der großen Krone hat sein Großvater kurz nach dem Bau des Hauses 1907 in den Hof gepflanzt. Vor dem anderen Fenster können die beiden schmalen Ahornbäume nur spärlich die Sicht auf die aufgeworfenen Sandhügel des Tagebaus verbergen. Ein Bagger schiebt gerade mit großem Getöse Erdmassen hin und her. "Man gewöhnt sich an den Lärm", spricht Domain sein Mantra und "nachts ist es hier herrlich friedlich." Er hat gelernt, mit wenigen Dingen zufrieden zu sein. Allein, dass die Müllabfuhr einmal im Monat kommt und der Postbote immer noch Briefe nach Horno ausliefert, ist ein Zeichen, dass das Dorf noch lebt. Domain versucht, sein Leben so unaufgeregt wie möglich zu leben. Er steht früh auf, geht früh zu Bett, isst um 12 Uhr Mittag und legt sich danach für zwei Stunden hin. Einmal pro Woche fährt er zum Großeinkauf nach Forst. Manchmal ist die Straße blockiert, dann steigt er eben aus und schiebt die Sperre beiseite. Er braucht keine Nachbarn, er braucht kein modernes Haus, und das neue Horno, das als Ortsteil von Forst neu entstanden ist, interessiert ihn auch nicht. Wenn er seine Frau mit dem Auto dort hinfährt, weil sie eine Freundin besuchen will, lässt er sie immer schon am Ortseingang aussteigen.

Wenn Werner Domain erzählt, hört man den slawischen Einschlag in der Sprache. Horno war ein sorbisches Dorf. Wie im Ostpreußischen sagt er: pee à pee, nicht peu à peu, meglich statt möglich und Macht statt Markt. Er spricht über die täglichen Streitereien mit den Arbeitern von Vattenfall; darüber, wie ihm die Pumpe ging, als in seinem Garten, aus Versehen, 30 Obstbäume gefällt wurden und wie es ihm nicht nur in den Ohren weh tat, als die Nachbarhäuser Ziegel für Ziegel über eine lange Rutsche zu Boden krachten. Um das alles auszuhalten, braucht er ein dickes Fell. Vielleicht trägt er auch deshalb, trotz der Frühlingswärme, zwei Strickpullover und eine Weste mit groben Rautenmuster übereinander.

Ursula Domain kommt ins Zimmer, reicht Leberwurstschnitten und Kaffee auf einem Service mit Blümchendekors. Eine schmale Frau mit glattem Gesicht und kurzen weißen Haaren. Es ist sein Elternhaus, es war seine Entscheidung, hier zu bleiben, aber sie trägt sie zu 100 Prozent mit. "In Neu-Horno sterben die alten Leute doch wie die Fliegen." Noch immer verschlägt es ihr die Sprache, wenn sie daran denkt, dass das Gotteshaus einfach so gesprengt werden konnte. Dass sie bis jetzt mit ihrem Mann in Horno ausharrt, ist für sie auch ein persönliches Zeichen des Widerstands gegen diese sinnlose Zerstörung, ein Zeichen, das auch anderen Orten, die von der Braunkohle bedroht werden - Garzweiler, Lacoma oder dem sächsischen Heuersdorf - Mut machen soll.

Werner Domain erzählt nur wenig und seltsam distanziert von der Vergangenheit. Flüchtig erwähnt er die Fastnachten, Familienfeiern und Hochzeiten, zu denen das ganze Dorf unten im großen Saal, der jetzt den Schwalben als Domizil dient, zusammengekommen ist. Keine weiteren Erinnerungen. Die sind zum Teil, sagt er, bei der Zerstörung des Dorfes verloren gegangen. Irgendwo da draußen liegen sie verschüttet zwischen dem aufgerissenen Asphalt und den Trümmern der Häuser. Er sucht nicht weiter nach ihnen, ist sogar froh darüber, dass die Erinnerungen so tief vergraben liegen und greift, wenn es doch mal eine zurück an die Oberfläche, zurück ins Bewusstsein schafft, selbst zur Schaufel und schippt wieder Sand darüber. "Man muss das Vergangene irgendwo verpacken und ablegen", sagt Domain. Was zählt ist die Gegenwart. Mit seiner Frau spricht er kaum über die Dinge, die verloren gegangen sind, auch die ungewisse Zukunft spart er aus. Seit die Nachbarn weg sind und ringsum die Häuser fallen, sitzen sie, wenn es draußen dunkel wird, häufiger als früher vor dem Fernseher.

So stoisch, wie Domain erträgt, was er nicht ändern kann, so sensibel reagiert er auf jede Verletzung seiner Grundstücksgrenze. Neulich haben Arbeiter auf seinem Grund einen Holzpflock in die Erde gehauen, für irgendwelche Vermessungsarbeiten. Die hat er gleich zur Rede gestellt und erst wieder Ruhe gegeben, als ihm versichert wurde, dass der Pfahl nur provisorisch dort stehe und bald wieder verschwinde. Als jemand sich Brennholz von seinem Grundstück geholt hatte, beschwerte er sich so lange, bis der Betroffene kam, um sich persönlich bei ihm zu entschuldigen. Der schlimmste Übergriff passierte Mitte März, als die 30 Obstbäume in seinem Garten gefällt wurden. Ganz alte Arten waren das, Goldparmäne, Kaiser-Wilhelm, Ingrid-Marie und Danziger Kantapfel, von ihm selbst gepflanzt und zum Teil veredelt. Das wird ein Nachspiel haben. Domain hat sich schon bei einem Gartenbauer in Forst nach den Preisen für Obstbäume erkundigt. Er will Schadensersatz. Ein großer Bagger wäre vonnöten, mehr als 45.000 Euro würde es kosten, 30 solcher Bäume wieder auf seinem Grundstück zu verwurzeln. Es geht ihm nicht ums Geld, aber es wäre ein schönes Zeichen, wenn in seinem Garten wieder neue Bäume gepflanzt würden.

Der Garten liegt auf der anderen Straßenseite, schräg gegenüber vom Hof. Man merkt es gleich beim Rundgang, es ist nicht das Haus, es sind diese 5.000 Quadratmeter Land, um die Domain so verbissen kämpft. Vorsichtig lupft er die Plastikplane, die die Tomatenpflanzen vor möglichem Nachtfrost schützt, er zählt auf, wie viele Gurken in diesem und wie viele Kartoffeln in jenem Beet er gesät oder gesetzt hat oder tätschelt liebevoll die Stämme der Obstbäume, von denen ihm immer noch mehr als 30 geblieben sind. Wenn das Wetter schön ist, sitzt er auf dem alten Stuhl in einer windgeschützte Ecke vor dem Schuppen und beobachtet stundenlang die Vögel. "So was", sagt er und macht mit dem Arm eine Kreisbewegung, die den ganzen Garten einschließt, "können die mir in Neu-Horno niemals bieten." Um woanders einen neuen Garten anzulegen, ist er zu alt. Deshalb krallt er sich so fest wie er kann an jeden Krumen Heimaterde, die er noch hat, die ihm auch jetzt als schwarzen Rand unter den kurzen Fingernägeln klebt.

Zwei Hand voll Weizen hat er hier jeden Tag an die Spatzen verfüttert und sie so durch den Winter gebracht, erzählt Domain, und auch für die anderen Vögel sei sein Garten der einzige Zufluchtsort weit und breit. Dann wird er richtig pathetisch: "Ich bin hier der Hirte der Vögel." Das Dorf musste ohne Beistand von höherer Stelle auskommen und wurde zerstört. Jetzt versucht er wenigstens die Bewohner seines Garten vor der Vertreibung zu schützen.

Zwei wilde Ahornbäume wuchern über den Weg, so dass man sich bücken muss, um an ihnen vorbei zu kommen. "Die lass ich stehen, für die Zukunft." Wenn die Bagger gestoppt sind, will er von seinem Grundstück aus die öden Flächen ringsum wieder begrünen. Er weiß, dass das komisch klingt, deshalb schickt er zur Bekräftigung noch ein "Ehrlich!" hinterher.

Hunderte Hummeln schwärmen um die Apfelblüten herum. Eine Amsel singt auf einem Ast und am Ende des langen Spaliers der Bäume erhebt sich beinahe majestätisch der Hof mit seinen Nebengebäuden. Keine quietschenden Baggerketten stören die Stille, kein Trümmerhaufen stört das idyllische Bild. Es ist dieser Blick, der alles verändert. Aus der Fata Morgana, dem Scheuklappen-Luftschloss der Domains, wird plötzlich eine richtige Oase, in der das alte Horno noch lebt, ein schützenswerter Rückzugsort, der die Wüste ringsum erträglich macht. Werner Domain zeigt in die Ferne, wo ein Stück Asphaltstraße dunkel zwischen dem Sand hervorblitzt. "Dort könnten einmal wieder 15 oder 20 Häuser gebaut werden." Fast ist man bereit, ihm zu glauben.


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